Corona-Pandemie - Der kranke Mann am Nord-Atlantik

Die Corona-Pandemie trifft den Westen härter als Ostasien. Während die asiatischen Länder Big Data zum Wohle ihrer Bürger einsetzen, fehlt in Europa und den USA der Glaube an die positiven Potentiale des technologischen Fortschritts. Der Westen ist damit nicht länger Vorbild für die Welt.

Die Pandemie hat den Westen in die Knie gezwungen / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Dr. Ernst Hillebrand ist Politikwissenschaftler und leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Warschau. Zuvor war er Referatsleiter der Internationalen Politikanalyse sowie Leiter der FES-Büros in Paris, London und Rom.

So erreichen Sie Ernst Hillebrand:

Anzeige

Epochenbrüche machen wir gemeinhin an Symbolmomenten fest: Den Aufstieg Deutschlands zur europäischen Zentralmacht an der Kaiserkrönung Wilhelm I. im Spiegelsaal des Versailler Schlosses; das Ende der eurozentrischen Welt und den Aufstieg der USA zur Führungsmacht des 20. Jahrhunderts an den 14 Punkten Woodrow Wilsons; den Aufstieg des „Sozialistischen Lagers“ zum globalen Herausforderer des Westens am „Sputnik-Schock“ 1959. Und den Niedergang desselben am 9. November 1989, als an einem trüben Herbstabend in Berlin die Mauer fiel. Viel spricht dafür, dass die Coronakrise im Nachhinein ebenfalls als Symbolmoment gesehen werden wird: Als Symbol für den Niedergang des Westens.

Die Pandemie, die auf einem Lebensmittelmarkt in der chinesischen Provinz begann, hat nicht China, sondern den Westen in die Knie gezwungen. Die ostasiatischen Länder haben die Herausforderung schneller, mit vergleichsweise weit weniger Opfern und mit deutlich geringeren wirtschaftlichen Kollateralschäden hinter sich gebracht als die Länder Europas und auch die USA.

Hohe Corona-Sterblichkeit in Europa und USA

Dabei sind die Voraussetzungen, rein demographisch betrachtet, dort nicht besser gewesen als im Westen. Japan und Singapur sind mit die ältesten Gesellschaften der Welt, Südkorea und Taiwan nur unwesentlich jünger als Frankreich oder Spanien. Ein Virus, der vor allem Ältere gefährdet, hat dort genauso gute Chancen, seine tödliche Ernte zu halten wie in Westeuropa.

Die Opferzahlen zeigen aber riesige Unterschiede. Pro 1 Million Einwohner starben in Singapur 0,53 Menschen, in Japan 0,43, in China 2,38 und in Südkorea 3,06. In Taiwan und Hongkong, die zu den am dichtest besiedelten Gebieten der Erde zählen, dürften die Zahlen noch unter denen Singapurs liegen. In Italien liegt die Zahl dagegen bei 178, in Spanien bei 145, in Frankreich bei 39, in den Niederlanden bei 44. Selbst in Deutschland mit seiner vergleichsweise geringen Opferzahl liegt die Sterblichkeit immer noch mehr als doppelt so hoch wie in Südkorea.

Moderne Technologie statt Seuchenbekämpfung im Stile des 19. Jahrhunderts

Anders als Europa war Ostasien in der Lage, den Virus einzudämmen: mit sozialer Disziplin und entschlossener technologischer und organisatorischer Handlungsbereitschaft eines in der Regel früh und konsequent agierenden Staatsapparates. Und mit deutlich geringeren Einschränkungen bürgerlicher Grundfreiheiten als in Europa. Stattdessen setzen die Länder Ostasiens auf den Einsatz moderner Technologie, die Nutzung von Handydaten und Gesundheitsapps und die präventive Eindämmung der Ausbreitung durch Grenzkontrollen, strenge und mit technischen Hilfsmitteln überwachte Quarantäne-Regeln und die Durchsetzung von dem Allgemeinwohl dienendem Verhalten im öffentlichen Raum.

Dem gegenüber steht ein plan- und hilfloser Westen: verspätet agierend, unwillig und unfähig, big data im Interesse der Gesundheit seiner Bevölkerung einzusetzen, unfähig, selbst elementare Schutzgegenstände, Notfallbetten, Tests oder Medikamente in ausreichender Zahl selbst her- oder bereitzustellen. Notgedrungen setzt man stattdessen auf die Seuchenbekämpfungsmethoden des vorindustriellen Zeitalters: Ausgangssperren und Kontaktverbote, möglichst flächendeckend. Nur China sah sich zu ähnlichen Maßnahmen gezwungen – fast überall aber kürzer und für einen geringeren Teil der Bevölkerung als in den meisten Staaten Europas.

So geht Regieren im 21. Jahrhundert!

Entsprechend sind die ökonomischen Folgen der Epidemie in Europa weitaus gravierender. Es ist nur konsequent, dass die Börsen Europas und der USA viel tiefer in den Keller rauschten als die Asiens. Was in der Krise sichtbar wird, ist eine große zivilisatorische Ermüdung des Westens. Kein Optimismus, kein Glaube an die positiven Potentiale von technologischen Fortschritt, keine Kraft, auch nur mal für ein paar Tage die Börsen zu schließen um die Ersparnisse der Bürger vor einer um sich greifenden Marktpanik zu schützen.

Die andere Hälfte des alten Westens, die USA, machen es kaum besser. An ihrer Spitze steht ein Präsident, dem niemand glaubt und dem niemand zutraut, Krisen dieser Größenordnung vernünftig managen zu können. Die technokratische Lösung der Coronakrise in Asien basiert auch darauf, dass die Mehrheit der Bevölkerung ihren Regierungen traut und ihnen zutraut, mit den Daten der Bürger im Sinne eines kollektiven Nutzens rational umzugehen. Das mag für „Westler“ seltsam sein. Aber es zeigt die Konturen des Regierens im 21. Jahrhundert. Wir sind dazu nicht in der Lage.

Was in der Corona-Krise gerade endgültig den Bach runter geht, ist die intellektuelle und ideologische Führungskraft des Westens, der die Welt drei Jahrhunderte geprägt hat. Nicht nur die „hard power“, nicht nur die ökonomische und technologische Führungskraft geht dahin, sondern auch die soft power der Vorbildfunktion. In Zukunft werden sich die Eliten der Welt nach Ostasien wenden, wenn sie nach Mustern der Organisation von Governance und Gesellschaft suchen. Und nicht nach Europa, das mental irgendwo im späten 20. Jahrhundert hängen geblieben ist.

Der Artikel gibt die Ansicht des Autors wieder, nicht die der Institution, für die er arbeitet.

Anzeige