Zehn Jahre Arabischer Frühling - Der arabische Dominoeffekt

Vor zehn Jahren begann der „Arabische Frühling“. Der französische Soziologe Gilles Kepel schildert, wie es zu den Protesten kommen konnte, wie sie schließlich einem unheilvollen salafistischen Rückschritt wichen und so bis heute nachwirken.

Proteste in Tunesien im Jahr 2011 / dpa
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Autoreninfo

Gilles Kepel wurde 1955 in Paris geboren und studierte Soziologie, Anglistik und Arabistik. Er gilt als einer der bedeutendsten Soziologen Frankreichs und renommierter Kenner der arabischen Welt sowie des politischen Islam und des radikalen Islamismus.

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Vor zehn Jahren verbrannte sich der tunesische Obst- und Gemüsehändler Tarek Bouazizi und löste damit jene Ereigniskette aus, die als Arabischer Frühling Geschichte schrieb. In seinem 2019 erschienenem Buch Chaos schildert der französische Soziologe und Arabist Gilles Kepel die damaligen Ereignisse und analysiert deren Folgen bis in die Gegenwart. Aus Anlas des zehnten Jahrestags der Selbstverbrennung Bouazizis veröffentlicht der Cicero noch einmal die Einleitung aus Kepels Buch.

Chaos

Nach einer Auseinandersetzung mit der örtlichen Polizei setzte sich am 17. Dezember 2010 der 26-jährige Tarek (Mohamed) Bouazizi in der tunesischen Provinzstadt Sidi Bouzid, im gleichnamigen Gouvernement, selbst in Brand. Dieses menschliche Drama war – auch wenn es in dieser Zeit eine Reihe ähnlicher Vorfälle in ganz Nordafrika gab – der entscheidende Funke für den Ausbruch einer fächendeckenden Feuersbrunst, die wir unter dem Euphemismus des Arabischen Frühlings kennen. Im darauffolgenden Jahr wurden die Regime zwischen Tunesien und Bahrain, darunter Libyen, Ägypten, der Jemen und Syrien, entweder entmachtet oder durch Gewaltausbrüche so stark erschüttert, dass dies in einigen Fällen zu Bürgerkriegen führte. Darüber hinaus waren alle weiteren arabischen Staaten – direkt oder indirekt – von Aufständen in unterschiedlicher Hetfigkeit berührt. Sie reagierten zumeist mit politischen oder finanziellen Maßnahmen, einige unterdrückten die Unruhen auch mit Waffengewalt.

Viele Medien und zahlreiche Nichtregierungsorganisationen erhoffen sich in ihrer Begeisterung über die entscheidend von sozialen Netzwerken geprägte »Revolution 2.0« eine Demokratisierung der Gesellschafen jenseits von Diktatur und Dschihadismus. Die Bewegung nahm jedoch rasch eine andere Wendung, und auf den Smartphone-Bildschirmen wurden die tiefen Risse der Gesellschafen sichtbar, die man doch zu stopfen gehof hatte. Die gebildete Jugend der städtischen Mittelschicht wurde in den Monaten nach Ausbruch der Unruhen, und erst recht nach dem Sturz der Despoten, der Lage nicht mehr Herr, denn der Umsturz der bisherigen Ordnung setzte innere und regionale Kräfte sowie deutlich ältere Machtstrukturen frei. In den meisten Fällen übernahmen mit den Muslimbrüdern verbundene islamistische Parteien die Führung der Revolte, die sie selbst gar nicht ausgelöst hatten, und zwar durch Wahlen, sofern solche stattfanden, durch Massenkundgebungen nach dem Freitagsgebet oder durch Feuergefechte mit Polizei oder Armee. Begleitet wurde diese Entwicklung durch das von Katar finanzierte und kontrollierte Satellitenprogramm Al Jazeera: Jeder arabische Haushalt konnte live die wichtigsten und symbolträchtigsten Momente der »Revolutionen« miterleben, nicht zuletzt das Happening der 18-tägigen Besetzung des Tahrir-Platzes in Kairo, die am 11. Februar erfolgreich mit der Abdankung Mubaraks endete. Al Jazeera machte nicht die säkulare Jugend, sondern die Vertreter der Muslimbruderschaf zu Medienfiguren und Anführern der Bewegung. Diese »Bruderisierung der Revolution« sollte die möglicherweise auftretenden Exzesse kanalisieren, indem man bevorzugt den frommen Klassen der Mittelschicht die Zukunft der Region anvertraute. Die Achse Türkei-Katar war Vermittler dieser Deutung und profttierte von der Zustimmung Washingtons: Für Präsident Obama bildeten Erdoğan und seine zugleich auf muslimischen Werten und kapitalistischer Überzeugung beruhende AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) ein nachahmenswertes Beispiel für die zukünftige Entwicklung.

