Atomkraft - Die vergessene Katastrophe

In der russischem Atom-Anlage Majak wird ein erneuter Störfall vermutet. Bereits vor 50 Jahren ereignete sich dort eine Katastrophe. Die verheerenden Ereignisse wurden verschwiegen und verdrängt. Bis heute sterben Menschen im Südural an den Folgen. Unser Reporter hat die Gegend besucht

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Gilani Dambajew vor seinem Haus; in der Nachbarschaft gibt es nur Ruinen / Ekaterina Anokhina
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Oliver Bilger arbeitet als freier Journalist in Moskau und lebt zurzeit in der Republik Moldau. Foto: privat

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Wenn Gilani Dambajew durch die Holztür seines niedrigen Backsteinhauses nach draußen tritt, dann ist da nicht viel mehr als Unkraut, Schotter und Staub. Sein Heim hat keine asphaltierte Straße, aber eine Adresse: Zentralnaja Usadba, Zentrales Gehöft, Nummer eins. Es ist das einzige Haus hier, in Musljumowo im russischen Südural – weit und breit. In der Nachbarschaft gibt es bloß Ruinen: Rechts zerfällt eine alte Klebstofffabrik. Linksherum sind nur ein paar mannshohe Mauerreste geblieben, wo einst ein ganzes Dorf stand.

Knapp 4500 Menschen lebten dort bis vor zehn Jahren. Nach ihrem Wegzug hat man die meisten Gebäude abgerissen. Der alte Lebensmittelladen steht noch: Die Fenster zugemauert, draußen rostet das Namensschild, drinnen, im Schutt, steht eine alte Auslage mit Sprung im Glas. Die hölzerne Moschee, ein paar Hundert Meter weiter über den Fluss, hat schon lange kein Gläubiger mehr betreten. Brennnesseln wuchern um das verlassene Gotteshaus. Die Dorfbewohner leben heute ein paar Kilometer weiter, in Nowo-Musljumowo. Dambajew, ein kleiner, schmaler Mann mit dunklem Schnauzbart und akkurat zurückgekämmtem Haar, der kürzlich den 62. Geburtstag feierte, wäre froh, wenn er ebenfalls umziehen könnte. Er will dafür „beweisen, dass es hier gefährlich ist“.

Die Radioaktivität am Flüsschen Tetscha liegt weit oberhalb aller vertretbaren Grenzwerte / Ekaterina Anokhina

Nur wenige Schritte, dann hat Dambajew das Gestrüpp unweit seines Hauses durchquert und ist den kleinen Hang hinunter zum Flussufer gelaufen. Vor seinen Füßen schiebt sich unter blauem Himmel die Tetscha gemächlich an Birken vorbei. An einer seichten Stelle haben früher Kinder das Flüsschen auf ihrem Schulweg durchquert. Libellen schwirren über das Gewässer. Seerosen schwimmen auf der Oberfläche. Der Wind streift raschelnd durch das Schilf am Ufer. Der Süd­ural spielt Postkartenmotiv. Nur Krankheit und Tod stören die Idylle.

Verschleierung der Gefahr

Die Gefahr ist nicht zu sehen. Sie ist nicht zu hören oder zu riechen. Doch sie lässt sich messen: Radioaktive Strahlung liegt an dieser Stelle um ein Vielfaches über dem Normalwert. Ein Aufenthalt von viereinhalb Stunden direkt am Fluss­ufer entspricht der Strahlendosis bei einer Röntgenaufnahme des Brustkorbs. Die Tetscha, das Dorf Musljumowo, die ganze Gegend um den 243 Kilometer langen Flusslauf waren oder sind noch immer betroffen. Der Zugang zum Ufer ist verboten, aber möglich. Deswegen will Dambajew weg, weit weg vom Fluss, der sein Leben und das von Zehntausenden in der Region vergiftet hat. Er und andere leben mit einem Erbe der Sowjetunion, dessen Folgen vielschichtig sind wie eine Matr­joschka-Puppe. Von den Behörden fühlen sich die Betroffenen im Stich gelassen. Und wer selbst etwas unternimmt, wird, dazu später, zum Staatsfeind erklärt.

