Corona und die EU - Zu lahm für diese Welt

Mit der Corona-Krise und dem Impfstoff-Debakel werden die Schwächen der EU erschreckend deutlich. Dennoch ist es falsch, die Schuld dafür in „Brüssel“ zu suchen. Denn der Fehler liegt im System. Wenn die Union nicht untergehen will, gibt es nur eine Lösung.

Grenzschließung zur Eindämmung der Corona-Pandemie: Ettaler Forst (Oberbayern) / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Martin Winter hat über zwei Jahrzehnte erst für die Frankfurter Rundschau und dann für die Süddeutsche Zeitung aus Bonn, Washington und Brüssel berichtet. Er beschäftigt sich vor allem mit der EU und ihrer Außen- und Sicherheitspolitik. Bevor er Journalist wurde, arbeitete er als Politikberater, unter anderem für das Bundeskanzleramt.

So erreichen Sie Martin Winter:

Anzeige

Gewiss, er hätte das auch höflicher ausdrücken können. Aber als ein amerikanischer Journalist „What the fuck is wrong with Europe“ in die Runde seiner europäischen Kollegen warf, da war er auf dem Höhepunkt der Eurokrise nicht der Einzige, der schwer irritiert auf die Europäische Union schaute. Während Hedgefonds im Hochgeschwindigkeitsmodus gegen den Euro wetteten, verplemperten die Staats- und Regierungschefs der Union kostbare Zeit. Im Schleichgang und unter Ächzen und Stöhnen bastelten sie an der Rettung der gemeinsamen Währung. 

Das wäre ziemlich schiefgegangen, hätte Mario Draghi als Chef der Europäischen Zentralbank 2012 den Spekulanten nicht tollkühn „Whatever it takes“ entgegengeschleudert. Die Bank übernahm, wo die Politik zu versagen drohte. Seit damals klebt der EU das Etikett an, sich mit Krisen schwerzutun.

Vom Vorbild zum Krisenfall

Die Corona-Pandemie hat dieses Bild weiter verdüstert. Es scheint, dass die Europäische Union „Krise“ grundsätzlich nicht kann, jedenfalls keine großen. In einer von Krisen geplagten Welt ist das schlecht fürs Überleben. Diese Pandemie ist nur eine Großkrise in einer Epoche, in der sich weltweit und gleichzeitig viele politische und ökologische Krisen zu einem perfekten Sturm aufzuschaukeln drohen. Wer Krise nicht kann, wird untergehen. Und nicht jedes Mal kommt ein Draghi daher, der die EU aus der Monsterwelle rettet.

Bis vor kurzem waren sich die Europäer sicher, die Blaupause für das 21. Jahrhundert zu besitzen. Das europäische Modell galt in den frühen 2000er Jahren als Exportschlager. Nun muss man schon froh sein, wenn es nicht zum ersten Opfer der neuen Zeit wird. Die Europäische Union, bereits gerupft durch Eurokrise und Brexit, verliert seit der Corona-Krise weiter an Ansehen bei ihren Bürgern und in der Welt. Der Ärger über die Brüsseler Unfähigkeiten zerfrisst die Union im Inneren. Und Europas Konkurrenten im Spiel um die zukünftige Ordnung der Welt nehmen Europa immer weniger ernst.

Nicht mehr ernst genommen

So kanzelte der russische Außenminister Sergej Lawrow die Europäische Union öffentlich als „unzuverlässig“ ab und demütigte seinen Gast, den EU-Außenbeauftragten Josep Borrell, mit der Ausweisung europäischer Diplomaten, während der in Moskau versuchte, die europäisch-russischen Beziehungen zu kitten. Auch in China hat der Respekt vor den Europäern spürbar nachgelassen. Als die EU im März ein paar – ausgesprochen harmlose – Sanktionen wegen der Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang verhängte, reagierte China mit der sehr großen Keule.

Und die USA? Die Freude über die Abwahl Donald Trumps weicht der ernüchternden Erkenntnis, dass sich die America-First-Politik auch unter Biden fortsetzt – wenn auch diplomatisch freundlicher verpackt. So überzeugend scheinen die USA das von den Europäern favorisierte System der gemeinsamen, partnerschaftlichen Politik nicht mehr zu finden.

