Belarus, Kirgistan und Berg-Karabach - Russlands Korrektur der Katastrophe

Belarus, Kirgisistan oder Berg-Karabach – ob Zufall oder nicht, die derzeitigen Ereignisse in diesen drei Gebieten entsprechen einem Muster russischer Politik. Dahinter könnte Wladimir Putins Wunsch stehen, eine historische Korrektur zu erzielen.

Rettungssanitäter in Berg-Karabach tragen einen Toten zu einem Krankenwagen / dpa
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Autoreninfo

George Friedman, 74, ist einer der bekanntesten geopolitischen Analysten der Vereinigten Staaten. Er leitet die von ihm gegründete Denkfabrik   Geopolitical Futures  und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien „Der Sturm vor der Ruhe: Amerikas Spaltung, die heraufziehende Krise und der folgende Triumph“ im Plassen-Verlag.

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Diese Kolumne erscheint regelmäßig auf cicero.de in Kooperation mit der Denkfabrik Geopolitical Futures.

Der russische Präsident Wladimir Putin hat den Zusammenbruch der Sowjetunion einmal als die „größte geopolitische Katastrophe der Geschichte“ bezeichnet. Auch wenn das mit Blick auf die gesamte Historie des Landes vielleicht nicht zutrifft, so doch mit Sicherheit auf die neuere russische Geschichte. Denn der Kollaps des Sowjetreichs hat Russland das gekostet, was es am meisten braucht: strategische Tiefe. Bis 1989 befand sich die Westgrenze Russlands faktisch in der Mitte Deutschlands. Der Kaukasus wiederum schirmte Russland vom Süden ab. Zentralasien war ein riesiger Puffer gegen Südasien und nicht zuletzt gegen China. Mit anderen Worten: Das russische Kernland war in alle Richtungen abgesichert.

Mit dem Zerfall der Sowjetunion verschob sich die russische Westgrenze hinter das Baltikum, die Ukraine und Weißrussland zurück. Russland behielt den Nordkaukasus, verlor aber den Südkaukasus – Aserbaidschan, Georgien und Armenien. Zentralasien zerfiel in unabhängige Staaten. Dieses Schrumpfen Russlands bedeutete nicht nur eine Verkleinerung, sondern auch eine Verringerung des Abstands zwischen potenziellen Feinden.

Absichtsvoll herbeigeführte Unfälle

Russland versuchte unweigerlich, die Grenzen neu zu ziehen, bevor eine ernsthafte Bedrohung entstehen konnte. Die Tatsache, dass diese zunächst ausblieb, ließ Russland etwas Zeit gewinnen. Aber für ein Land wie Russland können sich schnell neue Unsicherheiten ergeben. Deutschland entwickelte sich binnen weniger als einem Jahrzehnt von einer abgewrackten Nation in eine aus russischer Sicht existentielle Bedrohung. Die Russen mussten ihre strategische Tiefe vergrößern – jedoch ohne einen befürchteten Angriff auszulösen, bevor das Projekt vollendet war.

Wir haben in den vergangenen Monaten drei Ereignisse erlebt – eines in Belarus, eines im Südkaukasus, eines in Kirgisistan –, die allesamt Teile von Russlands verlorenen Grenzgebiete umfassen. Um es klar zu sagen: Es ist durchaus möglich, in den drei Krisensituationen eine mit dem strategischen Problem Russlands verknüpfte innere Logik zu erkennen, obwohl vielleicht überhaupt kein Zusammenhang besteht. Zufälle gibt es in der Geschichte zur Genüge, bei manchen vermeintlichen Zufällen handelt es sich aber tatsächlich um absichtsvoll herbeigeführte Unfälle. Wie dem auch sei, ob Zufall oder Unfall: Am Ergebnis ändert das nicht viel.

Belarus als wichtiger Puffer

In Belarus, einem wichtigen Puffer in der nordeuropäischen Tiefebene, wurde der langjährige Präsident Alexander Lukaschenko im August bei einer Wahl in seinem Amt bestätigt, die viele als illegitim sehen. Die Proteste gegen den Wahlausgang dauern seither mit wechselnder Vehemenz an. Das Verhältnis Russlands zu Lukaschenko ist kompliziert: Er versucht, ein Gleichgewicht zwischen Russland und dem Westen herzustellen, wo es geht – gleichwohl kann Lukaschenko kaum als prowestlich bezeichnet werden.

