Corona-Krise in Spanien - Von einem Notstand zum nächsten

Spanien ist in Europa von der Coronavirus-Pandemie nach Italien am schwersten betroffen. Die Zahl der Todesfälle ist extrem hoch – und nach dem Gesundheitsnotstand droht eine schwere Wirtschaftskrise. Das Land fordert Hilfe von der Europäischen Union.

Ministerpräsident Pedro Sánchez steht in der Kritik, während die EU sich keiner Verantwortung bewusst ist / picture alliance
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Julia Macher lebt als Journalistin in Barcelona und berichtet seit vielen Jahren von der iberischen Halbinsel.

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In Spanien haben die unzähligen Internet-Memes zum Coronavirus und zur Ausgangssperre Konkurrenz bekommen: Seit einigen Tagen zirkulieren im Netz Boykottaufrufe gegen deutsche und holländische Produkte. Wie zuletzt während der Wirtschaftskrise wird über die Sparmeister aus dem Norden geflucht. Im sonst so europafreundlichen Spanien prognostizieren manche bereits das Ende der Europäischen Union.

Die EU hat dem Hilfsgesuch des spanischen Premiers Pedro Sánchez eine Absage erteilt: Sogenannte „Corona-Bonds“, ein gemeinsames Instrument zur Schuldentilgung, wird es nicht geben. Der Vorstoß scheiterte zuvorderst am Widerstand aus Deutschland und den Niederlanden. Hinter den Pyrenäen fühlt man sich allein gelassen – mitten in der schwersten Krise, die das Land zu bewältigen hat. Nach Italien ist Spanien das EU-Land, in dem das Virus am verheerendsten wütet.

Nach dem Gesundheitsnotstand kommt der Wirtschaftsnotstand

80.110 Menschen sind als Coronavirus-Patienten erfasst, 6803 sind bereits gestorben, 838 waren es allein am Sonntag. Die Totenzahlen steigen schneller als sie das jemals in der chinesischen Provinz Hubei, schneller, als sie das in der italienischen Lombardei taten. Zwar verläuft der Anstieg der Infizierten nicht mehr ganz so rasant, der Scheitelpunkt der Pandemie könnte also bald erreicht sein. Aber nach dem Gesundheitsnotstand kommt der Wirtschaftsnotstand.

Ab Montag stehen Fließbänder und Baukräne still, produziert werden darf nur noch für den lebensnotwendigen und den medizinischen Bedarf. Das stete Wirtschaftswachstum, auf das man im Nachkrisen-Spanien so stolz war, das geringe Defizit, mit dem man sich als europäischer Musterschüler behauptete: Es ist Geschichte. Dass Spanien jetzt nach europäischer Solidarität ruft, ist alles andere als wohlfeil.

Der hohe Preis des Sparens

Denn die dramatische Corona-Krise hat auch strukturelle Ursachen – und die erklären sich, zumindest teils, aus der schweren Wirtschaftskrise 2008-2013 und der europäischen Antwort darauf. Damals legte sich Spanien auf Druck der Europäischen Union ein hartes Sparprogramm auf: Der Arbeitsmarkt wurde mit verbilligten Kündigungen und erleichterter Zeitarbeit grundlegend reformiert, auch im Gesundheitswesen sollten massiv Kosten eingespart werden. Allein in der Region Madrid wurden 3.000 Betten eingespart, 4.000 Stellen gekürzt. All das fehlt jetzt.

Gewerkschaften verschicken Videoclips von Madrider Krankenschwestern, die sich aus Müllsäcken zusammengeklebte Schutzanzüge überziehen. In Barcelona bitten Krankenhäuser die Bevölkerung, Taucher- und Schnorchelbrillen für Ärzte und Pfleger zu spenden. Weil während der Krisenjahre weniger Stellen ausgeschrieben wurden und viele junge Akademiker abwanderten, gibt es kaum personellen Puffer im Pflegepersonal.

Unzureichende Hilfspakete

Auch im Gesundheitssektor hat sich das Virus rasend schnell verbreitet. Fast 15 Prozent der spanischen Covid-19-Patienten sind Ärzte, Pfleger, Krankenschwester – gerade jetzt dringend benötigtes Personal. „Wir bezahlen sehr teuer für all das, was wir während der Krise eingespart haben“, sagt Javier Padilla, Hausarzt aus dem Madrider Norden, „Das wird uns noch viele Jahre beschäftigen“.

Um die wirtschaftlichen Folgen der Krise abzufedern, hat die Linkskoalition von Pedro Sánchez ein 200 Milliarden Euro schweres Hilfsprogramm angekündigt. Mit zwanzig Prozent des Brutto-Inlands-Produkt ist es das umfangreichste der Geschichte Spaniens. Dass es reichen wird, glaubt keiner.

Zwei Millionen mehr Arbeitslose

Bereits seit Beginn des Alarmzustands sind Schulen, Restaurants, Theater, Kinos, Geschäfte (mit Ausnahme des täglichen Bedarfs) geschlossen. Ab Montag werden auch die Angestellten von nicht lebensnotwendigen Branchen nach Hause geschickt. Wer nicht im bereits jetzt empfohlenen Homeoffice arbeiten kann, soll Zwangsurlaub nehmen, danach schaut man weiter.

Dazu kommen die zwei Millionen, die von ihren Arbeitgebern bereits vorübergehend in die Arbeitslosigkeit geschickt wurden – und Hunderttausende reguläre Kündigungen. Der wirtschaftliche Shutdown trifft vor allem die Branche hart, die in den letzten Jahren mit stetig wachsenden Zahlen als Stabilitätsgarant galt: den Tourismus. Über zwölf Prozent des spanischen BIP werden über das Geschäft mit Sonne, Strand, Sangría erwirtschaftet, auf den Kanarischen Inseln, den Balearen und entlang der Mittelmeerküste sind es sogar 35 Prozent.

Die Wirtschaft baumelt am seidenen Faden „Tourismus“

Doch jetzt baumelt vor sämtlichen Hotellerie-Betrieben des Landes das Schild „vorübergehend geschlossen“. Über eine halbe Million Menschen werden, so schätzen die Branchenverbände, in der laufenden Saison ihren Job verlieren. Dazu kommen die gewaltigen Einbußen all derer, die indirekt von Urlaubern und Reisenden profitieren: Souvenirhändler, Fährbetriebe, Restaurants.

Lässt der Normalzustand sechs Monate auf sich warten, gehen der Branche knapp 62 Milliarden Euro verloren, das sind 40 Prozent. Vermutlich werden es sehr viel mehr. Denn die Besucher aus Europa, Asien und den USA kommen erst wieder, wenn die Pandemie auch bei ihnen richtig ausgestanden ist.

Für sein Krisenmanagement hat Pedro Sánchez viel Kritik von der Opposition bekommen. Die Maßnahmen seien zu spät gekommen, setzten an den falschen Hebeln an. Doch über eines ist man sich einig: Ohne europäische Hilfe wird Spanien den Weg aus der Doppel-Krise nicht finden. So viel Einverständnis ist selten in Spanien. Auch das zeigt, wie dramatisch die Lage ist.

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