Es bröckelt innen und außen

Im Jahr zwei der Pandemie steckt die EU in einem Zweifrontenkrieg. Im Inneren hat sie mit einem wachsenden Misstrauen zu kämpfen und im Ausland mit einem Verlust an Gewicht. Mehr denn je ist sie nur eine Könnte-sein-Großmacht: Sie könnte den Lauf der Welt mitbestimmen, wenn sie es denn schaffte, ihre Kräfte zu bündeln und in politische Macht umzusetzen. Das Potenzial dazu hat sie: Die 27 Länder der Union stellen die größte Handelsmacht der Welt, ihren reichsten Markt – und sie sind gut in Handwerk, Industrie, Bildung, Forschung und Technologie. Der gemeinsame europäische Markt ist das erfolgreichste politisch-ökonomische Projekt der jüngeren Geschichte. Dennoch scheint es mit ihm abwärtszugehen. Die Frage, was schiefläuft in der EU, bedarf also dringend einer Antwort.

Europa, heißt es in Brüssel, wächst an seinen Krisen. Die Erfahrung lehrt anderes. Richtig ist, dass der noch junge Prozess der europäischen Einigung nach dem Scheitern der geplanten Europäischen Verteidigungsgemeinschaft Mitte der fünfziger Jahre durch die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vor einem frühen Tod gerettet wurde. Aber die Eurokrise und der Brexit haben die EU spürbar geschwächt. Wie massiv die Unsicherheiten in der europäischen Konstruktion sind, lässt sich daran ablesen, dass die EU innerhalb von nur zwei Jahrzehnten zum zweiten Mal ein großes europäisches Palaver veranstaltet. Nach dem Verfassungskonvent der frühen 2000er Jahre beginnt in diesem Jahr eine „Konferenz über die Zukunft Europas“: Die Bürger sollen mitreden und „IHR Europa“ mitgestalten, wirbt der Präsident des Europäischen Parlaments, David Sassoli – und Kommissions­chefin Ursula von der Leyen versichert: „Wir hören Ihnen zu und handeln danach.“

Die Voraussetzungen waren so gut

Europa von unten, das hört sich gut an. Tatsächlich soll damit aber davon abgelenkt werden, dass die von den Bürgern gewählten Verantwortlichen in den Mitgliedsländern und in Brüssel ihren europäischen Kompass verloren haben.
Die Pandemie ist nicht die erste Krise der EU. Aber sie ist jene, die zwei Schwachstellen Europas am deutlichsten bloßlegt: Zum einen ist die vertragliche und institutionelle Konstruktion der Union auf ruhige Zeiten angelegt. Zum anderen mangelt es der Mehrheit ihrer Mitglieder an europäischer Mentalität. Die Seuche hätte der große Moment der Union werden können. Auf dem Papier zumindest waren und sind die Voraussetzungen nicht schlecht: Die europäischen Staaten sind im grenzübergreifenden Absprechen und Handeln erfahren. Quer durch die Union sind Städte und Regionen verpartnert. Im weltweiten Vergleich stehen die Gesundheitssysteme in Europa gut da. In der Pharmazie ist Europa Weltspitze. Dennoch ist Corona zu einem Desaster geworden, das das wichtigste Fundament der europäischen Einigung nahezu irreparabel beschädigt: Das Vertrauen darauf, dass gemeinsames Handeln dem nationalen Alleingang überlegen ist und dass uns allein die EU eine erfolgreiche Zukunft sichern kann. Wenn selbst in europafreundlichen Kreisen die Zweifel wachsen, ob die gemeinschaftliche Beschaffung der Impfstoffe eine gute Idee war, dann ist die EU in schwere Gewässer geraten.

Dreifaches Versagen

Die Union hat gleich dreifach versagt. Erstens: Als die Seuche in Europa einfiel, reagierten alle Mitgliedsländer nicht europäisch, sondern instinktiv national. Grenzen wurden einseitig geschlossen, Reiseverkehr wurde behindert, die Lieferung von medizinischer Schutzkleidung ins europäische Nachbarland verboten; ohne eine Einigung auf gemeinsame europäische Bewertungskriterien und ohne Rücksprache mit den betroffenen Ländern wurden Regionen zu Hochrisikogebieten erklärt. Das treibende Motto der frühen Pandemietage: Jeder für sich und keiner für alle.

