Premier auf der Intensivstation - Großbritannien sorgt sich um Boris Johnson

Boris Johnson konnte die Regierungsgeschäfte nach dem Wochenende nicht wieder in die Hand nehmen. Er liegt auf der Intensivstation. Nicht nur die Boulevardpresse schlachtet jetzt jedes Detail vom Liebesleben bis zum Leibesumfang des an Covid-19 erkrankten Premierministers aus.

Wie ernst steht es wirklich um den britischen Premier? / picture alliance
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Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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Ganz Britannien hielt am Dienstag den Atem an, als die Nachricht kam, dass der britische Premierminister Boris Johnson ins St-Thomas-Spital am Südufer der Themse eingeliefert wurde. Er musste am Montag Abend wegen Atembeschwerden auf die Intensivstation verlegt werden. Nach elf Tagen hatte die Covid-19-Erkrankung seine Lungenfunktion schwer eingeschränkt. Noch aber, beruhigten die Ärzte, sei der 55-jährige Regierungschef nicht intubiert und nicht an einen Ventilator angeschlossen worden. 

The Times berichtet von ungenannten Quellen aus dem St. Thomas Hospital, dass es Boris Johnson besser gehen soll als „normalen” Schwerkranken“. Gemeinhin werden Patienten erst in eines der begehrten Betten auf der Intensivstation gebracht, wenn Bedarf nach fünfzehn Litern Sauerstoff besteht. Johnson hatte am Montag abend vier Liter Sauerstoff über eine Atemmaske bekommen. Er soll bei Bewusstsein sein.

Genesungswünsche von Donald Trump

Eine Sturzwelle an Genesungswünschen ergoss sich über den Kranken, allen voran wünschte US-Präsident Donald Trump seinem „wirklich guten Freund baldige Besserung“. Johnson sei eben jemand, „der nicht aufgebe”. Genau diese Qualität wird allerdings jetzt auch von vielen in Frage gestellt: „Wieso ist ein Kranker, der ein Bett auf der Intensivstation braucht, fit genug, um die Regierungsgeschäfte zu führen?“, hatten mehrere Journalisten beim täglichen Nachmittagsbriefing am Montag noch den designierten Stellvertreter Dominic Raab gefragt.

Johnson hatte auch mit hohem Fieber die Regierungsgeschäfte nicht abgegeben und mitteilen lassen, er arbeite nach wie vor die Regierungspapiere aus der legendären roten Box ab. Ob es einen Unterschied für seinen Krankheitsverlauf gemacht hätte, wenn Johnson sich in Ruhe auskuriert hätte? Die behandelnden Ärzte und das Corona-Expertenteam wollten oder konnten dies nicht bestätigen. 

Großbritannien hat Wochen durch Nichtstun verloren 

Solange Boris Johnson nicht arbeitsfähig ist, führt nun Außenminister Dominic Raab die Geschäfte. Als „First Secretary of State“ ist der 46-jährige Konservative der „Designated Survivor“, wie es die Amerikaner nennen. Er saß dem täglichen Coronavirus-Meeting in Downing Street vor. Die wöchentliche Kabinettsitzung am Dienstag wurde allerdings nicht abgehalten, es sind in dieser Woche Osterferien, und das Parlament tagt nicht.

Boris Johnson und seine Berater hatten sowohl seine Erkrankung als auch die Covid-19-Epidemie generell lange unterschätzt. Erst hat man Wochen verloren, weil aus den Verläufen der Virusverbreitung in anderen Ländern wie China oder Italien keine Schlüsse für das Vereinigte Königreich gezogen wurden. Weder wurden Tests, Masken, Ventilatoren oder Schutzkleidung für das Krankenpersonal in großen Mengen frühzeitig bestellt. Noch wurde über eine langfristige Strategie für die britische Wirtschaft nachgedacht. Außer, dass erst „Herdenimmunität“ in der Bevölkerung hergestellt werden sollte – das wäre die praktische Variante gewesen, da sie das Leben der Briten und die britische Wirtschaft weniger eingeschränkt hätte als die Selbstisolation der großen Mehrheit der Bevölkerung. 

Täglich sterben zwischen 400 und 700 Briten an dem Virus 

Als die Zahlen der Erkrankten Mitte März explodierten, wurden nach und nach doch alle Maßnahmen ergriffen.Teilweise unentschlossen und eben auch schlecht vorbereitet. Zur Zeit sind Pubs, Restaurants, Schulen und Läden geschlossen. Nur Supermärkte, Lebensmittelgeschäfte und Apotheken sind geöffnet. Über 5.000 Menschen hat das Coronavirus schon getötet. Täglich sterben zwischen 400 und 700 Briten an Covid-19.

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Ohne den zentralen Entscheidungsträger, den erkrankten Premierminister Boris Johnson, ist der Kampf gegen das Coronavirus zusätzlich erschwert worden. Vier Arbeitsgruppen sind im Regierungskabinett mit Covid-19 befasst. Angeblich streiten sich Gesundheitsminister Matt Hancock und Finanzminister Rishi Sunak in Abwesenheit Johnsons um die weitere Finanzierung von notwendigen Maßnahmen. 

