Ausbruch des Vulkans Cumbre Vieja - „Wir leben auf einem vulkanischen Planeten“

Der Ausbruch des Vulkans Cumbre Vieja auf der Kanareninsel La Palma war für Wissenschaftler nicht überraschend, erzählt der Vulkanologe Donald Bruce Dingwell im Interview. Für ihn ist es die „normalste Sache der Welt“. Die große Frage sei jetzt vielmehr: Wann hört es auf?

Ausbruch des Vulkans Cumbre Vieja auf La Palma / dpa
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Autoreninfo

Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

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Professor Dr. Donald Bruce Dingwell ist Professor für Experimentelle Vulkanologie und Direktor am Department Geo- und Umweltwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München. Der Geologe und Geophysiker lehrte unter anderem an der Stanford University.

Professor Dingwell, Sie als Vulkanologe wurden von dem Ausbruch des Cumbre Vieja auf La Palma vermutlich nicht überrascht, oder?

Nein, nicht ganz. Der Eruption ging ja eine Kette von mehreren Tausend Erdbeben pro Tag voraus, ein gewöhnliches Anzeichen für Magma in Bewegung. Und wenn Magma sich in der Erdkruste bewegt, dann ist nur noch die Frage die, ob es wirklich bis an die Oberfläche gelangt oder ob es unter der Erde erstarrt.

Der Lavastrom ist bis zu sechs Meter hoch und hat 300 Häuser verschluckt. Ist das ungewöhnlich?

Es klingt ein bisschen hart, aber die Antwort ist: Es ist die normalste Sache der Welt. Es ist bedauerlich für die Leute, die Häuser haben oder vielmehr hatten. Aber diese Häuser sind sicherlich dorthin gebaut worden, wo eine fundierte Analyse davon abgeraten hätte oder vielleicht auch hat. Es ist ja nicht neu, dass so etwas in dieser Gegend passieren kann. Es gab bereits Ausbrüche 1949 und 1971. Ich kann mir vorstellen, dass viele dieser Häuser in den letzten 50 Jahren gebaut wurden.

Wie schätzen Sie die Arbeit Ihrer Kollegen vor Ort ein?

Die Signale, die dem Ausbruch vorausgingen, wurden richtig gedeutet. Man hat erkannt, dass die Erdbeben aus immer höheren Teilen der Erdkruste kamen. Man hat auch die Anzahl von kleinen Erdbeben gesehen. Vermutlich war keiner der Wissenschaftler, welche vor Ort waren, an dem Tag, als es dann passiert ist, überrascht.

Wie geht es jetzt weiter?

Die erste große Frage war: Wann bricht der Vulkan aus? Jetzt kommt die zweite: Wann hört es auf? Die Menschen sind schon evakuiert, jetzt geht es um Infrastruktur und weitere Maßnahmen: Wo kommen die Leute hin? Müssen die kurz-, mittel- oder langfristig untergebracht werden? All diese Fragen des Zivilschutzes hängen damit zusammen, wann der Ausbruch vorbei ist. Heute kann das noch keiner sagen. Solche Ausbrüche können durchaus mehrere Wochen bis Monate dauern.

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Wann kann man genauere Einschätzungen abgeben?

Wenn ein Zugang zu der Magmakammer in der Tiefe des Vulkans möglich ist. Dann hätten wir ein detailliertes Bild vom Untergrund des Vulkans, aber das haben wir nicht. Wir sind fast blind, wenn es um diese Frage geht.

Und nun?

Wir können schauen, ob das Material, das herauskommt, immer das gleiche ist oder ob es sich im Laufe der Tage verändert. Wenn es über Tage oder Wochen eine unveränderte Lage gibt, wäre das ein Signal dafür, dass etwas Großes in Gang gesetzt wurde. Wenn der Prozess sich ändert, dann ist es vielleicht ein Zeichen dafür, dass eine kleine Menge des Magmas bereits am Sterben ist und der Ausbruch bald aufhört. Deswegen ist es jetzt wirklich wichtig, dass jemand jeden Tag eine Probe von dieser Lava nimmt. Dann können wir Datenerhebungen auf Basis von Materialproben vornehmen.

Jeder Vulkan hat seine chemischen und physikalischen Eigenheiten. Welche Eigenheiten hat der Cumbre Vieja?

Er ist ein typischer basaltischer Vulkan. Ein bisschen wie auf Hawaii. Das sind Vulkane, die dünnflüssige Laven fördern. Diese dünnflüssigen Laven haben kein Problem mit der Dekompression in der Tiefe, deswegen entgasen sie relativ leicht. Blasen können dadurch an die Erdoberfläche aufsteigen und oben Gaswolken verursachen.

Warum können trotz moderner Messtechniken Eruptionen nicht präzise vorhergesagt werden?

