Großbritannien und die EU - Brexit-Dämmerung

Die britische Premierministerin Theresa May hat einen Kompromissvorschlag für den EU-Austritt Großbritanniens mit der Europäischen Union ausgehandelt. Dieser Brexit-Deal ist die beste aller schlechten Optionen – zumindest für die umkämpfte Regierungschefin

Im Eiltempo zum Kompromiss: Am 25. November will Theresa May ihren Brexit-Entwurf mit der EU aushandeln / picture alliance
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Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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Noch hatte keiner den Text des Brexitdeals gelesen, da brach bereits die Meuterei auf der Brexitannia aus. „Mit diesem Brexit werden wir zum Vasallenstaat“, rief Boris Johnson, einst Außenminister des Vereinigten Königreichs und heute Anführer der Brexit-Hardliner im britischen Parlament. Sein kleiner Bruder Jo Johnson, der vor ein paar Tagen als Staatsekretär für Transport zurückgetreten war, kritisierte das geplante Abkommen von der Seite der Proeuropäer: „Wir sollten lieber eine zweite Volksbefragung durchführen, als diesen faulen Kompromiss anzunehmen.“

Doch Kapitänin Theresa May steuert unbeirrt ihr Schiff weiter durch die Wogen der Empörung. Am Mittwoch versammelte sie ihr Kabinett, um den engsten Mitstreitern die Zustimmung zu ihrem heiklen Kompromiss-Brexit abzuringen. Schon in den Stunden zuvor hatten die wichtigsten Kollegen – Brexitminister Dominic Raab, Außenminister Jeremy Hunt, Finanzminister Philip Hammond, Innenminister Sajid Javid und Handelsminister Liam Fox – signalisiert, dass sie ihre Posten lieber behalten und mitziehen wollten. 

Die EU-Außengrenze bleibt grün

Für Theresa May ist damit zwar noch keineswegs der Krieg gewonnen, aber doch ein entscheidender Etappensieg gelungen. „Es ist ein Vorschlag voller Kompromisse, das stimmt schon“, konstatiert William Hague, ehemaliger Tory-Parteichef und heute pragmatischer Elder Statesman in einem Radiointerview: „Doch Theresa May hat damit drei wichtige Forderungen der Brexitbefürworter erfüllt: Großbritannien kann in Zukunft die Fischereipolitik selbst bestimmen, muss nicht mehr in den EU-Topf einzahlen und darf die Immigration beschränken.” Denn das Vereinigte Königreich wird aus dem EU-Binnenmarkt austreten, und damit gelten die vier EU-Freizügigkeiten für die Briten nicht mehr. 

Mays Brexit heisst aber auch, dass das Problem der nordirischen Grenze erst einmal entschärft werden kann. Die EU wie auch das Vereinigte Königreich waren sich im Prinzip einig, dass die Grenze zwischen Irland und Nordirland grün bleiben soll, auch wenn sie nach dem Brexit zur EU-Außengrenze werden wird. Um dies zu erreichen, soll Nordirland in der Zollunion bleiben. Damit keine neue Grenze zwischen Nordirland und Großbritannien im irischen Meer entsteht, musste May den logischen Schritt tun und zustimmen, eben das gesamte Vereinigte Königreich in der EU-Zollunion belassen. Zumindest vorerst, bis in einigen Jahren das von Großbritannien gewünschte Freihandelsabkommen mit der EU nach dem Vorbild Kanadas mit einigen Zusätzen ausgehandelt wird. Bis dahin könnten dann auch technische Errungenschaften an der nordirischen Grenze dafür sorgen, dass es keine Zollposten mehr geben muss, weil man alles elektronisch überwachen zu können hofft.

