Benjamin Netanjahu - Der Rätselhafte

Seit einem Vierteljahrhundert bestimmt Benjamin Netanjahu über die Geschicke Israels – doch vielen seiner Landsleute bleibt er seltsam fremd. Jetzt bei den Wahlen droht ihm der Machtverlust. Kann er sich noch einmal retten?

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Netanjahus Macht ist erstmals in Gefahr, schlechte Umfragewerte bringen ihn zu alten Verhaltensmustern zurück / picture alliance
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Autoreninfo

Dr. Gil Yaron, in Israel geboren und in Deutschland aufgewachsen, ist Autor, Arzt und arbeitet als Nahostkorrespondent der Tageszeitung Welt.

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Man könnte Jair Lapids Aussage auch ganz einfach als taktisch motiviert abtun. Schließlich schickt sich der Vizechef der Partei Blau-Weiß an, Israels amtierenden Premierminister am 9. April bei den Parlamentswahlen zu schlagen. Doch als Lapid unlängst auf einer Wahlveranstaltung über Benjamin Netanjahu sprach, schwang in seiner Stimme überzeugende Beklemmung mit: „Ich kenne ihn persönlich, seit Jahrzehnten. Doch neuerdings frage ich mich: Was ist mit ihm geschehen? Er ist anders als früher.“

Diese Frage stellen sich inzwischen viele Israelis. Kaum ein Politiker hat ihr Land stärker geprägt als Netanjahu. Dennoch wissen selbst seine Anhänger oft nicht, wofür „Bibi“ eigentlich steht. Er bleibt ein wandelnder Widerspruch, sein herausragendes Talent ist extreme Wandlungsfähigkeit.

Emotionale Verbindung zu den Misrachim

Benjamin kam 1949 in Tel Aviv als Zweitgeborener des Historikers Benzion Netanjahu zur Welt, wuchs in Jerusalem und in den USA auf. Seine Kindheit war geprägt von einer Dualität, die ihn bis heute begleitet: Er war Teil der aschkenasischen Elite, der urbanen Bevölkerung mit europäischen Wurzeln. Dennoch war sein Vater im von sozialistischen Parteien dominierten Israel wegen seiner konservativ-nationalistischen Haltung ein politischer Außenseiter, wurde gemieden.

Heute mag Netanjahu ein Multimillionär sein, der Israels Geschicke seit bald einem Vierteljahrhundert mitbestimmt. Dennoch hat er eine einzigartige emotionale Verbindung zu den Misrachim, den Israelis, deren Vorfahren aus arabischen Ländern einwanderten und die die soziale Unterschicht bilden. Sie sehen Bibi als einen der ihren.

Schnelle Karriere

Ein weiterer Schatten lag über Benjamins Kindheit: Bruder Jonathan galt als der „gelungene“ Sprössling. Dazu passt eine Anekdote des Schriftstellers Amos Oz, den Netanjahu als Dreijähriger gemeinsam mit seinen Eltern zu Hause besuchte: Bibi piesackte Oz während des Essens unterm Tisch, der trat ihn daraufhin vor den Kopf. „Ich frage mich seither, ob ich damals zu hart oder zu sanft zugetreten habe“, so Oz, der damit humorvoll-überheblich eine Mitverantwortung für Netanjahus Politik übernahm, die er stets scharf kritisierte.

Als junger Mann diente Netanjahu in einer Eliteeinheit, wurde bei Einsätzen auch verwundet. Er ging in die USA, um dort Geschäfte zu machen. Doch als sein Bruder Jonathan 1976 bei einer Geiselbefreiung in Entebbe fiel, kehrte Benjamin nach Israel zurück, um sich der Terrorbekämpfung zu widmen. Mit seiner amerikanischen Soundbite-Rhetorik machte Netanjahu schnell politische Karriere: zuerst Vize-Außenminister, dann Oppositionsführer. Als solcher nahm er an Demonstrationen teil, bei denen der damalige Premier Jitzchak Rabin wegen der Friedensverhandlungen mit den Palästinensern als Verräter beschimpft und symbolisch zu Grabe getragen wurde.

Trotz aller Kritik hat er viel erreicht

1996 gewann Netanjahu erstmals die Wahl – und erwies als Premier erstaunliche Flexibilität. Hatte er als Abgeordneter noch große Militäreinsätze gefordert, übte er sich als Oberbefehlshaber in Zurückhaltung. Es folgte ein politischer Zickzackkurs: Im Jahr 2018 verkündete er einen Deal mit der Uno zur Abschiebung von Migranten, nur um das Abkommen nach zwölf Stunden aufzukündigen. 2009 bekannte er sich zur Zweistaatenlösung, verhängte den längsten und drastischsten Siedlungsbaustopp in der Geschichte Israels; heute lässt er in den Siedlungen mehr Quartiere entstehen denn je. Einst verdonnerte er die Ultraorthodoxen zum Wehrdienst, nur um diese Pflicht in der nächsten Legislaturperiode wieder aufzuheben und mit ihnen zu koalieren.

Aller Kritik zum Trotz hat Netanjahu viel erreicht. Als in Israels Nachbarschaft der Arabische Frühling tobte, blieb das Land sicher und stabil. Die Wirtschaft blüht, im Hightech-Bereich ist man Weltspitze. Selbst arabische Länder suchen die Nähe zum jüdischen Staat.

Aussicht auf Wiederwahl

Doch jetzt ist Netanjahus Macht erstmals in Gefahr; schlechte Umfragewerte bringen ihn zu alten Verhaltensmustern zurück. Unlängst erklärte Netanjahu dieselben rassistischen Aktivisten, die Rabin 1995 mit Mord gedroht hatten, zu potenziellen Koalitionspartnern. Wie der Generalstaatsanwalt in einer Anklageschrift feststellte, schreckt der Premier weder davor zurück, die Medien zu manipulieren, noch Magnaten Vergünstigungen in Milliardenhöhe zu gewähren oder Bestechungsgelder anzunehmen.

Doch seine Anhänger stört das nicht, Netanjahus Stammwähler sind fest entschlossen, ihn abermals zum Premier zu küren. Gewinnt er die Wahl, dürfte Bibi seinen Kampf gegen die alten Eliten fortsetzen. Im Juni wäre er dann länger im Amt als der legendäre Staatsgründer David Ben-Gurion. Spätestens dann hätte Benjamin auch seinem Vater, dem Historiker, endgültig bewiesen, dass er das gelungenste Kind in der Familie war.

Dies ist ein Artikel aus der April-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.












 

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