Am Rande der Städte werden Feldlazarette eröffnet 

Kabinetts-Minister Michael Gove, der heimliche zweite Stellvertreter Johnsons, versuchte am Dienstag früh die Angelegenheit in üblichem englischen Understatement in einem BBC-Interview herunterzuspielen: „Die Ausführung der Maßnahmen gegen den Coronavirus liegt jetzt ohnehin in den Händen der Beamtenschaft.“Er selbst ist auch bereits in Selbstisolation, weil jemand in seiner Familie erkrankt ist.

Inzwischen werden am Rande der großen Städte Feldlazarette eröffnet, die nach und nach mit Intensivbetten ausgestattet werden, an die Atmungsgeräte angehängt werden können. In Ostlondon sollen im Nightingale-Hospital bis zu 4.000 Patienten Platz finden. Ein Fernsehbericht aus der Universitätsklinik University College London UCLH zeigte am Montag, wie Patienten im früheren Aufwachbereich Bett an Bett intubiert werden müssen. Die Intensivstationen sind überfüllt.

Es mangelt nicht nur an Intensivbetten 

Die Ärzteschaft des öffentlichen Gesundheitssystem NHS warnt allerdings, dass es derzeit nicht nur an Intensivbetten mangelt. Ein interner Bericht von 193 Krankenhäusern ergibt ein verheerendes Bild der Lage: 72 Prozent der Ärzte können sich selbst nicht mit chirurgischen FFP3-Masken schützen, wenn sie Patienten behandeln. FFP3-Masken schützen besser, weil sie ein Atmungsventil und bessere Filter besitzen. 77 Prozent des Krankenpersonals berichten von einem Mangel an langen Schutzhandschuhen. 43 Prozent haben keine Schutzbrillen, wenn sie sie bräuchten. Gerade beim Intubieren ist die Ansteckungsgefahr ausgesprochen hoch. Drei Ärzte, zwei Krankenschwestern und eine Hebamme sind bereits an Covid-19 gestorben.

Inmitten der tragischen Umstände gefallen sich nun nicht nur die englischen Boulevardmedien in detaillierter Berichterstattung über die privaten Umstände des erkrankten Premierministers. Von seinem Liebeslieben bis zu seinem Leibesumfang wird jedes Detail genauestens observiert. Seine 31-jährige Freundin Carrie Symonds ist im sechsten Monat schwanger und hat Covid-19 gerade selbst überstanden: „Nach sieben Tagen Ruhe fühle ich mich stärker und auf dem Weg zur Genesung“, hatte sie am Samstag auf Twitter bekundet. Das First Girlfriend war nicht mit dem Regierungschef in seiner Amtswohnung in Downing Street in Isolation gegangen, sondern hatte sich nach einem Bericht der Sun  in eine Wohnung in Südlondon zurückgezogen. Johnson hatte seine Frau Marina Wheeler, mit der er vier Kinder hat, vor zwei Jahren verlassen. Da das St-Thomas-Spital keine Krankenbesuche bei Covid-19-Patienten erlaubt, können weder Symonds noch seine Kinder ihm beistehen.

Der Premier macht Yogastunden online 

Detailliert diskutiert wird nun auch der generelle Gesundheitszustand von Boris Johnson. Man konnte den ehemaligen Bürgermeister Londons früher oft auf dem Fahrrad ins Büro fahren sehen. „Es machte einen energetischen, gefährlichen und anarchischen Eindruck“, schreibt Biograf Andrew Gimson in seinem Buch „The Rise of Boris Johnson“. Auch zeigte Boris Johnson sich früher gerne beim Morgenlauf – zuweilen ähnelte dabei sein Beinkleid fatal einer Badehose. Wegen seiner Knieprobleme habe der 55jährige Politiker jetzt allerdings die Laufschuhe ausgezogen und mache Yoga- und Pilatesstunden online. „Er ist nicht wirklich sehr aktiv, seine Läufe waren nie sehr lang und nicht sehr energetisch“ sagt Sonia Purnell, die Autorin der nicht autorisierten Biografie “Just Boris: a Tale of Blond Ambition“ im Interview mit  dem Guardian.

Boris Johnsons liebste Sportart, bei der er am meisten Ehrgeiz zeigt, dürfte nach seinen eigenen Angaben der Gang zum Kühlschrank sein. „Keiner, außer man selbst”“, gab er einst zu Protokoll, „kann einen davon abhalten, sich mitten in der Nacht in die Küche zu schleichen und dort die Kanten des Käsestückes zu begradigen.“ „Insgesamt ist er erstaunlich fit dafür, dass er übergewichtig ist”, sagt Sonia Purnell, die einst mit Johnson das Büro des Daily Telegraph in Brüssel teilte. Dass er jetzt im Krankenhaus auf der Intensivstation um sein Leben kämpfen muss, dürfte ihn besonders ärgern: „Als wir miteinander arbeiteten, war er sehr, sehr intolerant, wenn jemand krank wurde. Er hielt dies für Schwäche.”

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