Europa nach dem Brexit - Gibt es eine Kettenreaktion?

Kommen jetzt auch der Nexit oder Frexit? In Brüssel geht die Angst um, dass nach dem britischen EU-Referendum nun auch andere Mitgliedstaaten aussteigen. Eine Strategie haben die Berufseuropäer nicht

Die Stunde der Populisten: Marine Le Pen vom französischen Front National möchte jetzt den Frexit / Jeremy Lempin, picture alliance
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Eric Bonse berichtet seit 2004 aus Brüssel über Europapolitik. Er betreibt auch den EU-Watchblog „Lost in Europe“.

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Bis zuletzt wollte Brüssel nicht an den Brexit glauben. Selbst das Reden über den Austritt war tabu. „Das ist wie eine Omerta“, beschwerte sich der FDP-Europaabgeordnete Alexander Graf Lambsdorff über das europäische Schweigegebot.

Doch nun, am Tag nach der historischen Niederlage in Großbritannien, lösen sich die Zungen. Plötzlich ist überall von „Weckruf“ und „Neustart“ die Rede, ein bloßes „Weiter so“ könne es nach dem Votum der Briten nicht geben.

Mit Substanz können die EU-Präsidenten, die sich bereits wenige Stunden nach der Bekanntgabe des britischen Endergebnisses in Brüssel treffen, aber noch nicht aufwarten. Die Erklärung von Jean-Claude Juncker, Donald Tusk und Martin Schulz liest sich hölzern, wie aus einer anderen Zeit.

Die EU drückt aufs Tempo

Von einem „freien und demokratischen Prozess“ ist da die Rede. „Wir bedauern diese Entscheidung, aber wir respektieren sie“, heißt es. Doch zu den Ursachen des Anti-EU-Votums wollen sich die Berufseuropäer an diesem Tag des Schocks nicht äußern. Auch die Frage, wie es nun weiter geht, bleibt offen.

„So schnell wie möglich“ solle London die Entscheidung zum Austritt umsetzen, „wie schmerzhaft dieser Prozess auch sein mag“, erklären die drei, zu denen sich auch der amtierende EU-Ratspräsident Marc Rutte gesellt hat.

Bereits beim Gipfel am kommenden Dienstag will die EU Nägel mit Köpfen machen. Denn erst, wenn der Austritt formell beantragt wurde, können die Scheidungsverhandlungen beginnen, die laut EU-Vertrag bis zu zwei Jahre dauern.

Cameron will erst im Oktober zurücktreten

Doch der britische Noch-Premier David Cameron hat es nicht eilig. „Es gibt keine Notwendigkeit für einen genauen Zeitplan“, sagte Cameron nach seiner Niederlage in London.

Die Verhandlungen mit Brüssel solle sein Amtsnachfolger führen, der im Oktober gekürt werden könnte. „Eine Verhandlung mit der Europäischen Union wird unter einem neuen Premierminister beginnen müssen“, betonte Cameron.

Wenn er bei dieser Trotzhaltung bleibt, könnte es Zoff geben beim Gipfel. Denn bis Oktober wollen sich die EU-Chefs auf keinen Fall vertrösten lassen. Ärger droht auch um die Frage, welche Beziehungen Brüssel künftig zu London unterhalten soll.

Wie soll Großbritannien behandelt werden?

Soll man Großbritannien wie Norwegen behandeln – mit Zugang zum Binnenmarkt, aber auch EU-Beiträgen und Freizügigkeit für EU-Arbeitnehmer? Oder soll die Insel eine große Schweiz werden – mit Dutzenden von bilateralen Verträgen, die den gemeinsamen Handel regeln? Wird das Land womöglich auf das Niveau der Ukraine herabgestuft – mit einem einfachen Assoziierungsvertrag?

Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat angeblich bereits einen entsprechenden Geheim-Plan entwickelt. Auch der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok bringt das „Modell Ukraine“ ins Gespräch. Es kann sich aber auch um taktische Manöver handeln, um die Briten zum Einlenken zu bewegen.

Taktieren ist ohnehin das Gebot der Stunde. Es geht um die Frage, ob das britische No-Votum eine Kettenreaktion auslösen und zur Auflösung der EU führen könnte. „Nein“, antwortet Kommissionschef Juncker auf eine Journalistenfrage. Offenbar will er die Diskussion im Keim ersticken.

Kommt der Frexit?

Doch Geert Wilders und Marine Le Pen frohlocken schon. Die Rechtspopulisten aus Den Haag und Paris haben Großbritannien längst zum Vorbild erklärt und wollen nun auch „ihr“ EU-Referendum. Nach Lage der Dinge könnten auch die Niederlande und Frankreich austreten.

Doch so weit wollen es die EU-Chefs nicht kommen lassen. In den Niederlanden setzen sie auf Obstruktion: Das umstrittene Assoziierungsabkommen mit der Ukraine wird umgesetzt, obwohl eine Mehrheit der Niederländer im Frühjahr dagegen gestimmt hatte.

Und in Frankreich sollen die nächsten Wahlen das Problem lösen – im Mai 2017 wird in Paris ein neuer Staatspräsident gewählt. Bis dahin wollen Juncker und seine Kollegen alles vermeiden, was Le Pen Auftrieb geben und sie in den Elysée-Palast befördern könnte.

Keine EU-Reform mehr in Sicht

Das heißt aber auch, dass es bis dahin – und bis zur Bundestagswahl in Deutschland – keine große EU-Reform geben soll. Auf keinen Fall wollen die EU-Politiker eine Vertragsänderung riskieren, wie sie etwa zur dauerhaften Stabilisierung der Euro-Währungsunion nötig wäre.

Auch sonst wollen Brüssel, Paris und Berlin keine neuen Großbaustellen aufmachen, obwohl dies nach dem Brexit-Votum dringend nötig wäre. Einen Neustart wird die EU so nicht hinlegen können. Das Motto heißt eher: Augen zu und durch – eine gefährliche Taktik.

Jetzt rächt sich, dass die EU keinen „Plan B“ formuliert hat, dass sie keine Vision für die Zukunft und keine Strategie für den Umbau hat. Es ist ein taktisches Spielchen, das jetzt beginnt, ein Spiel um Machterhalt und Zeitgewinn. Also genau das, was viele Bürger an der EU ärgert.

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