Mitte der vierziger Jahre machte Stalin die Region unweit der Großstadt Tscheljabinsk zur Schmiede der ersten sowjetischen Atombombe. Im Chemiekombinat 817, heute als kerntechnische Anlage Majak bekannt, 80 Kilometer westlich von Musljumowo, ließ er Plutonium anreichern. Die Anlage war eines der behütetsten Geheimnisse der Sowjet­union, strenges Sperrgebiet, versteckt zwischen endlosen Birken- und Fichtenwäldern. Weder das Werk noch die Stadt für Wissenschaftler und Arbeiter waren auf einer Landkarte zu finden. Sie sollte erst viel später einen Namen bekommen: Osjorsk.

Viele Risiken, die die Arbeit zum Gedeihen der Sowjetunion mit sich brachte, nahm man indes leichtfertiger in Kauf. Immer wieder kam es zu Zwischenfällen, drei davon verdienen die Bezeichnung Katastrophe: Das Werk nutzte die Tetscha zur Kühlung – und zur Entsorgung nuklearer Abfälle. Von 1949 bis 1956 floss radioaktiver Müll in das Gewässer. Die Folgen waren Krebs- und Leukämiefälle entlang des Flusslaufs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Strahlenkrankheit, Unfruchtbarkeit und Fehlgeburten. Es war der erste schwere atomare Unfall, lange vor Tschernobyl oder Fukushima.

Der zweite geschah am 29. September 1957, einem Sonntagnachmittag, als das Kühlsystem an einem unterirdischen Tank ausfiel, in dem 80 Tonnen hochradioaktiver Abfall, zum größten Teil Caesium-137 und Strontium-90, lagerten. Zunächst verdampfte Flüssigkeit, dann führte ein kleiner Funke eines defekten Kontrollgeräts zu einer gewaltigen chemischen Explosion. Radioaktive Partikel flogen bis zu 1000 Meter hoch in die Luft und gingen auf einer Fläche von bis zu 40-mal 300 Kilometer nordöstlich der Anlage nieder. Augenzeugen, selbst Kilo­meter entfernt, erinnern sich, wie sich der Himmel rot und lila färbte. Einige glaubten, sie sähen Polarlichter, niemand wusste, was wirklich geschehen war. Mehr als 1000 Menschen in der nächsten Umgebung wurden innerhalb weniger Tage evakuiert. Weitere Tausende folgten in den nächsten Jahren. Ihre Dörfer machte man dem Erdboden gleich.

Auch folgende Generationen sind betroffen

Der dritte schwere Störfall passierte knapp zehn Jahre später, im Frühjahr 1967: Am Karatschai-See, der inzwischen als Zwischenlager genutzt wurde, trocknete in einer Dürrephase der Schlick am Ufer, starker Wind blies radioaktiv belasteten Staub ins Umland. Der Sowjetunion fiel es leicht, die Vorkommnisse vor den eigenen Bürgern über Jahrzehnte hinweg zu vertuschen, auch wenn Zehn- und Hunderttausende in der Region lebten und betroffen waren. Sie kannten nicht mehr als Erzählungen und Gerüchte. Erst mit der Perestroika sollte das ganze Ausmaß ans Licht gelangen. Im Jahr 1989 gab Moskau die Unfälle zu. Heute, fünf, sechs und sieben Jahrzehnte später, sind die Ereignisse selbst in Russland weitgehend aus dem Gedächtnis verschwunden, während die Betroffenen weiter mit den Folgen kämpfen. Die Überlebenden von Majak sind die Vergessenen im Ural.

