Schotten und Nordiren zum Brexit - „Cameron ist der Mörder Großbritanniens“

Die polarisierte Abstimmung über den Brexit spiegelt sich auch in den Leitartikeln der irischen und schottischen Tagespresse. In Irland ist von einem „Albtraum“ die Rede. In Schottland wird ein zweites Referendum zur schottischen Unabhängigkeit erwogen

dpa/picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Hier finden Sie Nachrichten und Berichte der Print- und Onlineredaktion zu außergewöhnlichen Ereignissen.

So erreichen Sie Cicero-Redaktion:

Anzeige

Der Unmut über den Brexit, für den mehrheitlich 51,9 Prozent gestimmt haben, zeigt sich auch in den Zeitungskommentaren. Für einen Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union stimmten in Nordirland 55,8 Prozent der Wahlberechtigten und in Schottland 62 Prozent.

Brian Wilson kommentiert in The Scotsman: „Meine Traurigkeit über den Ausgang des Referendums speist sich weniger aus den Differenzen zwischen Schottland und England, sondern vielmehr aus dem Graben zwischen den Jungen, die glaubten, alles verteidigen zu müssen, was gut und verheißungsvoll an Europa ist, und zwischen den meisten meiner Generation, die dafür gestimmt haben, das aufzugeben. Das ist eine wirklich gefährliche Tragödie.“

Mit Pathos kommentierte in ihrem Leitartikel die schottische Tageszeitung The National das gestrige Wahlergebnis: „In Wahrheit hat Schottland viele Fragen in dieser Woche mit ja beantwortet. Wir sagten ja zu einer positiven Einwanderung. Wir sagten ja dazu, nach vorn zu schauen und Beziehungen und Partnerschaften mit unseren Nachbarn und Verbündeten zu festigen. Wir sagten ja dazu, an der Seite derer zu stehen, die bedürftig sind und eine grausame Sparpolitik ablehnen. Wir machten sie weniger für die Probleme verantwortlich, die ihnen ihr Leben zunichte machten. Nun wollen wir eine andere, eine vertraute Frage gestellt bekommen: 'Soll Schottland ein unabhängiges Land werden'? Es ist nur ein kleiner Schritt, auch dazu ja zu sagen. Mit Leidenschaft und Zuversicht glauben wir, dass Schottland dieses Mal genau jene Antwort geben wird.“

Die nordirische Tageszeitung The Belfast Telegraph veröffentlicht einen Artikel aus dem britischen Independent, der Camerons Rücktritt deutlich bewertet: „Ob Cameron das Amt im Oktober mit lediglich einer zerfallenen Union unter seinem Namen verlässt, oder ob seine Dummheit den Dominoeffekt in Gang setzt, der die ganze EU selbst zu Fall bringt, wird sich zeigen. Zur Stunde muss er sich mit einer Nebenrolle in den zukünftigen Geschichtsbüchern abfinden, als Mörder Großbritanniens, welches er so sehr liebte, dass er sogar zu Tränen gerührt war, als er davon sprach. Jeder Mann tötet das, was er liebt, schrieb Oscar Wilde in die Ballade vom Zuchthaus zu Reading. Aber selbst wenn Camerons Gefühle für das Vereinigte Königreich echt waren, liebte er doch eines mehr. Er versetzte unser 'Vereinigtes Königreich' in den Todestrakt, als er dieses Referendum ausrief, aus einem einzigen Grund. Eine Ironie, die heute für sich selbst steht. Er tat es, um die üble Ukip-Furunkel aufzuschneiden, die seine allgemeinen Wahlchancen gefährdete. Er rief das Referendum aus, um seinen Job zu retten. Kein Mann liebt etwas inniger, um Jeremy Thorpe abzuwandeln, als für seine politische Karriere sein Land aufzugeben.“

InThe Irish News aus Belfast analysiert Peter Murphy die Ursachen für den Wahlausgang: „Die Remain-Kampagne versagte darin, die Anti-Establishment Stimmung der Wähler zu deuten. Das wurde auch dadurch nicht besser, dass es keine echte Debatte gab, außer viel Geschrei im Fernsehen. Tatsächlich waren die sensibelsten Argumente in den mit Bedacht komponierten Leserbriefen von beiden Seiten zu finden. Die Leave-Kampagne war ebenso schwach. Trotzdem profitierte sie von der Berichterstattung über die Wirtschaftskrise in Spanien und Italien, über den Zusammenbruch der irischen Wirtschaft und vom Versagen der EU mit dem menschlichen Leid von Migranten und Flüchtlingen fertig zu werden.“

Auch in der Republik Irland wurde das Thema diskutiert. In der Irish Times kommentiert Pat Leahy das Votum wie folgt: „Das Ergebnis von heute Morgen legt nahe, dass diese wütende Entfremdung zum prägenden politischen Geist dieses Zeitalters werden wird. Ironischerweise bleibt Großbritannien unwiderruflich Teil der europäischen Bewegung. Heute Morgen, nachdem sich der Staub gelegt hat, erscheint das britische Wahlergebnis eher wie ein Beginn und weniger wie ein Ende. Es wird wahrscheinlich weiter Ärger geben.“

An der Seite der Iren aus dem Norden standen gestern auch die Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes in Deutschland. Die twitterten: „Wir gehen jetzt in einen irischen Pub und betrinken uns. Ab morgen arbeiten wir dann wieder für ein besseres Europa.“

Anzeige