Zweitens: Als man sich dann wieder auf Europa besann, drückten Paris und Berlin ein 750 Milliarden Euro schweres Aufbauprogramm der EU durch. Es sollte ein Signal der Einigkeit und der Stärke sein, nach innen wie nach außen. Dass es das nicht wurde, lag zum einen an der Gruppe der „sparsamen Vier“ unter Führung der Niederlande und Österreichs, denen das Zuhalten der eigenen Tasche wichtiger war als die Solidarität mit den am härtesten betroffenen Ländern. Zum anderen lag es an Polen und Ungarn, die die Verabschiedung der Mittel so lange blockierten, bis dem mit ihnen verknüpften Rechtsstaatsmechanismus die schärfsten Zähne gezogen waren. Warschau und Buda­pest schätzen zwar europäisches Geld, aber nicht die europäischen Werte.So endete als PR-Desaster, was ein starkes Signal an die Europäer und an die Welt hätte werden können. Das Programm kam letztlich zwar durch. Aber anstatt mit Entschlossenheit und Schnelligkeit zu glänzen, hatte sich die EU wieder einmal nach langem und kleinlichem Streit mühsam über die Ziellinie geschleppt.

Drittens: Die Idee, die Impfstoffe gemeinsam zu beschaffen und die Mitgliedstaaten ihrem Anteil an der europäischen Bevölkerung entsprechend zu beliefern, war im Prinzip richtig. Zum einen hätte es die Union politisch zerrissen, wenn die reichen Länder den Impfmarkt leergekauft und die ärmeren in der EU mit leeren Händen dagestanden hätten. Zum anderen macht es auch praktisch Sinn, denn nur wenn die Menschen in allen EU-Ländern in gleichem Maße und zeitgleich geimpft sind, lässt sich die Seuche unter Kontrolle bringen. Der Fehler der Mitgliedsländer, allen voran der Deutschen und der Franzosen aber war es, für die Beschaffung auf die etablierten europäischen Strukturen zurückzugreifen.

27 Nörgler im Nacken

Wer die europäische Mechanik über lange Jahre aus der Nähe bei der Arbeit beobachtet hat, den konnten das Ergebnis und die folgenden Probleme nicht wirklich überraschen. Die Chefeinkäuferin der EU ist nicht schlechter als die der britischen Regierung. Aber im Gegensatz zu der hatte sie 27 Auftraggeber im Nacken, die ganz unterschiedliche Wünsche und Vorstellungen hatten. Die einen bevorzugen Biontech und Curevac, die zweiten Sanofi oder Astra Zeneca, die dritten hätten lieber einen klassischen Impfstoff, die vierten misstrauten den neuen, die fünften mochten es möglichst billig haben. Die einen mochten lieber von dem mehr, die anderen von jenem. Wie immer spielte auch Misstrauen gegen die Großen mit. Den Franzosen wurde unterstellt, nur ihre eigenen Pharmafirmen zu fördern, und den Deutschen, mit Biontech und Curevac Kasse auf Kosten der anderen machen zu wollen.

Damit keiner bevorzugt wird und sich keiner benachteiligt fühlt, mahlt die europäische Kompromiss- und Konsensmaschine langsam. Alles, vom Grundsätzlichen bis zum nebensächlichen Detail, wird durch ein kompliziertes Gewirr aus Fachabteilungen, Arbeitsgruppen, Kommission, Rat und nationalen Regierungen gezwungen. Was immer in Brüssel geschieht, muss mit den Hauptstädten rückgekoppelt werden, wo es dann gelegentlich liegen bleibt. Entweder weil Wochenende ist. Oder weil es sachliche Differenzen gibt.

Naives Bürokratiemonster

Und weil man, wie im Falle der Impfstoffbeschaffung, Einstimmigkeit braucht, geht es nicht nur zwischen Brüssel und den Hauptstädten hin und her, sondern auch zwischen den Hauptstädten selbst. Da bleiben ausgehandelte Lieferverträge schon mal länger liegen, weil eine Regierung sie noch nicht abgenickt hat. In Brüssel stolpert man deswegen regelmäßig über frustrierte Unterhändler, die auf „Weisung“ aus ihrer Hauptstadt warten und warten. Das europäische Procedere frisst Zeit. Nur wer die EU nicht kennt, kann sich wie der Biontech-Chef Ugur Sahin darüber wundern.