Ein verblichenes Schild soll vor Radioaktivität warnen – viel bringt es nicht / Ekaterina Anokhina

Farida Sulejmanowa kann sich noch gut an die Explosion im Herbst 1957 erinnern. Die radioaktive Wolke zog direkt über die Holzhäuser mit dem barock-verspielten Fensterdekor ihres Heimatdorfs Karabolka hinweg. Wenige Tage zuvor war Sulejmanowa in die vierte Schulklasse gekommen, doch statt Mathematik oder Russisch zu pauken, musste sie plötzlich mit anderen Kindern zur Feldarbeit antreten. Die Schüler gruben Kartoffeln aus und luden sie auf einen Traktor, der sie vernichtete. „Wir arbeiteten in Schichten, trugen keine Handschuhe und Polizisten kontrollierten uns“, erinnert sich Sulejmanowa, die im rot gemusterten Kleid mit buntem Kopftuch im kleinen Wohnzimmer ihres Holzhauses sitzt. Die schwarzen Haare und die wachen Augen lassen sie jünger erscheinen als 70 Jahre. Weil auch in Karabolka niemand erklärte, was geschehen war, aßen einige Kinder heimlich die Kartoffeln. Vier Wochen lang dauerte die seltsame Ernte der Kinder-Liquidatoren. „Alles, was danach mit uns geschehen ist“, konstatiert Sulejmanowa, die als Mathelehrerin in der Dorfschule unterrichtet, „ist die Folge dieser Arbeit.“

Die zierliche Frau wuchs mit sieben Geschwistern auf. Nur die Hälfte ist noch am Leben: Hautkrebs, Nierenkrebs, Bluthochdruck, Diabetes. Auch folgende Generationen sind betroffen. Der jüngste Todesfall in Sulejmanowas Familie ist nur wenige Wochen her: Schwiegertochter Oxana, 38 Jahre alt, geboren und aufgewachsen in Osjorsk, der Majak-Stadt. Todesursache: Magenkrebs. Das Werk ist nach wie vor in Betrieb, zu zivilen, aber auch militärischen Zwecken. Die Verstorbene hinterlässt zwei Töchter. Die Ältere bekam eine Woche nach dem Tod der Mutter das Uni-Diplom überreicht. Die Jüngere, zwölf Jahre alt, wollte von ihrer Oma wissen: „Wie kann man ohne Mutter leben?“ Sulejmanowas Stimme stockt, als sie davon erzählt, sie wischt sich die Augen trocken: „Es war ein Schock.“

Das Majak hat Unglück über die Mensche gebracht

Sulejmanowa ist ebenfalls krank, hinter ihren Augen „wächst etwas“, und niemand kann sicher sagen, was es ist. Seit Jahren ist sie regelmäßige Patientin bei Onkologen in Tscheljabinsk. Die Ärzte sind unschlüssig, ob sie operieren sollen. Sulejmanowa leert ihre Handtasche mit Pillen auf den Tisch im Wohnzimmer. Sie hofft, dass die Medikamente ihr helfen. Ärzte hatten schon vor einigen Jahren ein Melanom am linken Oberarm operiert. 23 Nadelstiche erinnern Sulejmanowa daran. „Viele Menschen im Dorf sterben“, sagt sie, „es ist schrecklich zu zählen.“

Das Majak hat Unglück über die Menschen gebracht und sie dann mit ihrem Schicksal alleine gelassen. Galina Ustinowa musste vor wenigen Jahren einen Tumor in einer Nebenniere wegschneiden lassen. Doch die 63-Jährige mit den graublonden Locken ist trotz der Umstände – oder vielleicht gerade ihretwegen – eine resolute Frau, die in bestimmendem Ton spricht. Nur den kräftigen Körper muss sie auf einen Gehstock stützen, jeder Schritt durch den Raum mit dem großen Wandteppich, der Ess-, Wohn- und Schlafzimmer zugleich ist, schmerzt. Die Unterschenkel sind bandagiert, die Verbände verbergen Geschwüre. Auf dem Tisch steht ein Messgerät, um den Blutdruck zu kontrollieren.

