Corona-Proteste in Kanada - Justin Trudeau und der Notstand

Die kanadische Regierung setzt zur Bekämpfung der Trucker-Proteste gegen die Impfpflicht jetzt zum ersten Mal in der Geschichte das Notstandsgesetz von 1988 ein. Damit wird nicht nur in die Versammlungsfreiheit eingegriffen, es können auch ohne richterlichen Befehl Konten von Demonstranten eingefroren werden. Bürgerrechtler schlagen Alarm.

„Inakzeptable Ansichten“: Trucker-Protest in Ottawa / dpa
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Gregor Baszak ist freier Journalist und lebt in Chicago. Er publizierte unter anderem in The American Conservative, Makroskop und UnHerd.

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Wie der Vater, so der Sohn: 1970 rief der damalige kanadische Premierminister Pierre Trudeau unter Bezug auf den „War Measures Act“ von 1914 das Kriegsrecht aus, um die linksseparatistische Front de libération du Québec (FLQ) zu zerschlagen. Die FLQ hatte zuvor den britischen Diplomaten James Cross sowie den stellvertretenden Premier der Provinz Quebec Pierre Laporte entführt. Laporte wurde später erdrosselt aufgefunden. 

1988 wurde der „War Measures Act“ durch den nicht weniger drastischen „Emergencies Act“ ersetzt, ein Gesetz, das der Bundesregierung Kanadas weitreichende Notstandsbefugnisse zugesteht. Gestern kam das Gesetz zum ersten Mal seit seiner Verabschiedung vor mehr als dreißig Jahren zum Einsatz — unter der Führung von Pierre Trudeaus Sohn Justin

Damit antwortete die kanadische Regierung auf die seit Wochen andauernden Proteste von tausenden LKW-Fahrern gegen die Coronamaßnahmen, unter anderem die für den Grenzverkehr mit den USA geltende Impfpflicht. Im Zuge der Proteste des sogenannten „Freiheitskonvois“ stellten die Trucker das Zentrum der kanadischen Hauptstadt Ottawa zu; auch der Verkehr an ökonomisch zentralen Grenzübertritten zu den USA kam aufgrund von LKW-Blockaden zum Erliegen. 

Proteste in Ottawa schon auf Basis des Notstandsgesetzes aufgelöst

Darum war die Begründung der kanadischen Regierung für die Ausrufung des Notstands wenig subtil: Die Blockade der Ambassador-Brücke, die Kanada mit den USA verbindet, hätte pro Tag 390 Millionen Dollar an Handelsausfällen verursacht, erklärte die kanadische Finanzministerin Chrystia Freeland. Die Proteste durch kanadische LKW-Fahrer gegen die Coronamaßnahmen richteten deswegen an „Kanadas Wirtschaft und unserem Ruf als vertrauenswürdigem Handelspartner erheblichen Schaden an“. Die USA sind Kanadas wichtigster Handelspartner, und die Ambassador-Brücke der bedeutendste Grenzübertritt für die eng verzweigte Autoindustrie beider Länder, die infolge der Blockade in mehreren Fabriken die Produktion einschränken musste. 

Zwar wurde die Ambassador-Brücke am vergangenen Sonntag geräumt, doch sind andere wichtige Grenzübergänge weiterhin von Teilnehmern des „Freiheitskonvois“ blockiert. Auch die Proteste im Zentrum Ottawas setzen sich fort, könnten aber nun auf Basis des Notstandsgesetze aufgelöst werden — ein radikaler Eingriff in die Versammlungsfreiheit. 

Diese Freiheit hatte Trudeau noch vor Ankunft des Konvois in Frage gestellt. Die LKW-Fahrer seien eine „kleine Randgruppe“, die „inakzeptable Ansichten“ vertrete, so Trudeau. Dass sich hier der Premierminister einfach mal eben das Recht zugesprochen hatte, über die Legitimität politischer Ansichten zu entscheiden, erzürnte selbst Trudeaus Parteikollegen, wie den liberalen Parlamentsabgeordneten Joël Lightbound, der dem Premier vorwarf, mit seiner Rhetorik die Gesellschaft zu spalten. Dass Trudeau kurz nach dieser Rede aus der Hauptstadt floh, half nicht sonderlich, diese Spaltungen zu kitten. 