Um dieser »Brüder«-Achse, die die revolutionäre Dynamik zu ihrem eigenen Vorteil nutzte, etwas entgegenzusetzen, entwickelte sich im sunnitischen Raum eine Offensive, an der sich unter Führung Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate auch die anderen Ölmonarchien der arabischen Halbinsel als Speerspitze und Financiers beteiligten. Diese Gegenrevolution stützte sich auf militärische Hierarchien – die vor allem in Ägypten im Sommer 2013 die Rückeroberung der Macht durch den General as-Sisi ermöglichte – und zugleich auf eine große salafstische Bewegung in den Stadtvierteln der Benachteiligten. Sie profttierte von Riads Patronat, gab Unsummen an Petrodollars aus und konkurrierte mit den Muslimbrüdern um die Kontrolle des islamistischen Raums. Allerdings war diese Gegenrevolution dem saudischen Regime keineswegs unerschütterlich treu ergeben, und auch die Durchlässigkeit dieser Gruppen für dschihadistische Ansichten sorgte für Probleme. Das Verhältnis zwischen beiden Seiten verkomplizierte sich ab 2015 zusätzlich durch den Aufstieg des Prinzen Mohammed bin Salman al-Saud, denn dieser steht dem wahhabitischen Establishment im saudischen Königreich eher distanziert gegenüber – ein unbeabsichtigter, aber durchaus wichtiger Nebenaspekt des Arabischen Frühlings. Die sunnitische Einheit zerbrach über der Uneinigkeit, ob man den Muslimbrüdern nun feindlich oder freundlich gegenüberstehen sollte, und diese interne postrevolutionäre Aufspaltung begünstigte den konfessionellen Überbietungswettbewerb. In dessen Folge erstarkte der Terrorismus erneut, den die demokratischen Erhebungen für eine gewisse Zeit unterdrückt hatten. Ab 2012 prägten die Strategien des »Dschihadismus der dritten Generation« den Terrorismus, und Attentate in den islamischen Ländern des Mittelmeerraums, im Mittleren Osten und der Sahelzone, aber auch in Europa nahmen zu – ganz auf der von den beiden Mentoren dieses Dschihad vorgegebenen Linie, den beiden »Abu Musabs« asSuri und az-Zarqawi. 