Farida Sulejmanowa kann sich noch gut an die Explosion im Herbst 1957 erinnern / Ekaterina Anokhina

Ustinowas Eltern kamen nach dem Zweiten Weltkrieg aus Belarus in den Ural. In ihrer Heimat sei es ärmlich und schmutzig gewesen, erzählt sie, „hier waren die Wälder schön und romantisch. Hier wollten sie eine Familie gründen.“ Der Südural ist die Region Tausender Seen und Sümpfe. Erst die Sowjetunion machte sie zugleich zur Region der tausend Schornsteine. Die Umweltbelastung ist hoch, selbst ohne Majak. 1954 kam Ustinowa zur Welt, in Nadyrow Most, einem jener Dörfer, die man rasch nach der Tetscha-Verseuchung räumte. Das Elternhaus stand nah am Ufer, also badeten die Eltern ihre Tochter im Fluss, wuschen die Kleidung der kleinen Galina im Wasser, andere Dorfbewohner schwammen in der Tetscha. Die Mutter starb mit 57 Jahren an Krebs, der Vater mit 62. Das Backsteinhäuschen, in dem sie gemeinsam mit Ehemann und Tochter lebt, steht hinter einem leuchtend grün gestrichenen Tor in der Stadt Kyschtym, die den Fallout von 1967 abbekam. Vor dem Haus wachsen Tomaten, Gurken, Kartoffeln, Äpfel, Kirschen und was die Familie sonst noch braucht, um als Selbstversorger über die Runden zu kommen. Der Großteil ihrer Rente, das wird Ustinowa noch erzählen, geht für Medikamente drauf.

Jahre des Wartens auf Hilfe

Ustinowa, Sulejmanowa, Dambajew: drei Menschen von Tausenden in der Region, die ein Schicksal teilen. „Wir hatten keine Ahnung, niemand hat den Leuten erklärt, was Radioaktivität ist“, sagt Dambajew. Manchmal sei die Polizei gekommen und habe den Menschen verboten, im Fluss zu schwimmen. Warum, erklärten die Behörden nicht. Einmal im Jahr sammelten Polizisten die Bewohner von Musljumowo ein und brachten sie in Bussen in eine Klinik nach Tscheljabinsk. Dort untersuchten Ärzte die Menschen und nahmen Blutproben. Wenn die Untersuchten fragten, was es mit der Prozedur auf sich habe, bekamen sie meist nur eine vage Antwort: Prophylaxe. Wofür? Keine Antwort. Die Ärzte durften nichts sagen, andernfalls drohten Strafen. Starb ein Patient, gaben die Mediziner oft Herzprobleme als Todesursache an. Von Krebs war in offiziellen Dokumenten keine Rede. Im Krankenhaus aber untersuchten Forscher die Auswirkungen niedriger Strahlendosis, denen die Bürger von Musljumowo heimlich ausgesetzt waren. Es ist der einzige Ort auf der Welt, an dem sich die Auswirkungen radioaktiver Stoffe über Jahrzehnte in diesem Umfang erforschen lassen. Für die Wissenschaft ist das ein Gewinn, während sich Dambajew und andere wie Versuchskaninchen fühlen.

Das hölzerne Haus von Farida Sulejmanowa in der Ortschaft Karabolka / Ekaterina Anokhina

Als 1993 der russische Präsident nach Musljumowo kam, versprach er die Verlegung des Ortes. „Erst da erfuhren wir, dass die Tetscha kontaminiert war“, erinnert sich Dambajew. Er weiß noch genau, wo die Dorfbewohner damals Tische für den Auftritt von Boris Jelzin aufstellten, nicht weit von Dambajews Haus, den Ort kann er aus dem Fenster sehen: in der Uliza Tichina, der Straße der Stille. Damals war das Schweigen rund ums Majak gerade durchbrochen. Die Sowjetunion habe die Menschen ignoriert, das neue Russland sollte für sie da sein, versprach Jelzin. Es folgten Jahre des Wartens. Präsidenten wechselten, Dambajew blieb in Musljumowo. Die meiste Aufklärung leistete derweil nicht der Staat. Stattdessen, so Dambajew, „hat Nadja unsere Augen geöffnet“.

