Atomkriegsrisiko - Die Nato darf in der Ukraine nicht Kriegspartei werden

Der politisch-moralische Druck auf die Nato und ihre Mitgliedstaaten steigt, die Ukraine gegen die russische Aggression auch militärisch zu unterstützen. Alle Maßnahmen müssen aber nüchtern auf ihre Folgen hin abgeschätzt werden. Ein schlechtes Gewissen, die Ukraine allein zu lassen, darf nicht ausschlaggebend sein.

Das US-Verteidigungsministerium hielt die Lieferung polnischer Kampfflugzeuge über den Militärflugplatz Ramstein für unangebracht / dpa
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Botschafter a.D. Rüdiger Lüdeking war während seiner Zeit im Auswärtigen Dienst (1980-2018) in verschiedenen Verwendungen, u.a. als stv. Beauftragter der Bundesregierung für Abrüstung und Rüstungskontrolle und Botschafter bei der OSZE, mit Fragen der Sicherheits- und Rüstungskontrollpolitik intensiv befasst.

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Helmut W. Ganser, Brigadegeneral a.D., hat u.a. im Verteidigungs- ministerium und in den deutschen Vertretungen bei der Nato und den Vereinten Nationen gearbeitet.

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Mit Entsetzen verfolgen wir den brutalen Angriffskrieg Russlands in der Ukraine. Der Krieg hat bereits zahlreiche zivile und militärische Opfer gefordert. Es deutet sich an, dass die Kämpfe in den nächsten Tagen und Wochen von Russland noch schmutziger geführt wird und die Opferzahlen auch unter der ukrainischen Zivilbevölkerung dramatisch zunehmen werden. Damit wird der politisch-moralische Druck auf die Nato-Staaten weiter ansteigen. Damit verbunden werden immer drängendere Forderungen sein, die Ukraine durch massive Waffenlieferungen und die Einrichtung einer Flugverbotszone über der Ukraine zu unterstützen.

Nicht nur die tatsächliche Wirksamkeit sondern auch mögliche unbeabsichtigte Nebenwirkungen weiterer Unterstützungsmaßnahmen für die Ukraine bedürfen sorgfältiger Abschätzung. Vom Ergebnis dieser nüchternen Prüfung muss letztlich die Entscheidung abhängig gemacht werden.

Nato-Staaten haben die Ukraine inzwischen mit der Lieferung großer Mengen effektiver Flugabwehr- und Panzerabwehrwaffen unterstützt. Sie sind damit dem Status einer Kriegspartei ein Stück weit näher gerückt. Schon jetzt bergen die aufgestockten Waffenlieferungen das Risiko russischer Reaktionen gegen Nato-Staaten sowie von Angriffen auf die Waffentransporte in der Westukraine unter Umständen in Grenznähe zu Nato-Staaten, wodurch die Nato aktiv in den Krieg hineingezogen werden könnte.

Die aktuell diskutierte Lieferung von polnischen Kampfflugzeugen an die Ukraine unterliegt einer fundamentalen militärpolitischen Fehleinschätzung. Sie würde vermutlich einerseits auf das Kriegsgeschehen wirkungslos bleiben und andererseits einen Krieg zwischen der Nato und Russland wahrscheinlicher machen. Es ist deshalb zu begrüßen, dass das Verteidigungsministerium der USA, über deren Basis in Ramstein die Lieferung angedacht war, diesen Schritt für unangebracht hält.

Die Atomdrohung ist kein Bluff

Auch die immer wieder geforderte Einrichtung einer Flugverbotszone über der Ukraine sollte kategorisch abgelehnt werden. Sie würde geradewegs in eine unkontrollierbare militärische Auseinandersetzung münden. Die Durchsetzung einer solchen Zone würde bei einer zu erwartenden Missachtung durch Russland unweigerlich mit Nato-Schlägen auf russische Flugabwehrstellungen und Luftkämpfen verbunden sein. Die Nato wäre ab diesem Zeitpunkt klar Kriegspartei. Dies hätte unabsehbare Konsequenzen für Europa. Auch der Ukraine wäre damit nicht geholfen.

Präsident Selenskyj hat in einem am 10.03.2022 in der Zeit veröffentlichten Interview die Auffassung vertreten, die Atomdrohung Putins sei ein Bluff. Dem zu folgen, wäre unverantwortlich. Atomare Abschreckungsbeziehungen dürfen niemals wie ein Pokerspiel gedacht werden. Die von Präsident Putin gegen die Nato gerichteten Atomdrohungen sind ernst zu nehmen. Sie bezwecken offenbar, von einem direkten oder gegebenenfalls auch von einem nicht näher spezifizierten indirekten militärischen Eingreifen der Allianz abzuschrecken. Die Drohungen sind auch deshalb ernst zu nehmen, da Moskau außer seinen konventionellen Streitkräften kaum andere Instrumente zur Verfügung stehen, sollte es sich in die Enge getrieben sehen. Eine nukleare Eskalation in Europa könnte nicht kontrolliert werden und hätte verheerende Folgen ebenfalls für Deutschland.

Es ist unabdingbar, dass auch unter enorm wachsendem politisch-moralischem Druck an dem bisherigen Kurs festgehalten wird, die prekäre Linie zu einer Ausweitung des Kriegs auf die Nato nicht zu überschreiten. Hierauf sollte die Bundesregierung im Bündnis mit großer Entschiedenheit und Nachdruck hinwirken. Darüber hinaus ist dafür Sorge zu tragen, dass einzelne Nato-Staaten nicht mit bilateralen Unterstützungsmaßnamen einen derartigen im Bündnis abzustimmenden Kurs unterlaufen. Bundesregierung wie Nato müssen bei allen Entscheidungen die tatsächlichen Wirkungen, möglichen Folgen und Risiken des eigenen Handelns bedenken. Ein schlechtes Gewissen, die Ukraine gegen den Aggressor Russland allein zu lassen, darf nicht ausschlaggebend sein. Auch die gestern vom ukrainischen Außenminister Kuleba in einem Gastbeitrag für die Welt geäußerte Mahnung, Deutschland lade sich im Falle, dass es keine weiteren Waffen liefere, eine „neue historische Schuld für verlorene Leben und zerstörte Städte“ auf, ist verantwortungslos und völlig inakzeptabel. Deutschland sollte sich auf die noch umfassendere humanitäre Unterstützung der Ukraine konzentrieren und Verhandlungen über einen Waffenstillstand und eine tragfähige politische Lösung des Konflikts aktiv unterstützen. Die Wiederherstellung von Frieden und Stabilität auf unserem Kontinent wird uns schwierige und verantwortungsvolle Entscheidungen abverlangen.

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