Corona-Chaos in Israel - Letzter Ausweg zweiter Lockdown

In Israel grassiert Corona so stark wie nie zuvor. Die Netanjahu-Regierung sieht sich zu einem zweiten Lockdown gezwungen und jeder fünften Firma soll die Pleite drohen. Das Vertrauen der Israelis in das Pandemiemanagament schwindet immer weiter. Was Deutschland daraus lernen kann.

Zweiter Corona-Lockdown: Proteste in Israel gegen Benjamin Netanjahu / dpa
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Mareike Enghusen berichtet als freie Journalistin über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Nahen Osten, vornehmlich aus Israel, Jordanien und den Palästinensergebieten. Sie hat Politik- und Nahostwissenschaften studiert und ihre journalistische Ausbildung an der Henri-Nannen-Schule absolviert.

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„Geht einen Kaffee trinken, auch ein Bier, habt Spaß“, riet Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu den Israelis, als er sie Ende Mai in die Freiheit entließ. Da hatte das Land gerade eine mehrwöchige Ausgangssperre hinter sich, die Zahl der täglichen Corona-Neuinfektionen lag im zweistelligen Bereich, und Analyseagenturen kürten Israel zum weltweiten Vorbild bei der Pandemiebekämpfung.

Vier Monate später hat sich die Lage dramatisch verändert. Über 7.000 Israelis wurden zuletzt täglich positiv auf das Virus getestet – ein neuer Rekord. Der Neun-Millionen-Einwohner-Staat zählt nun zu den Ländern mit den höchsten Infektionsraten im Verhältnis zur Bevölkerung. Letzten Freitag begann ein zweiter Lockdown, dessen Bedingungen gerade noch einmal verschärft wurden: Die meisten Unternehmen müssen schließen und ihre Mitarbeiter ins Home Office schicken – oder in die Arbeitslosigkeit. Höchstens einen Kilometer dürfen die Menschen sich von ihrem Wohnsitz entfernen. „Das ist ein nationaler Notfall“, sagte Netanjahu gestern Nacht. „Wir befinden uns inmitten eines langanhaltenden Kriegs.“

Was ist da schiefgelaufen? Und was können andere Länder daraus lernen?

Ampelsystem nach Infektionsrate

Die meisten israelischen Experten sind sich einig, dass die Regierung die Einschränkungen nach dem ersten Lockdown zu schnell und planlos lockerte. „Der Ministerpräsident dachte, wenn die Raten runtergehen, dann kann man sich fast wie immer verhalten“, sagt Hagai Levine, Epidemiologe an der Hebräischen Universität in Jerusalem. „Aber das ist ein falsches Konzept.“

Levine gehört zum Expertenteam des staatlichen Corona-Beauftragten Ronni Gamzu. In einer Online-Konferenz am Donnerstag machte er seinem sichtbar angestauten Ärger Luft. „Die letzten Wochen haben deutlich gemacht, dass Entscheidungen auf Grundlage politischer und nicht professioneller Erwägungen getroffen werden“, klagte er.

In der Phase vor dem jüngsten Lockdown hatte die Regierung sämtliche Städte in einem sogenannten Ampelsystem nach ihrer Infektionsrate eingeteilt, wobei den roten, sprich: am stärksten betroffenen Städten die strengsten Einschränkungen auferlegt wurden. Bei den meisten davon handelte es sich um mehrheitlich ultraorthodoxe oder arabische Städte – woraufhin die beiden ultraorthodoxen Parteien, die an der Regierung beteiligt sind, über Diskriminierung ihrer Klientel klagten. Manche Analysten vermuten, dass Netanjahu auch deshalb auf einen allgemeinen Lockdown drängte, um seine frommen Verbündeten nicht zu vergrätzen.

Netanjahu indes schob in seinem Pressestatement am Donnerstag die Schuld an der Misere anderen zu: der disziplinlosen Bevölkerung, „populistischen Politikern“ der Opposition sowie „Experten“. Die nonchalante Art, mit der er seine eigene Rolle aussparte, veranlasste die TV-Journalistin Keren Marciano zu einem wütenden Kommentar: „Und wer war hier Regierungschef im letzten halben Jahr? Vielleicht hat auch er einen großen Anteil an diesem Scheitern?“ Der Clip wurde am Freitag vielfach auf Twitter geteilt.