Nadeschda Kutepowa, von Freunden Nadja genannt, Jahrgang 1972, grazile Gestalt, das halblange Haar blondiert, stammt aus Osjorsk, ihre Familiengeschichte ist eng mit dem Majak verbunden: Ihre Mutter behandelte als Ärztin die Arbeiter, der Vater war Liquidator nach der Explosion. Er erlag dem Krebs, als Kutepowa 14 Jahre alt war. Als Aktivistin setzt sich Kutepowa für jene Menschen ein, die unter der Atomfabrik leiden. 1999 gründete sie die Organisation Planet der Hoffnung und half Betroffenen der Unfälle, gegenüber den Behörden Zusammenhänge von Radioaktivität und Gesundheitsschäden zu belegen. Kutepowa klärte über Rechte auf, um Entschädigung vom Staat verlangen zu können. Selbst wenn die Menschen nicht viel bekommen, so ist die Kompensation eine Genugtuung für sie. „Es war nicht einfach ein Job für mich“, beschreibt Kutepowa ihre Arbeit, „es war meine Mission.“

Als Staatsfeind denunziert

Was Kutepowa tat, gab den Menschen Hoffnung, doch es missfiel den Behörden. Die seien daran interessiert, sagt Kutepowa, dass das Werk ungehindert arbeiten könne – wobei es weiterhin die Umwelt belaste. Planet der Hoffnung habe unwillkommene Aufmerksamkeit für die Unglücke erzeugt. In Russland findet zivilgesellschaftliches Engagement oft wenig Zuspruch von offizieller Seite, der Staat fürchtet, eine starke Bürgerschaft könnte zur Erosion der bestehenden Machtverteilung führen. Weil Kutepowas Organisation Spenden aus dem Ausland annahm, erklärten die Behörden sie zu einem „ausländischen Agenten“ – ein Weg, unliebsame Initiativen zu stigmatisieren. Die staatlichen Stellen hätten in ihrer Arbeit eine „Gefahr für die Sicherheit Russlands“ gesehen, sagt Kutepowa. Ein Gericht verurteilte sie zu einer Geldstrafe von umgerechnet knapp 4500 Euro. Gleichzeitig behauptete das Staatsfernsehen, Kutepowa betreibe Industriespionage. Aus Angst vor Strafverfolgung floh die 45-Jährige im Sommer 2015 nach Paris, wo sie Asyl erhielt. Von dort setzt sie ihre Arbeit fort, so gut es geht. Ihr Ziel: „Majak schließen“.

 

Die Unterschenkel von Galina Ustinowa sind wegen Geschwüren ständig bandagiert / Ekaterina Anokhina

Kutepowas Engagement ist weiter nötig. Zwar gibt es ein kontrolliertes Territorium um Osjorsk. Weiter außerhalb, entlang der Tetscha, gibt es jedoch große Lücken in alten Stacheldrahtzäunen, Warnschilder sind verblichen, weite Strecken des Flusslaufs leicht zugänglich. Schichten des Ufers wurden zwar einst abgetragen und Steine aufgeschüttet, damit Vieh nicht mehr am Fluss weidet. Wie so viele Maßnahmen erfolgte dies jedoch nachlässig oder blieb wirkungslos. Anwohner sammeln Beeren und Pilze am Ufer, sie angeln – auch wenn das offiziell verboten ist – weiterhin im Fluss. Nur ein Sarkophag wie in Tschernobyl könnte den Zugang effektiv stoppen, sagen Umweltschützer. Doch ist eine solche Maßnahme so realistisch wie ein plötzlicher Kurswechsel im Kreml.

