Brexit - Das schuldige Schweigen der Europäer

Was passiert, wenn die Briten bleiben – und was, wenn sie gehen? Die EU verweigert auf beide Fragen jede Antwort, vermeidet sogar das Wort „Brexit“. Damit gibt sie den Europagegnern unnötig Auftrieb. Europa negiert sich selbst

Ratlos in Brüssel: David Cameron und Jean-Claude Juncker. / picture alliance
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Eric Bonse berichtet seit 2004 aus Brüssel über Europapolitik. Er betreibt auch den EU-Watchblog „Lost in Europe“.

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Man wirft Großbritannien gerne vor, eine schizophrene Haltung zu Europa zu haben. Tatsächlich zeigt die Wahlkampagne vor dem EU-Referendum am 23. Juni, wie gespalten die Bevölkerung und wie zwiespältig die politische Klasse ist, wenn es um die EU geht. Vor allem die konservativen Tories um Premier David Cameron scheint der Brexit-Streit regelrecht zu zerreißen.

Aber auch die EU verhält sich schizophren. Erst lässt sie sich jahrelang von Cameron vorführen: Er hat das EU-Budget gekürzt, den Fiskalpakt blockiert und die Europawahl samt Spitzenkandidaten behindert. Dann gewährt sie ihm neue Extrawürste – beim Sondergipfel im Februar wurde ein teures Wunschpaket geschnürt, um Cameron und seine Wähler zufrieden zustellen.

Die Stimmung kippt

Doch nun, da das Brüsseler Carepaket seine Wirkung verfehlt und die Stimmung in London kippt, machen die Europäer – nichts! Sie schweigen, statt die Zugeständnisse an Cameron hervorzuheben. Sie ducken sich weg, statt dem „Remain“-Lager den Rücken zu stärken. Viel mehr als ein warmer Händedruck mit Ex-Premier Gordon Brown ist nicht drin, Brüssel hält sich raus.

Schon klar, so war es mit Cameron verabredet. Die Berufseuropäer sollten sich zurückhalten, da jede Äußerung eines Nicht-Briten als unerwünschte Einmischung gewertet würde und das „Leave“-Lager stärken könnte. Doch nun zeigt sich, dass diese Taktik nicht aufgeht. Die EU-Gegner legen kräftig zu, obwohl sich die EU-Politiker peinlich genau an die Verabredung gehalten haben.

Sachargumente ziehen nicht

Dabei ist diese Verabredung falsch. Sie beruht auf der falschen Prämisse, dass man den EU-Gegnern mit Sachargumenten beikommen und vor allem bei Wirtschaftsthemen punkten würde. Schließlich sind sich fast alle Experten einig, dass die britische Wirtschaft unter einem EU-Austritt leiden würde.

Diese Debatte wurde tatsächlich geführt. Doch sie lief ganz anders, als sich dies Cameron und die EU-Politiker gedacht haben dürften. Die Warnung vor weniger Wachstum, höheren Hauspreisen und möglichen Finanzlücken in den Sozialkassen wurde von den EU-Gegnern nämlich nicht sachlich diskutiert, sondern als unsachliche Angstkampagne („Project Fear“) diffamiert.

Ein geschicktes Manöver

Ein geschicktes Manöver – das die EU-Anhänger dennoch durchkreuzen könnten. Dazu müssten sie sich allerdings nicht auf die Kosten eines Austritts, sondern auf den Nutzen der EU-Mitgliedschaft konzentrieren. Doch dazu ist Cameron offenbar nicht in der Lage. Viel mehr, als dass Großbritannien in Europa „better off“ („besser dran“, Anm. d. Red.) sei, fällt ihm und seinen Beratern nicht ein.

