Armenien und Aserbaidschan kämpfen um Bergkarabach - Flächenbrand am Kaukasus?

Hunderte Tote, bombardierte Städte, Generalmobilmachung auf beiden Seiten: Der Territorial-Disput um Bergkarabach zwischen Armenien und Aserbaidschan ist eskaliert. Wie konnte das geschehen?

Unter Beschuss: Die Feuerwehr löscht einen Brand in einem aserbaidschanischen Haus / dpa
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Florian Bayer studierte Journalismus, Globalgeschichte und Philosophie an den Universitäten Wien, Krakau und Antwerpen. Zu seinen Schwerpunkten zählen Europapolitik, Menschenrechte und Zivilgesellschaft – insbesondere in Mittel- und Osteuropa.

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Jahrelang wurde um Frieden im wohl gefährlichsten Konflikt am Südkaukasus gerungen, doch dann ging alles ganz schnell: Am Morgen des 27. September heulen die Sirenen, als in mehreren Dörfern und Siedlungen in Bergkarabach die Artillerie einschlägt. Zerbombte Häuser, schreiende Menschen, Verletzte und Tote. Der oftmals als „eingefroren“ bezeichnete Konflikt ist mit einem Schlag wieder aufgetaut. Wer an diesem Sonntagmorgen zuerst schoss, ist unklar: Aserbaidschan behauptet, dass seine Stellungen vom armenischen Militär attackiert wurden, die Regionalregierung in Bergkarabach spricht von einem Erstschlag Aserbaidschans. 

Die Türkei gießt Öl ins Feuer

Fest steht, dass sich der Konflikt binnen weniger Tage so stark aufgeschaukelt hat wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Raketen, Drohnenangriffe und wohl auch Splitterbomben trafen Schulen, Spitäler, Wohnhäuser nicht nur in Bergkarabach, sondern auch in Ganja, der zweitgrößten Stadt Aserbaidschans, mehr als 100 Kilometer entfernt. Die Zahl der Toten geht längst in die Hunderte, von Tag zu Tag scheint eine Rückkehr an den Verhandlungstisch unwahrscheinlicher. Dazu kommt die geopolitische Komponente – die Türkei gießt fast täglich weiteres Öl ins Feuer und macht keinen Hehl daraus, den muslimischen „Bruderstaat“ Aserbaidschan zu unterstützen, komme was wolle. Plausiblen Berichten zufolge hat die Türkei syrische Söldner angeworben, die in Bergkarabach kämpfen – das wäre eine neue Qualität in diesem jahrzehntelangen Konflikt. 

Die Rolle der Sowjetunion

Worum geht es? Bergkarabach, mit 4392 Quadratkilometern knapp doppelt so groß wie das Saarland, wird sowohl von Armenien wie auch Aserbaidschan beansprucht, und zwar seit mehr als 100 Jahren. Nach dem Zerfall des russischen Zarenreichs 1917 kam es zur Gründung der Republiken Armenien und Aserbaidschan, die beide Anspruch auf Bergkarabach erhoben, bevor sie 1922 in der Sowjetunion aufgingen. Kein geringerer als Josef Stalin traf die folgenschwere Entscheidung, Bergkarabach trotz mehrheitlich armenischer Bevölkerung der Sowjetrepublik Aserbaidschan zuzusprechen. Zwar als autonome Oblast, aber gegen den Willen der armenischen Mehrheitsbevölkerung. 
Zu Zeiten der Sowjetunion blieb der Deckel auf dem Konflikt. Erst Anfang der 1990er kochte er wieder hoch, als blutige Proteste, Pogrome und Kampfhandlungen paramilitärischer Milizen ausbrachen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion rief sich Bergkarabach als autonome Republik aus, was Aserbaidschan mit einer Kriegserklärung quittierte. Im Krieg (1992-1994) verloren mehr als 30.000 Soldaten und Zivilisten ihr Leben, mehr als eine Million – überwiegend Aseris – wurde vertrieben. Armenien war militärisch überlegen und besetzte Bergkarabach sowie sieben benachbarte Provinzen, die nun als eine Art Puffer fungieren. Insgesamt hält Armenien mehr als 13.000 Quadratkilometer besetzt, fast ein Sechstel der Fläche Aserbaidschans. 

Territoriale Integrität vs. Recht auf Selbstbestimmung

Während Baku also auf seine territoriale Integrität pocht und bei der Grenzziehung das Völkerrecht und mehrere UN-Resolutionen auf seiner Seite hat, argumentiert Armenien mit dem Recht auf Selbstbestimmung der lokalen Bevölkerung. Tatsächlich bestätigen mehrere Volksabstimmungen den Wunsch der Bevölkerung nach einer Unabhängigkeit vom muslimischen Nachbarn Aserbaidschan. Das ist auch wenig verwunderlich, denn heute sind rund 99 Prozent der 150.000 Bewohner Bergkarabachs christliche Armenier. International ist die selbsternannte Republik Bergkarabach jedenfalls nicht anerkannt, nicht einmal von Armenien selbst, welches langfristig eine weitreichendere Lösung – die Integration ins eigene Land – anstrebt. 