Rosatom, jener Staatskonzern, der aus dem Atomministerium der Sow­jetunion hervorging und unter dessen Kontrolle das Majak-Werk heute steht, erklärt, seit 1956 seien keine Abfälle mehr in die Tetscha geleitet worden. Die Umsiedlung der Bürger von Musljumowo sei freiwillig erfolgt, da dort die offiziell zulässige Strahlendosis nicht überstiegen werde. Dies sei nur bei „bewussten Verletzungen der festgelegten Bedingungen für den Gebrauch der Tetscha“ möglich, teilt das Unternehmen auf Anfrage mit. Tatsächlich ist die Strahlung heute an vielen Stellen geringer. Für all jene, die seit Jahrzehnten die Region ihre Heimat nennen, ist das nur ein schwacher Trost. Etwa 25 000 gelten heute als Betroffene. Viele haben sich mit ihrem Schicksal arrangiert. Andere, wie Dambajew, Sulej­manowa und Ustinowa, kämpfen. Für eine Umsiedlung, für eine Wohnung, bessere medizinische Hilfe, für die Anerkennung als Strahlenopfer und höhere Kompensationen.

Galina Ustinowa in ihrem Haus. Den Großteil ihrer Rente benötigt sie für Medikamente / Ekaterina Anokhina

„Wir wurden von Rosatom betrogen“, klagt Dambajew, weil er und seine Familie nicht umgesiedelt wurden. Als der Umzug vor zehn Jahren begann, konnte Dambajew wählen: zwischen einem Haus in Nowo-Musljumowo oder der Zahlung von einer Million Rubel pro Wohnung. Für sein Haus stünden ihm allerdings zwei Millionen zu, sagt Dambajew, weil es aus zwei Wohnungen besteht. Er lebt darin mit seiner Frau, die fünf gemeinsamen Kinder sind inzwischen ausgezogen und wohnen in Tscheljabinsk. Der Rentner hat ein Auto gekauft, damit er Lebensmittel und Wasser kaufen kann für das Leben in der Einöde. In der Küche lagern Dutzende Wasserkanister.

Kein klarer Beleg, kein Grund für Kompensation

Dambajew kam in den achtziger Jahren aus Tschetschenien nach Musljumo­wo. Eigentlich ist er ausgebildeter Tänzer, wie man noch leicht an seinem durchgedrückten Rücken erahnen kann. In den Ural verschlug ihn eine andere Arbeit: Er baute Betriebsgebäude der Kolchosen. Aus der kleinen Anrichte neben dem Bett kramt Dambajew Dokumente hervor. Auf einer ganzen Seite sind die gesundheitlichen Folgen seines Lebens an der kontaminierten Tetscha aufgelistet. Ein Bluttest, den er vor drei Jahren in einer Spezialklinik machen ließ, weist um das Achtfache erhöhte Strahlenwerte auf. Eine weitere, offizielle Untersuchung führte hingegen zum Ergebnis, dass seine Strahlendosis zwar höher, dies jedoch nicht eindeutig auf das Leben an der Tetscha zurückzuführen sei. Stattdessen könne sie ebenso die Folge medizinischer Untersuchungen und Behandlungen in den vergangenen Jahren sein. Demnach gebe es keinen klaren Beleg und somit keinen Grund für Kompensation. „Ich bin ein Mensch, ich habe Rechte“, erwidert Dambajew und fordert die Anerkennung als Strahlenopfer. Um die Million Rubel geht es ihm nicht. „Gebt mir eine Wohnung in Tscheljabinsk“, verlangt er.

Weil die medizinische Versorgung in der Stadt besser ist als im Dorf, träumt auch Sulejmanowa von einer Wohnung – in Osjorsk, wo ihr Sohn und die Enkel­töchter leben. Die Umweltbelastung in unmittelbarer Nähe zum Majak? Die ist ihr inzwischen egal. „Ich will bei meinen Kindern sein“, erklärt Sulejmanowa, doch hat sie nur noch wenig Hoffnung. 1996 ist sie erstmals vor Gericht gezogen, seitdem weist sie ein kleiner Ausweis aus fester Pappe als Liquidatorin aus. Mit dem hätte sie Anspruch auf eine Wohnung. Sie hat dafür Dokumente an die Behörden in Osjorsk geschickt, aber keine Wohnung bekommen, und auch ihre Dokumente noch nicht zurück. Sulejmanowa fürchtet, dass korrupte Beamte die Wohnung, die ihr zustehen müsste, unter der Hand an jemand anderen vergeben haben. Schon in einem ersten Anlauf vor Gericht lehnten die Behörden ihr Gesuch ab. Ihr Hof am Dorfrand habe mehr Wohnfläche als üblich, hieß es. Ihr Haus sei ein Palast, habe man ihr erklärt, berichtet Sulej­manowa. Ein Palast mit Hühnerstall und Plumpsklo neben dem Gemüsegarten.