Auch die EU-Kommission ist schlecht beraten. Sie hat sich nicht nur jede Einmischung in die britische Kampagne verkniffen, sondern sogar so getan, als finde diese Kampagne gar nicht statt. Die Pressestelle der Brüsseler Behörde soll sogar das Wort „Brexit“ auf den Index gestellt haben – ganz so, als könne dieser gar nicht stattfinden, wenn man nicht darüber redet.

Sein oder Nichtsein

Ein fataler Fehler, wie die jüngsten Umfragen zeigen. Denn der Brexit ist nun wahrscheinlicher denn je. Eigentlich hätte man sich das schon vorher denken können. Denn Kommunikations-Verweigerung war noch nie eine gute Idee, schon gar nicht, wenn es um Sein oder Nichtsein geht. Durch ihr Schweigen machen sich die Eurokraten mitschuldig an der aktuellen Misere.

Noch schwerer wiegt aber der politische Fehler. Er wurde vor allem von Kanzlerin Angela Merkel und den anderen Staats- und Regierungschefs der EU begangen und besteht darin, keinen Weg nach vorn für die Zeit nach dem „britischen Referendum“ (so die offizielle Brüsseler Sprachregelung) zu zeigen. Was passiert, wenn die Briten bleiben – und was, wenn sie gehen? Schweigen.

Brexit oder Extrawurst

Zwar wird hinter den Kulissen schon eifrig an einem „Plan B“ wie Brexit gearbeitet. Vermutlich gibt es auch schon einen „Plan A“ für den Fall, dass die Briten bleiben. Dann dürfte sich die EU darauf konzentrieren, all die Extrawürste umzusetzen, die Cameron im Februar herausgeschlagen hat. Vermutlich wird es auch einen noch engeren deutsch-britischen Schulterschluss geben.

Doch darüber spricht niemand. Allenfalls erfährt das staunende Publikum, was nach dem 23. Juni alles nicht passieren wird. Es werde keine engere EU-Integration geben, sagt Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble. Es werde keine neue Erweiterungsrunde geben, betont Eurogruppenchef Jeroen Dijsselbloem. Es werde keine EU-Armee geben, stellt Kommissionschef Jean-Claude Juncker klar.

Merkel hat ihre Hausaufgaben nicht gemacht

Europa negiert sich selbst. Doch wohin die Reise geht, was das Ziel ist, das wollen die EU-Chefs nicht verraten. Vermutlich wissen sie es selber nicht. Dabei haben sie genug Zeit gehabt, sich auf alle Fälle vorzubereiten. Cameron hat sein Referendum schon im Januar 2013 angekündigt. Seitdem wissen Merkel & Co, was sie erwartet. Sie haben ihre Hausaufgaben nicht gemacht.

Und so tappen sie nun alle im Dunkeln – die EU-Gegner auf der Insel genauso wie die EU-Anhänger auf dem Kontinent. Die Briten wissen nicht, welchen Preis sie zahlen müssen, wenn sie sich gegen Europa entscheiden. Ihnen fehlt damit ein wichtiges Argument für eine rationale Entscheidung. Die Ungewissheit könnte sie dazu verleiten, aus dem Bauch heraus zu wählen.

Für Europa kämpfen?

Inakzeptabel ist die Lage aber auch für die Kontinental-Europäer. Sie wissen nicht, wie es mit der EU weitergeht – nicht einmal im günstigsten Fall eines britischen „Yes“. Sie wissen auch nicht, ob es sich noch lohnt, für dieses Europa zu kämpfen. Schließlich kämpfen ja nicht einmal die EU-Chefs für dieses Europa. Vielleicht lohnt es sich am Ende gar nicht mehr.

Nicht einmal Camerons entfernte Parteifreunde bei den europäischen Konservativen – Kanzlerin Merkel, Kommissionschef Juncker, Ratspräsident Donald Tusk – wagen es, die Stimme zu erheben. Mit ihrem Schweigen machen sie sich mitschuldig am Niedergang einer großen Idee. Und vielleicht auch an der Niederlage, die sich da in London abzeichnet.

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