Er und Moskau haben ihre Differenzen, aber Moskau war immer sehr einflussreich in Minsk und hatte deswegen stets eine unvollkommene Lösung für Lukaschenkos strategisches Dilemma gegenüber dem Westen parat. Würde Lukaschenko durch jemanden ersetzt, der Russland feindseliger oder dem Westen freundschaftlicher gegenübersteht, könnte dies die Nato, Polen und die Amerikaner faktisch weiter nach Osten bringen und eine russische Stadt wie Smolensk zu einem Grenzposten degradieren.

Kirgisistan zwischen Russland und China

In Kirgisistan, das zwischen Russland und China liegt, gibt es ähnliche politische Unruhen. Auch hier hat eine Wahl zu Betrugsvorwürfen und Großdemonstrationen geführt. Die Russen unterhalten dort einige militärische Einrichtungen, aber der wichtigste Punkt ist, dass Kirgisistan einen Puffer zwischen Russland und China bildet. Russland und China sind derzeit nicht zerstritten, aber sie haben noch in den 1960ern gegeneinander gekämpft. Das mag zwar schon 60 Jahre her sein, doch Geopolitik führt dazu, sich zu wiederholen.

Welche aktuellen Interessen China und Russland auch immer verfolgen mögen – beide sind erfahren genug mit historischen Weichenstellungen, und keiner will, dass der andere einen Vorteil hat. Es ist unklar, ob das belarussische Skript hier funktionieren wird, aber Moskau hat ein Interesse an den aktuellen Geschehnissen in Kirgisistan. Und weil dort wahrscheinlich ein Vermittler gebraucht wird, wäre eine Einmischung Russlands nicht überraschend.

Berg-Karabach – ein hoch komplizierter Konflikt

Im Südkaukasus wiederum ist zwischen Aserbaidschan und Armenien ein Krieg um die Region Berg-Karabach ausgebrochen – um jene umstrittene Enklave, die von ethnischen Armeniern innerhalb Aserbaidschans regiert wird. Im Großen und Ganzen wird Aserbaidschan wie bisher von der Türkei unterstützt, einem Land, zu dem Aserbaidschan eine ethnische Affinität hat, während Armenien von Russland unterstützt wird.

Aber der Konflikt ist noch viel komplizierter. Zum einen hat Aserbaidschan wichtige Beziehungen zu Russland, die man nicht abbrechen will. Zum anderen wäre der russische Geheimdienst sicherlich über die Kriegsvorbereitungen in Aserbaidschan informiert gewesen und hätte der dortigen Regierung daher geraten, sich angesichts der Beziehungen Moskaus zu Armenien zurückzuziehen. Das ist aber nicht geschehen.
 
Schließlich hat Russland festgestellt, dass der Vertrag, den es mit Armenien hat, Berg-Karabach nicht einschließt und dass Moskau daher nicht verpflichtet ist, militärisch an der Seite Armeniens zu intervenieren. Die Russen nutzen den Krieg offensichtlich, um ihren Einfluss auf Aserbaidschan, das mächtigste und reichste Land im Südkaukasus, zu vergrößern. Übrigens half Moskau bei der Aushandlung eines Waffenstillstands, der jedoch schnell zerfiel. Ohne Russland hat Armenien nur wenige Optionen. Georgien, das 2008 von Russland überfallen wurde, wird keine große Hilfe sein, und die Vereinigten Staaten, die Georgien in diesem Krieg geholfen hatten, werden sich wahrscheinlich raushalten.

Moskau geht ein Risiko ein

Indem die Russen ihre Unterstützung scheinbar von Armenien nach Aserbaidschan verlagern – oder genauer gesagt: beide Länder in die russische Umlaufbahn bringen –, lösen sie zwei entscheidende strategische Probleme. Erstens sichern sie den Südkaukasus als potenzielles Einfalltor für Invasoren aus südlicher Richtung. Zweitens wird aus russischer Perspektive der Nordkaukasus durch die zunehmende Kontrolle über den Südkaukasus sicherer gemacht. Natürlich kontrolliert Russland bereits den Nordkaukasus und unterhält dort eine starke Verteidigungslinie, aber in Tschetschenien und Dagestan gibt es militante islamistische Bewegungen, von denen Moskau behauptet, diese würden von den USA durch Mittelsmänner aus dem Südkaukasus unterstützt. Ob das stimmt oder nicht: Moskau geht kein Risiko ein.
 
Es ist demnach erkennbar, dass mit den derzeitigen Ereignissen an Russlands West- und Südgrenzen die von Putin beklagte „geopolitische Katastrophe“ korrigiert wird. Es rumpeln keine Panzer, aber die aktuelle Politik scheint sich in diese Richtung zu bewegen. Natürlich kann das alles Zufall sein. Aber ob Kalkül dahinter steckt oder nicht: Die jetzt in Gang gesetzte Entwicklung ist allemal eine genaue Beobachtung wert.

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