Kühe weiden auf einer Wiese nahe der Ortschaft Musljumowo / Ekaterina Anokhina

Als Moskau vor zehn Jahren die Entschädigungen erhöhte, ging Galina Ustinowa in Kyschtym leer aus. Wieso, kann sie nicht sagen. Womöglich hätten sich zu viele Menschen um das Geld beworben. Vielleicht habe sie einfach zu spät davon erfahren. Viele Informationen machen noch immer langsam die Runde, erreichen die Menschen zu spät oder gar nicht. Gemeinsam mit anderen Betroffenen hat sie vor Jahren eine kleine Ini­tiative gegründet. „Ich bin krank, aber jemand muss sich kümmern“, findet sie. Es geht um 2500 Rubel pro Monat, umgerechnet 35 Euro, die damals verfügt wurden für jene, die den offiziellen Status als Strahlenopfer erhielten. Ustinowa hat diesen zwar, aber sie bekommt gerade einmal 500 Rubel – knapp sieben Euro. Was sie damit anfangen kann? „Nichts“, ruft Ustinowa verärgert, „Medikamente sind teuer!“

Nichts ändert sich?

In einer nahen Poliklinik könne sie zwar umsonst Arzneimittel bekommen, doch das sei „billige, schlechte Medizin, die nicht hilft“. Präparate, die wirken, kosten indes viel Geld. Ustinowa benötigt Pillen für ihr Herz, Wundsalbe, Verbandszeug und Infusionen für die Beine. Zusammen kommt sie auf Ausgaben von 10 000 Rubel im Monat. 15 000 Rubel beträgt ihre Rente, die sie als ehemalige Filmvorführerin im örtlichen Kino erhält. Es ist etwas mehr als üblich, nachdem sie zwei Schlaganfälle erlitten hat. Von ihrem Mann kommen 13 000 Rubel Rente hinzu, der 40 Jahre als Lastwagenfahrer arbeitete und sich heute in einem Holzwerk etwas hinzuverdient.

Während Unmut in Ustinowa aufsteigt, muss sie an die Bodenschätze denken, die reichlich in der russischen Erde schlummern, und sie wundert sich, warum „im reichsten Land der Welt die Menschen in Armut leben“. Für sie gibt es nur einen Schluss: „Ich mag meinen Staat nicht“, sagt sie. Da platzt, aus der Küche, Tochter Julia ins Gespräch, eine Frau mit weichen Gesichtszügen und starken Armen, und ermahnt ihre Mutter: So etwas dürfe sie nicht sagen. „Man muss sein Vaterland lieben“, findet sie. In jedem Land gebe es Armut, lautet ihre Argumentation, der Staat sei doch nicht verantwortlich für Gesundheit und Krankheit. Kurz entbrennt ein Streit. Russen werden immer in Armut leben, glaubt die Tochter. Nichts werde sich ändern. „Andere Staaten entschädigen ihre Opfer“, erwidert Ustinowa und fordert ein Gesetz, das ihre Ansprüche garantiert. Sie will den Umgang ihres Staates mit den Majak-Opfern nicht einfach hinnehmen. „Ich weiß nicht, wieso ich einen Staat lieben soll, der uns vergiftet.“

Dies ist ein Artikel aus der Dezember-Ausgabe des Cicero, erhältlich am Kiosk oder in unserem Onlineshop.












 

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