Europa in der Coronakrise - Die EU braucht für bessere Ergebnisse mehr Demokratie

Nicht erst die Coronakrise zeigt die papierne Schwere der EU. Auch in der Außen-, Sicherheits- und Migrationspolitik krebst Brüssel seit Jahrzehnten herum. Das liegt auch am Spitzenpersonal und daran, wie es nach Brüssel berufen wird. Europa sollte mehr Demokratie wagen.

Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, steht derzeit in der Kritik / dpa
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Autoreninfo

Markus Karp ist an der Technischen Hochschule Wildau Professor für Public Management und Staatssekretär a.D.

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Die führenden Köpfe der Politik, der Wissenschaften und der Wirtschaft sind sich in aller Regel uneins. Selten aber wird es so viel Konsens geben wie bei der Hypothese, dass in der globalisierten Welt mit ihren alten und neu aufstrebenden Supermächten die vergleichsweise kleinen europäischen Nationen in einem Bund zusammenkommen müssen. Nur so können ihre Interessen bestehen bleiben. 

In der Tat ist die simple Logik des Gedankens bestechend: Theoretisch bringen die Europäer gemeinsam ein beachtliches ökonomisches und politisches Gewicht auf die Waage. Auch was Ressourceneffizienz angeht, ist es nur einleuchtend, dass übergeordnete Aufgaben und Herausforderungen nicht 27-mal mit bescheidenen Mitteln angegangen werden, sondern nur einmal, dafür aber aus dem Vollen geschöpft wird.

Papierne Schwergewichtigkeit

Allein, die Wirklichkeit will dieser Annahme einfach nicht ohne Weiteres folgen. Bei der Handelspolitik gelingt es der Union durchaus, ihre papierne Schwergewichtigkeit in Realpolitik umzusetzen. In vielen anderen Bereichen, wie der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, der Außenpolitik oder der Migrationspolitik krebst sie hingegen seit Jahren und Jahrzehnten herum.

Dabei geht es nicht darum, die durchaus vorhandenen vielen kleinen Erfolge kleinzureden. Für einen Bund dieser Größenordnung fallen die Ergebnisse aber oftmals zu dürftig aus. Die Union präsentiert sich häufig als das, was neudeutsch ein Underachiever genannt wird: Ein Hochbegabter, der dauerhaft unter seinen Möglichkeiten bleibt.

Graben zwischen Anspruch und Wirklichkeit 

Das jüngste Debakel bei der Impfstoffbeschaffung ist ein Paradebeispiel für den tiefen Graben zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Trotz eines gewaltigen Apparats hervorragend ausgebildeter Beamter und der Nachfragemacht eines der größten Pharmamärkte überhaupt vermochte es die Union nicht, so erfolgreich zu agieren wie ungleich kleinere Länder. Dabei war eines der Hauptargumente für die Übertragung der Impfstoffbeschaffung an die EU, dass bei einer dezentralen nationalen Beschaffung „ärmere und kleinere Mitgliedsstaaten“ nicht hätten mithalten können, wie es der vormalige Kommissionspräsident Juncker ausgedrückt hat.

Damit wiederholt sich die Erfahrung aus der Migrationskrise von 2015: Obwohl die EU sich gern auf die mächtige politische Brust trommelt, hat sie, was die Steuerung und Regulierung von Wanderungsbewegungen angeht, wenig erreicht. Weder konnte sie ihren Einfluss in den Herkunftsländern geltend machen, noch irgendwelche handfesten Ergebnisse bei längst beschlossenen politischen Zielen wie der Umverteilung von Migranten oder Anlandeplattformen für Asylsuchende vorweisen. Stattdessen haben die Nationalstaaten mehr oder minder erfolgreiche eigene Wege eingeschlagen.

Klassische Ausreden bleiben 

Die Ergebnisse beispielsweise bei der angekündigten Harmonisierung von Unternehmenssteuern, der lautstark geforderten Etablierung einer europäischen Digitalwirtschaft auf Augenhöhe mit der amerikanischen und chinesischen oder der Implementierung einer eigenständigen europäischen Verteidigungsfähigkeit sind ebenfalls ernüchternd.

Als Erklärung gibt es geradezu klassische Ausreden: Das mangelnde europäische Bewusstsein der Europäer, einzelne Politiker in der Rolle des schurkischen Bremsers, angeblich viel zu unzulängliche Kompetenzübertragungen der Nationalstaaten an die Union. Nichts davon ist falsch, aber doch ist es nicht das ganze Bild: Es ist ein wichtiger Teil des Problems, dass der Zugriff auf die Führungsposten, deren Besetzung in aller Regel im kleinen Kreis ausgekungelt wird, durch Proporz reguliert ist. Dabei hat die europäische Bevölkerung nur ein sehr indirektes Mitspracherecht. 

