Welche Position vertritt Ankara? - Die Haltung der Türkei im Ukraine-Krieg

Im Ukraine-Krieg bieten sich verschiedene Länder als Vermittler zwischen den beiden Kriegsparteien an. Vorn dabei ist die Türkei: Sie liefert Waffen in die Ukraine und unterhält gleichzeitig gute Beziehungen nach Russland. Von den Verhandlungen kann sie nur profitieren.

Exportschlager Bayraktar-Drohne / dpa
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Nathan Giwerzew ist Journalist in Berlin.

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„Ihre Argumente sind alle Arten von Waffen –  / Mächtige Raketen, Maschinen aus Eisen / Wir haben dazu nur einen Kommentar: / Bayraktar.“ So lautet eine Strophe des neuerdings populären ukrainischen Kriegslieds, in dem die gleichnamige türkische Kampfdrohne für ihre Leistungen auf dem Schlachtfeld gerühmt wird.

Dass die unbemannte Drohne in der Ukraine aktuell ein hohes Ansehen genießt, liegt an ihrer Effizienz, Flexibilität und Präzision. Die Drohne Bayraktar TB2 – „bayraktar“ bedeutet auf Türkisch „Fahnenträger“ – ist sowohl zu Aufklärungs- als auch für Transport- und Kampfzwecke einsetzbar. Die lasergelenkten Bomben treffen ihr Ziel sehr genau, und die Munition ist relativ kostengünstig zu beschaffen.

Die türkische Drohne kostet den Käufer weniger Geld als vergleichbare Modelle aus Israel, den USA oder China. Sie ist deshalb auf vielen Kriegsschauplätzen gefragt, wo mit konventionellen Waffen gekämpft wird. Und sie ist ein türkischer Exportschlager: Das Fluggerät ist beispielsweise bereits nach Aserbaidschan, Libyen, Marokko und Ägypten verkauft worden.

Sie konnte zu Beginn des Krieges in der Ukraine deshalb eine derart durchschlagende Wirkung erzielen, weil die russischen Invasoren mit ihr nicht gerechnet hatten. Bevor die russische Flugabwehr zu Beginn der „Spezialoperation“ auf den Einsatz gegen derartige Waffen vorbereitet war, fügte die Drohne den Flugabwehr-, Panzer- und Automobilkolonnen herbe Verluste zu. Auch wenn die Ukraine nur über etwa 20 Drohnen verfügt, eignen sich deren Videoaufnahmen hervorragend zur psychologischen Kriegsführung  wenngleich sich mitunter einige Videos als Fakes entpuppt hatten. 

Der reguläre Kampfeinsatz der „Bayraktar“ verläuft nach einem einfachen Schema. Zuerst beschießt die Drohne das vorderste und das hinterste Fahrzeug einer russischen Kolonne. Die Fahrzeuggruppe bleibt zwangsläufig stecken und wird anschließend von ukrainischen Soldaten aus dem Hinterhalt unter Beschuss genommen – mithilfe von Panzerfäusten, Artillerie und Infanteriesoldaten.

Die Türkei, Russland und die Nato: Eine komplizierte Dreiecksbeziehung

In geopolitischer Perspektive wirft die Drohne ein besonderes Licht auf das angespannte Verhältnis zwischen Ankara und Moskau. Indem die Türkei ihre Waffen in die Ukraine exportiert, sendet sie eine klare Botschaft an Putin: Sie ist bereit, ihre Interessen gegen Russland an mehreren Schauplätzen durchzusetzen – nicht nur in Syrien, sondern auch in Osteuropa.

Die Position der Türkei im Ukraine-Krieg ist aber um einiges komplizierter, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Phasen der relativen Annäherung werden oft schnell von Kriegsdrohungen abgelöst. So war beispielsweise schon 2015 die Lage kurz davor, zu eskalieren: Damals schoss die Türkei im syrisch-türkischen Grenzgebiet einen russischen Su-24-Bomber ab, weil er angeblich in den türkischen Luftraum eingedrungen sei. Der russische Pilot konnte sich zwar über den Schleudersitz retten, aber er wurde schließlich auf syrischem Boden von einer islamistischen Rebellenbrigade getötet, die von der Türkei unterstützt wird.

Auch die Beziehungen der Türkei zu vielen Nato-Staaten sind seit Jahren auf einem historischen Tiefpunkt, obwohl sie schon seit 1952 Mitglied des transatlantischen Verteidigungsbündnisses ist. 

Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen hat sich die Türkei durch ihr Engagement in Syrien wenig Freunde gemacht: Dass sie dort islamistische Gruppen unterstützt, schürt Ängste vor einem Terrorismusexport nach Europa. Dass die Türkei zudem seit Jahren kurdische Siedlungen bombardiert, bringt ihr nicht zu Unrecht den Vorwurf ein, ethnische Säuberungen zu betreiben. Und die Türkei hatte 2021 im Berg-Karabach-Krieg Aserbaidschan unterstützt: Der aserbaidschanische Diktator Ilham Alijev ließ damals wenig Zweifel daran, dass er den jungtürkischen Genozid an den Armeniern 1915/16 siegreich zu Ende bringen wollte. Auch dort waren türkische „Bayraktar“-Drohnen eine effektive Waffe.

Aber nicht nur die Türkei, sondern auch Russland ging aus dem Berg-Karabach-Krieg als Profiteur hervor. Traditionell die Schutzmacht Armeniens, konnte es mit Aserbaidschan einen Waffenstillstand aushandeln und sich gegenüber der Türkei als Verhandlungsmacht profilieren. 

Ein russisch-türkischer Rüstungsdeal zwei Jahre zuvor mag das erleichtert haben: 2019 hatte Russland S-400-Luftabwehrraketen an die Türkei geliefert. Das hatte damals für einen Skandal gesorgt. Denn im Westen befürchtete man, dass in die von der Türkei eingesetzten russischen Radarsysteme eine Spionagesoftware eingebaut ist, die sensible Daten über amerikanische Kampfjets an die russischen Streitkräfte weitergeben könnte.

Ankara als Achse zwischen Ost und West

Jetzt haben beide Staaten ihre Rollen getauscht. Während Russland ukrainische Städte in Schutt und Asche bombt, bietet sich Ankara als Vermittler zwischen beiden Kriegsparteien an. Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu befindet sich zurzeit in engem Kontakt mit seinem russischen und seinem ukrainischen Amtskollegen. 

Für die Türkei sind die russisch-ukrainischen Verhandlungen eine Win-Win-Situation. Sollte Russland siegreich sein, wird sich die Türkei mit Moskau frühzeitig auf eine Neuaufteilung der jeweiligen Einflusszonen in Syrien und Zentralasien einigen können. Und falls die Ukraine standhält, wäre das für die Türkei umso besser: Der russische Einfluss wäre so zumindest aus Osteuropa herausgedrängt.

Weil sich die Türkei beide Positionen offenhält, bietet sie sich aktuell sowohl Russland als auch der Ukraine als Verhandlungsmacht an – genauso übrigens wie Israel, das sich der Türkei zurzeit diplomatisch wieder annähert.

Aus dieser Zwischenposition lässt sich das aktuell widersprüchliche Verhalten der Türkei gegenüber Russland erklären. Weil die türkische Regierung keine klare Position gegen den russischen Angriffskrieg bezogen hatte, verzichtete sie auf Wirtschaftssanktionen: Neutralität ist in der türkischen Politik das entscheidende Stichwort. Gleichzeitig sperrte sie die Dardanellen und den Bosporus für russische Kriegsschiffe. Damit ist der russischen Marine der Zugang vom Mittelmeer zum Schwarzen Meer unpassierbar gemacht worden.

Der Export der Bayraktar-Drohnen an die Ukraine bleibt derweil für die türkische Rüstungsindustrie ein lohnendes Geschäft. Es bringt dringend benötigte Dollar-Devisen in das Land, dessen Wirtschaft stark unter der Hyperinflation leidet.

Man sollte nicht vergessen, dass die Türkei etwa 80% ihres Weizens aus Russland und der Ukraine zu günstigen Preisen importiert. Während sich schon jetzt viele türkische Bürger aufgrund der Wirtschaftskrise kaum mehr Lebensmittel leisten können, könnte sich die Lebensmittelversorgung wegen des Krieges in der Ukraine bald noch stärker zuspitzen. Und ob der türkische Außenminister Çavuşoğlu mit der Behauptung Recht behält, dass Russland und die Ukraine dank der Verhandlungen in der Türkei kurz vor einer Einigung stünden – das steht freilich auf einem ganz anderen Blatt.

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