Proteste in Belarus - „Ich habe Angst um mein Leben“

Die Proteste in Belarus weiten sich aus. Gerade die junge Generation hofft auf einen historischen Wandel. Unser Autor bekam schon als Kind von seinen Eltern den Rat: Fliehe aus Belarus! Aber noch immer lebt er genau zwischen Moskau und Berlin und träumt von Deutschland.

Militärpolizei in den Straßen von Minsk / picture alliance / ZUMAPRESS.com | Celestino Arce Lavin
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Autoreninfo

Anatol Kowal*, Jahrgang 2000, lebt und studiert in Baranawitschy, Weißrussland.

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*Der Name des Autors ist der Redaktion bekannt. Aus Sicherheitsgründen schreibt er unter Pseudonym.

Schon als ich noch sehr jung war, habe ich davon geträumt, aus Belarus zu fliehen. Denn meine Eltern sagten mir, dass es das ist, was ich eines Tages tun sollte: Flieh aus Belarus! Denn dieses Land ist wie die alte UdSSR eine neuzeitliche Sowjetdiktatur. Wir haben einen niedrigen Lebensstandard, niedrige Gehälter, dafür aber hohen Druck auf alle Andersdenkenden, auf all jene, die es wagen zu demonstrieren. Ihre Meinungen werden im besten Fall ignoriert.

Inzwischen bin ich neunzehn Jahre alt und Student an der Universität in Baranawitschy und noch immer bin ich nicht geflohen. Ich lebe in dieser mittelgroßen Stadt westlich von Minsk mit rund 170.000 Einwohnern. Geografisch liegt sie auf halbem Weg zwischen Berlin und Moskau. So wie in der Hauptstadt wird hier seit Tagen demonstriert, friedliche Kundgebungen finden statt. Die Behörden aber reagieren sehr aggressiv. Die Bereitschaftspolizei greift hart durch im Auftrag des Lukaschenko-Regimes. Aber immer mehr Menschen gehen auf die Straße. Für die Opfer werden inzwischen Hilfsgelder gesammelt. Die Proteste haben sich auf sehr viele Städte ausgeweitet. Selbst in dem kleinen Ort, in dem meine Mutter geboren wurde, gibt es sie.

Meine Heimat Belarus, aus der ich fliehen will

Auch ich würde gerne protestieren, aber ich habe Angst um mein Leben und um das meiner Verwandten. Denn sie alle, auch meine Mutter und mein Vater arbeiten für staatliche Einrichtungen. Ich studiere an einer staatlichen Universität. Es drohen zahlreiche Probleme. Ich könnte von der Universität geworfen werden. Mama und Papa könnten ihre Jobs verlieren. Deshalb habe ich Angst, rauszugehen. Und auch, weil viele Menschen bei Zusammenstößen mit der Bereitschaftspolizei zu Krüppeln geprügelt wurden. Einige Menschen werden noch immer vermisst. Manche sind sogar getötet worden.

Also sitze ich die meiste Zeit zu Hause. Meine Nachrichten bekomme ich über Kanäle auf Telegram, über Instagram, VKontakte, von Freunden und von meiner Familie. Ich teile die Videos, die mich erreichen und hoffe, dass auch sie irgendetwas erreichen. Auch diese Zeilen schreibe ich in der Hoffnung, dass sie irgendetwas bewirken für meine Heimat Belarus, aus der ich fliehen will. Ich lebe in einer Diktatur. Es ist eine Diktatur!

Eine unverfrorene Unverschämtheit

Die Massivität der Proteste auf den Straßen rührt daher, dass Lukaschenko klar gesehen hat, dass eine sehr große Anzahl von Menschen die oppositionelle Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja wählen wollten. 80 Prozent sollen es gewesen sein. Jeder hier in Belarus weiß, dass diese Wahlen, wie alle vorherigen auch, aus genau diesem Grund gefälscht wurden. Als die Menschen dann sahen, wie Lukaschenko das Ergebnis zu seinen Gunsten umdrehte und 80 Prozent für ihn proklamierte, explodierte die Wut. Was für eine unverfrorene Unverschämtheit!

In Belarus gibt es drei Hauptmeinungen: Es gibt jene, die alles ignorieren, was um uns herum geschieht. Es gibt jene, die Veränderungen wollen. Und es gibt jene, die tatsächlich alles so lassen wollen, wie es ist. Gerade wir jungen Menschen gehören meistens zu jenen, die unbedingt Veränderungen wollen. Die Erwachsenen ignorieren meistens, was passiert, denn sie haben viel zu verlieren: ihre Arbeit, ihre Familie, ihre Freiheit. Die Alten vertreten oft die dritte Meinung, hauptsächlich weil sie nie ein anderes Leben gesehen haben und ein anderes ihnen fremd erscheint. Das macht ihnen Angst.

Mein Blick geht nach Westen

Ich hoffe aus tiefstem Herzen, dass Belarus unter einem anderen Präsidenten in Zukunft eng mit der Europäischen Union zusammenarbeiten wird. Ich hoffe, dass wir irgendwann die Gelegenheit bekommen, uns an die EU anzuschließen. Wir gehören zu Europa.

Ich weiß, dass Russland etwas gegen meine Träume hat. Wir hoffen, dass Putin nicht auf die gleiche Weise reagieren wird, wie er es schon in der Ukraine getan hat. Sollte das passieren, erwarte ich Hilfe: von den Vereinigten Staaten und von der Europäischen Union. Belarus hat sich immerhin beteiligt an den Abschlüssen zur nuklearen Abrüstung. Zuletzt bleibt die Hoffnung, dass die Vereinten Nationen Belarus bei der Wahrung seiner Grenzen und seiner Souveränität unterstützen werden.

Wenn es mit dem Beitritt zur Europäischen Union, wie ich es mir in meinen Träumen vorstelle, nichts werden sollte, hoffe ich nach wie vor, zumindest von hier in die EU fliehen zu können. Am liebsten würde ich nach Deutschland, um mich dort für einen Studiengang einzuschreiben und dort anschließend in meinem Fachgebiet zu arbeiten. Meine Heimat liegt genau zwischen Berlin und Moskau. Und mein Blick geht nach Westen.

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