Erfolgsgeheimnis und Neuerfindung 

Dabei ist die Wahl und der regelmäßige Austausch der führenden Köpfe durch die Regierten das Erfolgsgeheimnis der Demokratie und ihrer steten Neuerfindung. Wohingegen auch das Regime des charismatischsten Autokraten irgendwann erstarrt, ohne sich friedlich wandeln zu können. Auch für die Identifikation mit dem Regierungssystem ist es immens wichtig, selbst Einfluss auf dessen Steuerung nehmen zu können. Zumindest bleibt noch das Hoffen auf die Opposition, die in der Demokratie bestenfalls auch immer eine Regierung im Wartestand ist. Wird Macht nur auf Zeit und durch Mehrheitsentscheid vergeben, hilft dies, Ohnmachtsgefühle zu vermeiden, die letztlich zur Entfremdung vom politischen System führen.

Auch das Prinzip der politischen Bestenauslese durch das Demokratieprinzip darf nicht unterschätzt werden, obwohl es von Zeit zu Zeit versagt. Aber welche Art der Machtübergabe hätte sich langfristig als effizienter erwiesen? Keine Expertenregierung kann eine Demokratie lebendig halten und obwohl die Philosophenherrschaft der vermeintlich hässlichen Volksherrschaft seit Jahrtausenden als schöne Alternative entgegengestellt worden ist, wartet sie noch immer auf Verwirklichung. Was daran liegen dürfte, dass sie ein abstraktes Ideal ist, welches beim Versuch der Verwirklichung untergeht oder zur Tyrannei mutiert. 

Demokratische Teilhabe stärken

Sollen also die Herzen der Europäer gewonnen werden, müssen sie nicht nur aus Brüssel mit Vorschriften und Richtlinien versorgt, sondern zu demokratischen Teilhabern dieses einzigartigen Friedensprojekts gemacht werden. Und zwar nicht nur in der Form, dass gewählte Personen andere Personen wählen oder Listen zur Wahl stehen, die andere zusammengewählt haben. Oder, dass europäische Bürgerinitiativen eher einer Eingabe gleichen, die vielleicht erhört wird, aber genauso leicht übergangen werden kann.        

Obwohl in Sonntagsreden stets der europäische Geist beschworen wird, sieht die politische Ämterbesetzungspraxis anders aus. Gern werden Politiker weggelobt, für die es auf Nationalstaatsebene keine Verwendung mehr gibt, die aber noch zu viel Rückhalt haben, als dass sie kurzerhand kaltgestellt werden könnten. Die Kommission schließlich wird nach Proporz zusammengesetzt. Auch ein ambitionierter Präsident hat wenig Möglichkeiten, die Besten (oder am besten zu seiner Agenda passenden) für die jeweilige Aufgabe zu besetzen. Und selbst wenn es schlussendlich viele in langen Karrieren profilierte Köpfe an und in die Spitze der EU schaffen, bleibt doch der Makel mangelnder demokratischer Legitimität, wie die letzte Europawahl zeigt.

Der kleinste gemeinsame Nenner 

Monatelang tourten hier zwei Spitzenkandidaten durch den Wahlkampf, die nach der Wahl mit Ursula von der Leyen überraschend durch eine skandalgeschüttelte Ministerin, die auf nationaler Ebene durch allzu viele Pannen nur mehr schwer zu vermitteln war, ersetzt wurden. Sie war auf keinem Wahlplakat zu finden, das kam vielen nationalen Politikern gerade recht, die nicht auf eine durch eine breite Wahlbeteiligung aus sich selbst heraus legitimierte Kraft an der Spitze der Union erpicht waren. Es sollte dann aber auch nicht verwundern, wenn auf eine Armee, die nicht fahren, fliegen, schießen und eingesetzt werden kann, für die also guter Rat teuer ist, auf europäischer Ebene das epische Debakel der Impfstoffbeschaffung folgt.

Selbst wenn es hierfür mannigfaltige Erklärungen und Entschuldigungen gibt: Eine Spitzenpolitikerin, die nicht durch eine breite Anhängerschaft ins Amt getragen worden ist, sondern der kleinste gemeinsame Nenner einer Hand voll anderer mächtiger Politiker ist, wird sehr viel weniger Verständnis für Fehler finden. Zulasten des Ansehens der Institution, welcher sie vorsteht.     

Demokratische Bestenauslese zulassen

Es braucht also mehr demokratische Teilhabe und Verbindlichkeit bei der Besetzung der politischen Spitze Europas, damit die Union nicht als ferne Expertokratie wahrgenommen wird, auf die der gewöhnliche europäische Wähler kaum einen Einfluss hat.     

Die Gelegenheit ist günstig: Die stets vermisste europäische Öffentlichkeit ist inzwischen digitale Realität geworden. Die sich rapide verändernde Weltordnung schafft ein neues Bewusstsein für die Notwendigkeit Europas und die Relevanz seiner Werte, die keine Selbstverständlichkeit sind. 

Eine gute Zeit also, demokratische Bestenauslese zuzulassen, anstatt die Unionsführung zum Austragshäusl der nationalen Politik zu degradieren. Bessere politische Ergebnisse werden auf den Fuß folgen. 

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