So vertiefe sich der Antagonismus zwischen Sunniten und Schiiten im Nahen und Mittleren Osten: Die Aufstände in Bahrain, Syrien und im Jemen wurden für diesen Konflikt instrumentalisiert, bei dem sich der Iran den arabischen Ölmonarchien im Kampf um die Vorherrschaft auf dem Erdölmarkt und um die Zukunft der Levante entgegenstellte. Die arabischen Ölstaaten fassten die Unruhen in Bahrain auf Anhieb als Aufstand der schiitischen Bevölkerungsmehrheit gegen die sunnitische Herrscherdynastie auf: Der Golf-Kooperationsrat (GKR) intervenierte folglich am 14. März 2011 militärisch und schlug die Unruhen nieder – zu einem Zeitpunkt, an dem der GKR noch einmütig handelte und von dem Bruch zwischen Katar und den anderen Mitgliedsstaaten, der 2017 erfolgen sollte, noch nichts zu spüren war. In Syrien wiederum stützte sich Präsident Baschar al-Assad auf die alawitische Minderheit des Landes und wurde mit offenen Armen von Teheran und dessen Vertrauten empfangen. Die im März 2011 beginnenden Aufstände gründeten sich anfangs auf allgemeingültige Forderungen, bekamen dann aber starke sunnitische, später islamistische und dschihadistische Schwerpunkte und wurden vom Assad-Regime, auch mit tatkräftiger Unterstützung aus Moskau, bekämpf. Die iranisch-russische Allianz überwand mit ihrer militärischen Stärke vor Ort im Winter 2017/2018 die zunächst vom Westen ermutigten und von den Ölmonarchien finanzierten Widerständler, deren Außendarstellung aber vom sogenannten »Islamischen Staat« vollständig vereinnahmt worden war. Auch im Jemen begann die Erhebung als Aufstand für mehr Demokratie, bei dem traditionelle Elemente der Volksstämme und regionale Besonderheiten eine Rolle spielten, entwickelte sich dann allerdings zu einer konfessionellen Spaltung, die auf der einen Seite von alQaida und auf der anderen Seite von den Huthi-Rebellen geschürt wurde.

Dass sich diese Bruchlinie zwischen den beiden wichtigsten Richtungen des Islam vertiefe, führte im sunnitischen Lager zu einer verstärkten »Salafsierung«, denn die Anhänger dieser Doktrin waren es, die schon lange den Bruch mit den schiitischen »Häretikern« (rafdha) gefordert hatten – und in letzter Konsequenz gar deren Vernichtung durch einen Dschihad herbeisehnten. Auf irakischem Boden – dort, wo die amerikanische Besatzung zwischen 2003 und 2011 paradoxerweise zur Machtübernahme von Teheran-freundlichen schiitischen Parteien geführt hatte, dem Erzfeind Washingtons – zeigte sich dieser Antagonismus zum ersten Mal in Form von Massakern, verübt von Anhängern des Salafsmus auf Veranlassung von Abu Musab az-Zarqawi. Anschließend griffen die Gewalttaten auf Syrien über, wo nun auch die Alawiten zu den verabscheuten »Häretikern« gezählt wurden. Der Dschihad versuchte, die Rebellion gegen das Assad-Regime durch die Verherrlichung der sunnitischen Identität zusammenzuschweißen – was bis zur Ausrufung des »Kalifats« durch den sogenannten »Islamischen Staat« unter Abu Bakr al-Baghdadi am 29. Juni 2014 führte.

Mit der Bildung dieser Fronten gelang es, eine neue Vorstellungswelt für den internationalen Dschihadismus zu schaffen und von Nordafrika bis in die europäischen »Vororte des Islam« militante Kämpfer zu mobilisieren, die zu allem bereit waren, um die von ganz neuen Feinden unterdrückten Muslime zu verteidigen. Als Feinde galten nicht mehr die üblichen Schreckensbilder – die »Kreuzfahrer« im christlichen Westen, die erst Kolonialisten und dann Imperialisten waren, oder der jüdische und zionistische Staat Israel. Sie wurden ersetzt durch jene, die einer Islam-internen Häresie beschuldigt wurden, von der bislang nur wenige gehört hatten und noch weniger zwischen Kairo und Marrakesch, zwischen Marseille und Molenbeek etwas gesehen hatten. Die salafstische Doktrin konnte durch die plötzliche Einführung der Schiiten als Hauptfeinde gefestigt werden und ihren Anspruch bekräftigen, die Reinheit des Glaubens am besten zu verkörpern. Schließlich seien die Salafsten die Einzigen, die sich wirklich um die Verbannung der Anhänger des Imam Ali kümmerten. Ihre wörtliche und dekontextualisierte Lesart der Heiligen Schrifen schloss wenig später auch alle »schlechten Muslime« sunnitischen Glaubens aus, wie etwa die Suf-Mystiker, deren Gräber und Mausoleen man systematisch sprengte, bevor die Gläubigen massakriert wurden.