Ich vergleiche die Situation gerne mit der medizinischen Forschung: Warum wurde der Krebs noch nicht besiegt? Weil es viele, viele Variablen gibt. Der Zustand des Magmas, die Spannung unter der Erde, die geographischen Bedingungen, Erdrutsche – vieles kann man nicht mit einberechnen.

Donald Bruce Dingwell / LMU

Sie arbeiten im Bereich der experimentellen Vulkanologie. Was genau tun Sie?

Wir nehmen die vulkanischen Produkte, die wir während unserer Expeditionen bergen, und lassen sie unter kontrollierten Bedingungen noch mal ausbrechen. Im Labor können wir zehnmal am Tag einen Ausbruch verursachen, um Aussagen über mögliche Variablen treffen zu können. Wir können den Spannungsfaktor erhöhen, um zu sehen, ob dann mehr Material ausbricht. Wir können entscheiden, wann der Vulkan ausbricht, mit welchen Sensoren wir messen. Wir können die Erdbeben messen und Videos des Ausbruchs erstellen. Und dann haben wir Daten, mit denen wir ein physikalisches Modell bauen können für einen bestimmten Vulkan.

Sie haben mal gesagt, unser Planet sähe ohne Vulkanismus ganz anders aus. Können Sie das erläutern?

Vulkanismus ist ein Motor für den Transfer von Wärme und Masse aus der Tiefe an die Erdoberfläche. Die Vulkanasche beim Ausbruch des Pinatubos auf den Philippinen 1991 hat die Temperaturen in Europa für zwei Jahre um ein bis zwei Grad gesenkt – und das ist nur ein kleiner Ausbruch von vielen. Wir leben auf einem vulkanischen Planeten. In den Geowissenschaften sprechen wir von einem toten Planeten, wenn es keinen Vulkanismus gibt. Wenn diese Wärmequelle, dieser Zyklus nicht mehr vorhanden wäre, dann würde unser Planet in ein ganz anderes Zeitalter von geologischen Prozessen übergehen. Dass es Vulkanismus auf der Erde gibt, dass wir bis zu 100 Ausbrüche pro Jahr haben über eine Dauer von Jahrtausenden, ist ein wesentlicher Aspekt unseres Systems.

Wegen des Klimawandels und der schmelzenden Gletscher soll mit vermehrten Ausbrüchen zu rechnen sein.

Ja, aber das hat, anders als viele denken, nichts mit der Temperatur in der Tiefe zu tun. Die Gletscher kühlen das Magma nicht ab. Das hat vielmehr mit der Spannung zu tun. Durch das Schmelzen der Gletscher sinkt der Druck auf darunterliegende Vulkane, was eine mögliche Destabilisierung des Vulkans zur Folge hat. Der Klimawandel tut das insofern, als er Masse verfrachtet von hier nach dort – zum Beispiel die Gletscher. Der Klimawandel kann, insbesondere weil dort, wo viel Eis ist, auch viele Vulkane sind, zu einer Änderung vulkanischer Aktivitäten führen.

Die Eruption von Vulkanen wird schon seit der Französischen Revolution gern als geschichtliche Metapher gebraucht. Sind Sie als Wissenschaftler für das Pathos und die kulturgeschichtliche Mythologisierung empfänglich?

Auf jeden Fall. Es ist völlig klar, warum sich Vulkane auf einem derart vulkanischen Planeten wie unserem in die frühen Kulturen, in die Köpfe der Menschen hineingearbeitet haben und zur Metapher für Ereignisse geworden sind. Unsere Kulturen und unsere Religionen wären ohne Naturkatastrophen wie Vulkane nicht das, was sie sind. Erste Schriftstücke, verfasst vor über 5.000 Jahren in sumerischer Keilschrift, handeln auch von Naturereignissen.

Lernen Sie etwas aus Ihrer Arbeit über das Verhältnis von Mensch und Natur?

In einem modernen Kontext habe ich gelernt, dass es sehr gefährlich ist, wenn das Verständnis für die Natur verloren geht. Ich will nicht romantisieren, aber naturnahe Kulturen hegen ein Gefühl, eine Intimität zur Natur. Menschen, die in der Natur leben, haben ein eingebautes Verständnis für dieses Gleichgewicht. Es hat zwar immer in der Geschichte der Menschheit Raubbau gegeben; und Kulturen sind untergegangen, weil die Menschen nicht wussten, wie sie mit der Umwelt umgehen sollten. Aber die Wahrnehmung, die Empfänglichkeit dafür, was die Natur an vernünftiger Behandlung braucht, geht verloren in Gesellschaften, in denen man in großen Städten wohnt und nur in die Berge fährt, um in der Freizeit entertained zu werden. Das hat nichts mit Natur zu tun.

Das Interview führte Ulrich Thiele.

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