Dass die europäische Impfstoffbeschaffung im Vergleich zu Großbritannien und den USA dermaßen entgleist ist, liegt also einerseits an den zähen inneren Prozessen der EU. Andererseits gibt es verstärkende Faktoren wie zum Beispiel ein naives Vertrauen in die Zusagen der Impfstoffproduzenten oder in die Solidarität unter befreundeten Nationen. Dass die USA keine Impfstoffe außer Landes lassen, hatte man in Europa nicht auf der Rechnung.

Europäischer Hochmut

Das alles paart sich mit einer Selbstüberschätzung als Wirtschaftsmacht, die Preise und Bedingungen diktieren kann. Den Europäern ging zu spät auf, dass allein schnelles Zugreifen zählt, wenn das Angebot knapp und die Ware heiß begehrt ist. Preise spielen da eine nachgeordnete Rolle, zumal wenn die volkswirtschaftlichen Folgekosten der Pandemie so ungeheuer höher liegen als die für eine schnelle und umfangreiche Impfung. Die Europäische Union konnte oder wollte das nicht begreifen. Sie ist zu einem Speedboat-Rennen mit einem soliden, aber doch schwerfälligen Kutter angetreten, auf dessen Brücke sich viele Kapitäne permanent über Feinheiten des Kurses streiten.

Über „die da in Brüssel“ herzufallen, ist dennoch unfair. Nüchtern betrachtet, hat die EU als Organisation nämlich mit der Impfstoffbeschaffung das Optimum dessen abgeliefert, was sie auf die Beine stellen kann – und das auch noch in einer für europäische Verhältnisse respektablen Geschwindigkeit. Wenn irgendwo der Satz zutrifft, dass drei Finger auf den zurückverweisen, der auf einen anderen zeigt, dann hier. Die europäischen Verträge, Geschäftsordnungen und sonstigen Regeln, die die EU zu einer verschlungenen und extrem trägen Veranstaltung machen, in der der kleinste gemeinsame Nenner die größte Wirkmacht hat, sind von den Mitgliedsländern genau so gewollt. Weshalb sie die eigentliche Verantwortung tragen.

Es bleibt ein Staatenbund

Die vielen Debatten der neunziger und der 2000er Jahre über die Form und die Aufgaben der EU haben gezeigt, dass die Idee einer „immer engeren Union“ auf zunehmend schwachen Beinen steht. Sobald ein europäischer Fortschritt an ihre nationale Substanz gehen könnte, schrecken fast alle Mitgliedstaaten zurück. Das Kalkül der Europaoptimisten hat sich als falsch erwiesen, dass dem Euro quasi automatisch die fiskalische und politische Union auf dem Fuße folgen werde. Die EU ist den Schritt zum Bundesstaat nicht gegangen, sondern bleibt ausdrücklich ein Staatenbund unabhängiger Nationen, in den man eintreten, den man aber auch wieder verlassen kann. Die Idee von mehr Europa, gar einem vereinigten Europa hat es ernsthaft immer nur in den Gründerstaaten Italien, Frankreich, Niederlande, Belgien, Luxemburg und Deutschland gegeben. Mit jeder Erweiterung wurde sie schwächer, und mit der Massenaufnahme ost- und südosteuropäischer Staaten verlor sie endgültig den Boden unter den Füßen.

Die überwiegende Mehrheit der Mitgliedsländer hat kein Interesse an einer politisch stärkeren Union. Eine wachsende Zahl, mit Polen und Ungarn an der Spitze, würde ihr umgekehrt lieber die Zweige stutzen und heizt mit antieuropäischer Rhetorik nationalistische Bewegungen an. Diesem Mangel an europäischer Vernunft ist es auch zuzurechnen, dass es keine gemeinsame europäische Gesundheitspolitik gibt, was sich in der Pandemie als schwerer Fehler erwiesen hat.

Auch die Mentalität der Europäer hat sich gewandelt. Kaum noch jemand fragt: „Was kann ich für die Union tun?“ Aber fast jeder fordert, dass die EU etwas für ihn tut. Ein in der Pandemie besonders irritierendes Beispiel für einen aggressiven Nationalegoismus lieferte Österreichs Kanzler Sebastian Kurz ab. Er beschuldigte die EU, Österreich bei den Lieferungen zu benachteiligen, obwohl es seine eigene Regierung war, die den möglichen Lieferumfang nicht ausgeschöpft hatte. Sollte er bei der nächsten Lieferung nicht überproportional bedacht werden, drohte er nebulös alle möglichen Konsequenzen an und verhandelte gleichzeitig hinter dem Rücken der EU – wie zuvor Ungarn und die Slowakei – mit Wladimir Putin, um den russischen Impfstoff Sputnik V zu bekommen.