Dass sich dieses Dogma und seine Umsetzung im Dschihad immer weiter verbreiteten, bedeutete für Nicht-Muslime wegen der buchstabengetreuen Befolgung der Koran-Anweisung folglich die Todesstrafe als »Ungläubige« oder die Erniedrigung zu Sklavendiensten. So geschehen seit 2014 mit der jesidischen Gemeinschaf im Irak, deren Frauen zu Sex-Sklavinnen und deren Männer im vom sogenannten »Islamischen Staat« eroberten Gebiet ermordet wurden. Gleiches droht in Zukunft auch Europa, das im Wortgebrauch der heutigen Salafsten als Gebiet der »Kafr« (Ungläubigen) beschimpf wird. Mehrere Hundert Menschen wurden bereits bei aufsehenerregenden Attentaten ermordet. Einige Tausend junge Europäer, deren Familien einen muslimischen Migrationshintergrund haben oder die vor Kurzem konvertiert sind, verließen die Vororte ihrer Länder und reisten in den Scham, um dort ihre Indoktrination und militärische Ausbildung abzuschließen. Manche kehrten später zurück, um ihre Landsleute im Namen dessen zu ermorden, was sie in der dschihadistischen Lesart der heiligen Schriften »gerechtfertigten Terrorismus« nennen. Einer der wichtigsten Aktivisten, der aus dem Pariser Vorort stammende Franko-Tunesier Boubaker al-Hakim, veröffentlichte im März 2015 auf Dabiq, der englischsprachigen Online-Plattform des sogenannten »Islamischen Staates«, folgenden Text:

Jetzt sage ich meinen Brüdern in Frankreich: Sucht keine besonderen Ziele aus, tötet jeden. Alle Ungläubigen sind dort Ziele. Und ich sage den kufar, bald werdet ihr, so Allah will, die Fahne des La ilah illa Allah [»Es gibt keinen Gott außer Allah«-Inschrift auf der schwarzen Flagge des IS] auf dem Élysée-Palast wehen sehen. Der Islamische Staat ist jetzt sehr nahe gerückt. Zwischen uns und euch liegt nur das Meer. Und insh’Allah, werden wir eure Frauen und Kinder auf den Märkten des Islamischen Staates verkaufen!

In weniger als fünf Jahren waren die universellen demokratischen Schlagworte des »Frühlings« und der »Revolution 2.0« dem unheilvollen salafstischen Rückschritt gewichen, wie er sich in diesen in Raqqa verfassten Zeilen widerspiegelt. Der Extremismus des IS-»Kalifats« führte zu seiner Isolierung und nach der militärischen Offensive, die 2017 sein Herrschafsgebiet auflöste, schließlich zu seiner Auslöschung. Damit einher ging jedoch auch die Schwächung und Aufsplitterung des Sunnismus, zu dessen Verfechter der sogenannte »Islamische Staat« sich unberechtigterweise aufgeschwungen hatte.

Als sich der Obst- und Gemüsehändler Tarek Bouazizi am 17. Dezember 2010 selbst in Brand steckte, führte er damit die »MärtyrerOperationen« fort, die für den Dschihad zu Beginn des 21. Jahrhunderts so typisch waren, ließ sie aber zugleich auch ins Leere laufen. Das Opfern der eigenen Person war zur spektakulärsten Art und Weise geworden, mit der die Auslöschung des »Unglaubens« vorangetrieben werden sollte: Der Terrorist bringt mit seinem Tod Blut und Zermürbung auch über den Feind. Anders als die »freiwilligen Märtyrer« (inghimassi) zielte Bouazizi jedoch keineswegs darauf ab, jemand anderen zu töten als sich selbst – und erlag wenige Wochen später im Krankenhaus seinen Brandwunden ...

 

Gilles Kepel:  Chaos. Die Krisen in Nordafrika und im Nahen Osten verstehen. 496 Seiten. 28,- Euro. Verlag Antje Kunstmann, München 2019.

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