Kanadas Bürgerrechtsorganisation sieht die Demokratie bedroht

Als Reaktion auf die Ausrufung des Notstands entgegnete die kanadische Bürgerrechtsorganisation CCLA, dass die Regierung die Schwelle für einen derartigen Schritt noch nicht erreicht habe. Darum bedrohe die Maßnahme „unsere Demokratie und Bürgerrechte“. Das Notstandsgesetz soll laut Gesetzestext nämlich nur dann angewendet werden, wenn ein „nationaler Notfall“ vorherrscht, der zum einen „die Kapazitäten und Befugnisse der Provinzregierungen überfordert“ und die Souveränität und territoriale Integrität Kanadas „ernsthaft bedroht“. Dass die Provinzregierungen jedoch sehr wohl mit den Protesten zurechtkommen konnten, bewies die Räumung der Ambassador-Brücke, die auf der Basis einer Notstandsverordnung der Provinz Ontario durchgeführt wurde, nämlich mit Hilfe der örtlichen Polizei. 

Doch die Trudeau-Regierung erlaubt sich noch sehr viel perfidere Eingriffe als die Einschränkung des Versammlungsrechts. Laut Finanzministerin Freeland könne die Regierung jetzt nämlich auch Crowdfunding-Plattformen besser regulieren sowie Transaktionen mit Kryptowährungen einschränken — und das ohne Gesetzeserlass oder richterlichen Befehl, wie Freeland frei zugab. Denn, so die Ministerin, ein bisher geltendes Gesetz, dass kriminelle Geldwäsche und die Finanzierung terroristischer Aktivitäten einschränken solle, sei nicht weit genug gefasst, um gegen das Crowdfunding für die Proteste vorgehen zu können.  

Zuvor hatte die amerikanische Spendenplattform GoFundMe unter Berufung auf nicht weiter belegte Gewaltakte durch die Blockadeteilnehmer die Ausschüttung von mehr als zehn Millionen kanadischer Dollar, die auf der Seite eingegangen waren, blockiert. Kurz darauf sprang die konservativ ausgerichtete Crowdfunding-Seite GiveSendGo dem „Freiheitskonvoi“ zur Seite und sammelte beherzt weiter Geld ein, bis ein richterlicher Befehl aus Ontario die Auszahlung der Spendengelder unterband. 

Befugnisse, die nicht einmal zur Terrorismusbekämpfung erlaubt sind

Auch auf Banken übt die kanadische Regierung mit der Notstandsverordnung Druck aus. Die Regierung hat sich nämlich jetzt das Recht zugesprochen, ohne zu zögern die Konten aller mit den Blockaden in Verbindung gebrachten Individuen einfrieren zu können. „Es geht hier darum, dem Geld zu folgen“, verkündete Freeland und drohte den LKW-Fahrern, Firmenkonten einzufrieren, sollten ihre Sattelschlepper weiterhin bei den Protesten vorgefunden werden. Die Warnung endete auf einer paternalistischen Note: „Die kanadische Wirtschaft braucht die LKWs, damit diese legitimer Arbeit nachgehen, und nicht, damit sie uns alle auf eine illegale Weise ärmer macht.“ 

Doch mit diesen Worten räumte Freeland auch ein, dass die LKW-Fahrer in den vergangenen Wochen die Achillessehne dieser autoritär auftretenden Regierung entblößt haben, denn die ökonomischen Verwerfungen, die in Folge der Blockaden entstanden sind, haben der kanadischen Wirtschaft vorerst nur ein blaues Auge verabreicht — in Zukunft könnten ähnliche Proteste noch weitaus extremere Folgen haben. 

Bleibt die offensichtliche Frage: Warum nicht einfach die Impfpflicht aufheben, wie es die LKW-Fahrer fordern? Und wenn das schon zu viel gefordert ist, warum hat Trudeau nicht wenigstens den direkten Dialog mit den Demonstranten gesucht und sich stattdessen per Dekret Befugnisse zugesprochen, die das Parlament der Regierung nicht einmal zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus eingeräumt hat? 

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