Der Kompromissdeal verspricht Stabilität

Für Hardliner ist der temporäre Verbleib in der Zollunion schwer zu schlucken: Großbritannien bleibt damit eng an EU-Regeln gebunden, ohne ein Mitspracherecht zu haben. Freihandelsabkommen mit Drittstaaten werden die Briten auch nicht sofort aushandeln können. Der Traum vom Empire 2.0 bleibt erst mal, was es schon bisher war: eine Phantasie der Brexit-Fans. Allerdings atmet die britische Geschäftswelt am Mittwoch erst einmal auf. Mays Kompromissdeal verspricht Stabilität, und die ist für international operierende Konzerne wichtiger als nationale Souveränität. 

Kommt es auch in den nächsten Tagen nicht zu Rücktritten wichtiger Minister, dann können Briten, EU-Kommission und die EU-Regierungen das Abkommen bis zu einem bisher nur inoffiziell angekündigten Sondergipfel am 25. November fertig aushandeln. EU-Chefverhandler Michel Barnier briefte am Mittwochvormittag die 27 EU-Botschafter über den erreichten Kompromiss. Den meisten EU-Regierungen dürfte dieser reichen. Irland, das am meisten betroffene Land, war in die Verhandlungen sehr eng eingebunden. 

Verbünden sich Hardliner mit Proeuropäern? 

Heftigster Widerstand ist in den nächsten Wochen daher am ehesten von den britischen Politrebellen zu erwarten. Nicht nur die Familie Johnson ist gespalten, wenn es um den Brexit geht. Die konservativen Tories und die oppositionelle Labour Party sind ebenfalls tief zerstritten. Es könnte gut sein, dass die proeuropäischen und europhoben Abgeordneten beider Parteien den May-Deal im Parlament niederstimmen. „Dieser Deal ist schlimmer für Großbritannien als die EU-Mitgliedschaft”, meint etwa Steve Baker im Gespräch mit Cicero. Der konservative EU-Skeptiker trat im Juli als Brexit-Staatssekretär zurück, weil ihm Mays Linie zu moderat war. 

Jetzt zieht er im Grunde genommen mit jenen an einem Strang, die gar keinen Brexit wollen. Sondern lieber ein neues Referendum, um den Brexit überhaupt zu stoppen: „Wir haben bereits den besten Deal, den Großbritannien von der EU bekommen kann”, argumentiert die proeuropäische Tory-Abgeordnete Anna Soubry: „Die EU-Mitgliedschaft.”

Die Alternative wäre Chaos

Die Labour Party ist ähnlich zerstritten. Parteichef Jeremy Corbyn glaubt, wie er gegenüber dem Spiegel im Interview sagte, dass der Brexit nicht mehr zu stoppen sei. Viele seiner proeuropäischen Abgeordneten denken allerdings genau das Gegenteil. Weil Corbyn weiß, wie gespalten Partei und Land in der Brexitfrage sind, hält der EU-Skeptiker sich in dieser Frage bedeckt. Für Corbyn ist es wichtiger, in Downing Street einzuziehen als ernsthaft gegen den Brexit zu opponieren. Corbyns Kalkül: Die Mehrheit der Labour-Abgeordneten wird gegen Mays Brexitvorschlag stimmen. Kommen genügend Hardliner und Proeuropäer von der Tory-Partei dazu, dann könnte Theresa May die Abstimmung verlieren. Das könnte Anfang Dezember der Fall sein. Dann wären ihre Tage als Premierministerin gezählt. 

Die Folge wäre: Chaos. Aus diesem könnten ein Misstrauensantrag, Neuwahlen und sogar ein zweites EU-Referendum hervorgehen. Ob sich eine Mehrheit der Abgeordneten dann dafür entscheidet, bleibt abzuwarten. Am Mittwoch brach jedenfalls in London Brexitdämmerung aus. Erstmals liegt ein konkreter Vorschlag auf dem Tisch, wie Großbritanniens Zukunft nach dem EU-Austritt aussehen könnte. Trotz der zu erwartenden Schwierigkeiten beginnt für die Briten ein neues Zeitalter.

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