Also Auslaufmodell EU?

Ist die Europäische Union also ein hoffnungsloser Fall? Ist sie zu träge für eine Epoche der großen politischen Tektonik, in der es jederzeit auch in Europa beben kann? Die Antwort darauf ist nicht so eindeutig, wie sie nach den jüngsten Erfahrungen scheinen mag. Sie ist Ja und Nein zugleich.

Die Trägheit der europäischen Prozeduren hat einen guten Grund. Dieses Europa, mit seiner durch Kriege und Feindschaften geprägten Geschichte, mit seinen vielen Sprachen und Kulturen, mit seinen Vorurteilen und Ressentiments zusammenzuführen, ist wie ein Marsch durch ein extrem schwieriges und gefährliches Gelände. Wer hier nicht scheitern will, muss jeden Schritt sorgsam genau prüfen. Das dauert, aber die Väter und Mütter der europäischen Einigung schufen diesen Schleichgang als Grundformat der Union, weil sie überzeugt waren, dass es besser ist, sich viel Zeit zu nehmen, als die einmalige Chance einer Einigung Europas überhastet gegen die Wand zu fahren. Dieses Prinzip hat lange gut funktioniert. In weltpolitisch ruhigen, weil erstarrten Zeiten wie während des Kalten Krieges konnte die EU in Ruhe und Bedacht heranwachsen. Für Zeiten sich jagender Krisen aber taugt diese Struktur nicht. Da muss Europa auch in schwierigem Gelände schon mal einen Zahn zulegen.

Kerneuropa muss voran gehen

Krisen sind in unserer Zeit die harten Ausschläge einer Welt im Zustand permanenter Nervosität. Im Ringen zwischen den USA, China, Russland, Südostasien, Indien und den aufstrebenden Ländern Afrikas und Südamerikas um eine neue Ordnung der Welt hat die Europäische Union in ihrer derzeitigen vertraglichen und institutionellen Verfasstheit keine Chance. Dass es dennoch nicht zu einem „finis europae“ kommen muss, ist Europäern wie Wolfgang Schäuble oder Karl Lamers und ihrer Idee eines „Kerneuropa“ zu verdanken. Ob es nun wie in Frankreich als „Avantgarde“ oder als „Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten“ debattiert wird – in seiner radikalsten Ausformung kann dieses Konzept Europa retten. Es ist einfach und effektiv. Es geht von der Erkenntnis aus, dass es europäischer sein kann, außerhalb der Strukturen der EU zu handeln, als sich von ihnen ein- und damit festbinden zu lassen. Der Klassiker dieses Konzepts ist der Schengen-Vertrag über die offenen Grenzen. Kerneuropa bedeutet, auf eigene Kappe, aber im europäischen Geist und zum langfristigen Nutzen der gesamten EU zu agieren.

Italien, Frankreich, die Niederlande und Deutschland, alle europäische Gründerländer, hatten im Frühjahr 2020 instinktiv kerneuropäisch reagiert und eine Einkaufsgemeinschaft für Impfstoff verabredet, die alle anderen hätte mitversorgen können. Dass sie sich die Aufgabe dann von der EU aus den Händen haben winden lassen, weist auf ein aktuelles Problem hin: Selbst in europäischen Kernländern fehlt es derzeit an Mut. Das gilt besonders für Deutschland, auf das viele in Krisen besonders schauen. Während der französische Präsident Emmanuel Macron 2017 zumindest einen Plan für ein Europa vorgelegt hat, dessen Geschwindigkeit sich nicht an seinen Fußkranken, sondern an den Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft orientiert, kommt aus Berlin – nichts.

Angela Merkel hat in der Eurokrise geschickt agiert, aber eine europäische Perspektive, eine Vision gar hat sie nicht und hatte sie nie. Dafür ist sie aber von dem Wunsch geradezu besessen, alle 27 Länder um fast jeden Preis und in jeder Lage zusammenzuhalten. Sie scheint zu glauben, dass Stärke immer aus Gemeinschaft kommt. In schweren Krisen aber kommt sie aus der Entschlossenheit der Mutigen. Die jedoch sind derzeit europäische Mangelware.

 

Dieser Text stammt aus der Mai-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.
 

 

Jetzt Ausgabe kaufen

 

Anzeige