EU-Verteidigungspolitik - Ein bisschen mehr als nichts

Das Debakel in Afghanistan hat erneut bewiesen, dass die europäischen Streitkräfte in einem miserablen Zustand sind. Die EU-Verteidigungsminister starten nun einen weiteren Anlauf, um sich von der Abhängigkeit von den USA zu befreien. Doch ist das mehr als guter Wille?

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Autoreninfo

Thomas Jäger ist Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln. Er ist Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste.

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„Wir haben in Afghanistan gesehen, dass wir mit Blick auf unsere eigenen Fähigkeiten nicht so weit sind, wie wir uns das selbst vorgestellt haben,“ wird die Bundesministerin der Verteidigung im Zusammenhang mit dem Treffen der EU-Verteidigungsminister im slowenischen Kranj zitiert. Wer ist „wir“ und was haben sich diese denn vorgestellt? Dass die Streitkräfte der EU-Staaten über weiterreichende Fähigkeiten verfügen? Das muss wohl so sein, dass es Verantwortliche gab, die den Streitkräften mehr zutrauten, als die zu leisten in der Lage waren. Was genau das gewesen sein soll, wird vielleicht noch ausgeführt. 

Nun aber soll die reale Verfassung der Streitkräfte den weiterreichenden Vorstellungen angepasst werden. Die EU-Staaten überlegen, eine Eingreiftruppe, die 5.000 bis 20.000 Soldatinnen und Soldaten umfassen soll, einzurichten. Sie sollen, soweit das bisher bekannt wurde, von einer „Koalition der Willigen“ innerhalb der EU gestellt werden. Erklärtes Ziel, so Kramp-Karrenbauer, ist die Abhängigkeit von den USA zu überwinden. Im Hinblick auf die Entwicklungen der letzten Wochen sagte sie: „Wir waren von den Amerikanern abhängig und es wird heute darum gehen, die richtigen Schlüsse zu ziehen.“ Nun betrifft die Abhängigkeit von den USA nicht nur den Flughafen von Kabul, der zum Anlass des Erschreckens wurde, weil es den EU-Staaten anscheinend nicht möglich war, ihn eigenständig zu sichern. Aber es geht ja viel weiter: Die EU-Staaten sind von den USA schon bei der Landesverteidigung abhängig und erst recht, wenn nukleare Bedrohungen und Erpressungen bedacht werden. Den EU-Staaten mangelt es hier vollumfänglich an Abschreckungs- und Abhaltepotential. 

Ein weites Feld

Die EU-Staaten sind zudem unfähig, Stabilität in ihre geographische Umgebung zu projizieren, Konflikte dort militärisch einzudämmen und staatliche Aufbauhilfe zu leisten. Das sind zuvörderst zivile Aufgaben, die aber militärisch gedeckt werden müssen. Schon gar nicht sind die EU-Staaten befähigt, selbstständige Beiträge zur Freiheit der Schifffahrt, die für den Welthandel existentiell ist, zu leisten. Wenn also die Devise ist, „eigenständiger werden, selbständiger handeln können“ (Kramp-Karrenbauer) ist das sicherheitspolitisch ein weites Feld. Niemand wird sich beschweren können, dass seitens der Bundesregierungen in den letzten zwanzig Jahren irgendwelche substantiellen Beiträge geleistet wurden. Die Abhängigkeit von den USA ist selbstverschuldet. 

Seit den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts wird die Debatte über eine eigenständige europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik geführt. Möglicherweise ist das damit bedruckte Papier gewichtsmäßig schwerer als die angeschaffte militärische Ausrüstung. Die USA hatten drei Einwände gegen europäische Autonomie: Die EU-Sicherheits- und Verteidigungspolitik sollte nicht von NATO abgekoppelt werden; es sollten keine Strukturen dupliziert werden (kein EU-Hauptquartier); und niemand sollte diskriminiert werden, was sich auf die Türkei bezog, die am Seitenrand gestanden hätte. Inzwischen ist die Türkei – anders als die EU-Armeen – in internationalen Konflikten einsatzfähig; die Europäer haben keine tragfähigen eigenständigen Strukturen aufgebaut (ach ja, die Battle-Groups seit 2007 einsatzfähig und seither ohne einen Einsatz); und die Gefahr der Abkoppelung von der NATO droht eher aus den USA.

Sicher müssen die EU-Staaten mit der Herstellung sicherheitspolitischer Handlungsfähigkeit irgendwo beginnen. Sie sollten aber sogleich das ganze Bild an benötigten Fähigkeiten bedenken. Wird die Bundesregierung befähigt sein, eine Debatte über die nukleare Abschreckung in der EU zu führen? Wird sie ein Konzept der EU-Landesverteidigung mit ausarbeiten? Wird sie Strategien für Stabilisierungseinsätze in umliegenden Regionen ausführen? Die Diskussionen sind lange geführt worden, jetzt müssen sie umgesetzt werden. 

Koalition der Willigen?

Sodann gilt es auf der einen Seite die materielle und personelle Handlungsfähigkeit herzustellen. EU-Rüstungspolitik wird dann mehr sein müssen als Industrie- und Rüstungskontrollpolitik. Ad-hoc werden die Truppen nicht einsatzfähig sein, so dass die Idee der „Koalition der Willigen“ dünnes Eis ist. Was geschieht wenn ein Staat seine Truppen nach einem Regierungswechsel abzieht? Eine linke Regierung in Deutschland würde das ebenso wenig mittragen wie eine rechtspopulistische französische Präsidentin. Das führt zur Frage des politischen Willens, denn Einsätze müssen beschlossen werden. Wer unternimmt das dann? Das Europäische Parlament? Die Parlamente der in der „Koalition der Willigen“ beteiligten Staaten?

Niederschmetternd wäre, wenn die politisch Verantwortlichen in der EU jetzt einen erneuten Anlauf nehmen und scheitern. Ähnlich wie es nach der Brexit-Entscheidung war, als die Sicherheits- und Verteidigungspolitik zum Feld intensiverer Integration erkoren wurde und dann die Pesco-Projekte dabei herauskamen. Ein bisschen mehr als nichts war das schon, aber angesichts des globalen Handlungsanspruchs nicht sehr viel. Deshalb gilt es jetzt nicht nur Vorschläge auf den Tisch zu legen, sondern sie ernsthaft auszuarbeiten. Die Bundesministerin der Verteidigung ist ja noch ein paar Wochen im Amt (vielleicht auch länger, wer weiß), sie sollte jeden Tag genau dafür nutzen. 

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