Weil keine Seite zurückstecken wollte, kam der 1992 begonnene Minsk-Friedensprozess der OSZE unter dem Vorsitz der USA, Frankreich und Russland bald ins Stocken. Nach der „samtenen“ Revolution in den Straßen Jerewans, dem friedlichen Machtwechsel und den ersten freien Wahlen 2018 gab es zwar Hoffnung auf eine Annäherung. Der armenische Premier Nikol Paschinjan suchte anfänglich den Dialog zu Baku und hat eine Lösung versprochen. Ab dem Frühjahr 2019 wurde sein Ton aber schärfer: „Karabach ist Armenien. Punkt.“ Es dauerte nicht lang, bis der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliyev konterte: „Karabach ist Aserbaidschan. Ausrufezeichen!“ 

Lösung in weiter Ferne

„Das Hochkochen des Konflikts ist ernst, überraschend kommt es aber nicht. Der Friedensprozess konnte in all den Jahren keine Fortschritte erzielen, was große Frustration vor allem auf Seiten Aserbaidschans mit sich brachte“, sagt Elkhan Nuriyev, aserbaidschanischer Politikwissenschaftler und Fellow an der Universität Leipzig. Derzeit scheint eine Lösung in weiter Ferne, eine solche müsse die territoriale Integrität, nationale Interessen sowie die jeweilige Geschichte beider Staaten berücksichtigen, sagt Nuriyev. 

Gerade im Bereich der Geschichte wird es aber kompliziert, denn beide Konfliktparteien neigen zur selektiven Wahrnehmung. Im Februar 1992 etwa kam es zum schlimmsten Pogrom, als armenische Soldaten mindestens 200 fliehende Aseris töteten. Darauf angesprochen tut das Premier Paschinjan als Propaganda ab. Ähnliche Beispiele gibt es auch mit umgekehrter Opfer-Täter-Konstellation. Wie überhaupt der gesamte Konflikt von Propaganda, dem Missbrauch historischer Traumata und wechselseitigen Vorwürfen geprägt ist. Eine nach wie vor offene Wunde ist der 100 Jahre zurückliegende Genozid der Türkei an 1,5 Millionen Armeniern, den die türkische Führung nach wie vor abstreitet. Paschinjan stellt eine mögliche Wiederholung des Völkermords und eine neue Türkenbelagerung Wiens in den Raum, wenn den türkischen „Großmachtfantasien“ nicht Einhalt gebeten werde. 

„Putin wartet noch ab“

Offen ist noch, welche Rolle Russland einnehmen wird, das sich aus Sicht vieler Beobachter bislang überraschend passiv verhielt. Russland ist seit jeher wichtigster Verbündeter und historische Schutzmacht Armeniens, hat aber auch Aserbaidschan jahrelang mit Waffen beliefert. Erst gestern forderte Russlands Außenminister Sergei Lawrow neuerlich einen sofortigen Stopp der Kampfhandlungen. In einer gemeinsamen Erklärung mit den Außenministern von Frankreich und den USA nannte er die Gewalt eine „inakzeptable Bedrohung für die Stabilität der gesamten Region.“ 

„Derzeit wartet Putin noch ab. Es kann gut sein, dass er bald die russische Friedensdiplomatie anbietet, Truppen zur Friedenssicherung schickt und dadurch den Einfluss Russlands in der Region stark erhöht“, sagt Politologe Nuriyev. Bereits seit den 1940ern hat Russland eine große Militärbasis in Gjumri im Nordwesten Armeniens, wo derzeit rund 3.000 Soldaten stationiert sind. Sie sind normalerweise unter anderem mit der Sicherung der Grenze zur Türkei und zum Iran betraut und könnten im Fall des Falls rasch mobilisiert und nach Bergkarabach verlegt werden. 

Flächenbrand am Pulverfass Südkaukasus

Armenischen Angaben zufolge hat Putin Paschinjan telefonisch seine Unterstützung zugesichert, sollte sich der Konflikt weiter verschärfen. An einer solchen Eskalation kann freilich niemand Interesse haben, denn die Folge wäre ein Stellvertreterkrieg zwischen zwei hoch militarisierten Regionalmächten mit diametral entgegengesetzten Interessen. Doch selbst wenn sich die Türkei und Russland zurückhalten und ihre Verbündeten „nur“ mit Material unterstützen, droht ein Flächenbrand am Pulverfass Südkaukasus. Bereits jetzt zählen Armenien und Aserbaidschan, relativ zur Bevölkerungszahl, zu den zehn militärisch höchstgerüsteten Staaten der Welt. 

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