Corona und die EU - Jeder für sich und keiner für alle

Die Pandemie hat die Europäische Union vor eine Zerreißprobe gestellt. Der Riss verläuft zwischen Pfennigfuchsern im Norden und Geldverschwendern im Süden, zwischen West und Ost. Ohne Druck der EU wird sich die nationale Reorientierung von Ungarn und Polen nicht stoppen lassen.

Auf dem Weg in die Diktatur? Ungarns Premier Victor Orban entfernt sich immer weiter von der EU / dpa
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Martin Winter hat über zwei Jahrzehnte erst für die Frankfurter Rundschau und dann für die Süddeutsche Zeitung aus Bonn, Washington und Brüssel berichtet. Er beschäftigt sich vor allem mit der EU und ihrer Außen- und Sicherheitspolitik. Bevor er Journalist wurde, arbeitete er als Politikberater, unter anderem für das Bundeskanzleramt.

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Die Krise wird die Welt und unser aller Leben dauerhaft verändern, heißt es. Aber wie konkret? Elf Felder haben wir genauer unter die Lupe genommen oder Experten dazu befragt – von Kultur über Tourismus bis zur Geopolitik. 

Das Virus zieht eine breite Spur wirtschaftlicher, sozialer und politischer Verwüstung durch Europa. Einiges wird sich beheben lassen, einiges aber auch nicht. Europa wird nicht auseinanderbrechen, aber es wird ein anderes, ein schwächeres sein. Die ökonomischen und sozialen Folgen lassen sich bewältigen. Das europäische Sozialmodell ist stabil, und der gemeinsame Markt und der Euro sind starke Klebemittel. Jedes Land weiß, dass es nur verlieren kann, wenn es den ökonomischen Alleingang wagt.

So beißt man lieber die Zähne zusammen und ärgert sich still, wahlweise über die eiskalten Pfennigfuchser aus dem Norden oder über die undisziplinierten Geldverschwender aus dem Süden. Der wirtschaftliche Nutzen des gemeinsamen Marktes also wird die Europäer zusammenhalten. Politisch aber wird sich die Union von dieser Krise wohl kaum mehr erholen.Der Kern des europäischen Gedankens ist das Gemeinsame. Die Europäische Union ist die Lehre aus selbstzerstörerischen Kriegen und Krisen.

In Geldgezänk verstrickt 

Das Fundament der Union sind darum vier Versprechen: Vereint sind wir friedlich! Gemeinsam sind wir stark! Wir rücken politisch zusammen! Wir helfen einander, in guten wie in schlechten Zeiten! In dieser Corona-Zeit hätte Europa sich beweisen müssen, aber es hat versagt. Die Mitglieder der EU haben sich zwei schwere Sündenfälle geleistet. Zum einen haben sie ohne mit der Wimper zu zucken die nationalen Grenzen wieder hochgezogen.

Jeder für sich und keiner für alle. Europäische Werte werden unter dem Vorwand des Notstands fast überall eingeschränkt. Oder gleich ganz abgeschafft wie in Ungarn, das scheinbar den Weg der Diktatur eingeschlagen hat, dicht gefolgt von Polen. Europas Reaktion? Zu mehr als einem müden und folgenlosen Protest reicht es nicht mehr. Zum anderen hat es Europa verpasst, mit Beginn der Krise eine starke Botschaft der Einheit und der Solidarität an die verunsicherten Europäer und an die Welt zu schicken. Stattdessen hat es sich in Geldgezänk verstrickt. Dabei hätte Europa einen neuen „Whatever it takes“-Moment gebraucht. Doch es hatte nicht die Kraft dazu. Jeder hat sich in seiner Wagenburg verkrochen, auch die Deutschen.

Nationale Reorientierung

Die Europäer lernen nun, dass ihre Union unter Druck nichts oder nur wenig taugt. Die Folge wird eine nationale Reorientierung selbst jener sein, die den Nationalismus bekämpfen. So verliert der europäische Gedanke bei den Menschen an Boden. Geopolitisch sind die Folgen dramatisch. In einer Epoche, die darum ringt, wer unser Jahrhundert wie prägt, verabschiedet sich die EU von der Weltbühne. Niemand nimmt eine Union ernst, deren Mitglieder auseinanderstieben, sobald es eng wird.

Solch eine Union ist kein Konkurrent für China, für die USA und nicht einmal für Russland. Vor allem aber ist sie kein Vorbild mehr für Länder, die eine Alternative zu den chinesischen Verlockungen suchen. Gewogen und für zu leicht befunden. Das gilt auch für Deutschland. Berlin mangelt es schon lange an einem mutigen europäischen Konzept. Das hat das politische Versagen aller beschleunigt. 

 

 

 

Dieser Text stammt aus der Mai-Ausgabe von Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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