Kaum noch Vertrauen in Pandemiemanagement

Nicht nur die Reporterin lassen Netanjahus rhetorische Ausweichmanöver unbeeindruckt. Lediglich 27 Prozent der Israelis haben noch Vertrauen in sein Pandemiemanagement, zeigt eine aktuelle Studie des Israel Democracy Institute, einem liberalen Think Tank.

“Die wichtigsten Faktoren beim langfristigen Umgang mit einer Pandemie sind das Vertrauen der Öffentlichkeit, Solidarität und langfristige Planung“, sagt der Epidemiologe Levine. Seiner Einschätzung nach fehlt es in Israel an allen dreien. Viele Entscheidungen ließen sich schwer nachzuvollziehen: So mussten zwischenzeitlich „Fitnesscenter“ schließen, „Fitnessstudios“ aber nicht. Zudem verstießen Netanjahu sowie Staatspräsident Reuven Rivlin am Pessachfest im April gegen das Verbot, mit Verwandten zu feiern, die nicht im eigenen Haushalt leben. Rivlin entschuldigte sich. Netanjahu schwieg.

Viele säkulare Israelis ärgern sich außerdem über Berichte, laut denen die Polizei Verstöße gegen die Covid-19-Bestimmungen in ultraorthodoxen Gemeinden oft nicht ahndet. Immer wieder finden Videos von Hochzeiten mit Hunderten maskenlosen Gästen ihren Weg in die sozialen Medien. „Die Ausnahmen, die ständig für Interessengruppen gemacht werden, ruinieren die Solidarität“, meint Levine.

Jede fünfte Firma wird nicht überleben

Der Ökonomie versetzt der neuerliche Lockdown einen weiteren schweren Schlag. Israels Statistikbüro schätzt, dass jede fünfte Firma die Krise nicht überleben wird. Dennoch ist aus der Wirtschaft kaum Protest zu hören. Anders als in den USA, wo manche Kommentatoren lautstark Rücksicht auf den Markt einfordern, spielt das Dilemma zwischen Wirtschaft und Gesundheit in der israelischen Debatte nur eine nachrangige Rolle. Manche begründen das mit dem jüdischen Gesetz des „Pikuach Nefesh“, der Rettung von Leben, die Vorrang vor allem anderen hat.

In jedem Fall dient Israels Misere als abschreckendes und zugleich lehrreiches Beispiel dafür, was geschehen kann, wenn Regierung und Gesellschaft sich von sinkenden Infektionszahlen einlullen lassen. Und sie unterstreicht die Bedeutung stringenter Planung, transparenter und verständlicher Entscheidungen – und nicht zuletzt der Vorbildrolle der Verantwortlichen.

Quarantänebruch im Supermarkt

Vergangene Woche kehrte Netanjahu mit seiner Entourage von einer Washington-Reise zurück. Normale Bürger hätten sich für zwei Wochen in die Heimquarantäne zurückziehen müssen. Für die Staatsvertreter wurde die Selbstisolation auf fünf Tage verkürzt. Doch selbst das war dem Netanjahu-Berater Topaz Luk offenbar zu lang: Am Sonntag wurde er auf der Straße in Jerusalem gefilmt – obwohl er seine Wohnung nicht hätte verlassen dürfen. „Plötzlich wachen alle auf wegen einer Person“, spottete Netanjahu, statt Luk zu rügen. Kurz darauf wurde ein weiterer seiner Berater beim Quarantänebruch im Supermarkt gesichtet.

„Nur wenn wir zusammenstehen, nur wenn wir zusammen kämpfen, nur wenn wir uns gemeinsam an die Regeln halten – nur dann werden wir die Pandemie besiegen“, beschwor Netanjahu am Donnerstagabend die israelischen Bürger. Doch von der berühmten israelischen Solidarität im Krisenfall ist derzeit wenig zu spüren. Und daran haben die Manager dieser Krise keinen kleinen Anteil.

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