Angriff auf Flugplatz auf der Krim - Ein Pearl-Harbour-Moment für Russland

Mit Angriffen auf Militärflugplätze auf der Krim und in Belarus überrascht die Ukraine die russische Armee. Es ist der erste Angriff auf die von Russland 2014 annektierte Krim überhaupt. Damit weitet die Ukraine die Kampfzone aus.

Am Strand von Saky (Krim) ist die Rauchwolke der Explosion auf dem Lufstwaffenstützpunkt zu sehen / dpa
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Der Dienstagnachmittag muss ein sehr sorgloser Tag an der südlichen Westküste der Halbinsel Krim gewesen sein: Auf den Videos, die aus dem Badeort Saki in den sozialen Netzwerken gepostet wurden, sieht man Touristen am Strand, die fassungslos die Rauchsäulen im Hintergrund filmen, ihre Sachen packen und die Flucht ergreifen. Die Ukraine hatte soeben völlig überraschend den Militärflughafen in der Nähe der Stadt angegriffen, etwa 200 Kilometer südlich der Frontlinie im südukrainischen Cherson.
 
Erst zwei Tage später wird das Ausmaß der Zerstörung klar: Satellitenbilder zeigen auf dem Flugplatz, auf dem die Militärflugzeuge der Schwarzmeerflotte stationiert waren, vier Krater und die Überreste von mindestens acht Kampfflugzeugen. Dort waren – das zeigen Satellitenbilder wenige Stunden vor dem Angriff – vor allem Flugzeuge der Typen Su-24, Su-27 und Su-30 stationiert.

Satellitenaufnahme des zerstörten russischen
Flughafens / © Maxar


Die russische Seite schweigt den Angriff tot, offiziell spricht Moskau von einem Brand, bei dem allerdings keine Flugzeuge beschädigt worden seien. Doch auch die ukrainische Seite bekennt sich offiziell nicht zur Attacke: Präsident Selenskyj sagte am Dienstagabend in seiner Videobotschaft lediglich nebulös, der russische Krieg gegen die Ukraine und gegen das freie Europa habe mit der Krim begonnen und werde mit der Krim, also mit ihrer Befreiung, enden.

Spekulationen darüber, wie der Ukraine dieser Angriff tief im russisch kontrollierten Raum gelingen konnte, gibt es reichlich. Am wahrscheinlichsten ist ein Angriff mit einem Raketensystem, über das die Ukraine bisher nicht verfügte. Neben der militärischen Bedeutung – der Großteil der Luftwaffe der Schwarzmeerflotte wurde ausgeschaltet – ist der Angriff psychologisch auf mehreren Ebenen ein großer Erfolg.

Der Krieg hat sich in einen opferreichen Abnutzungskrieg verwandelt

Zum einen ist er – sollte er mit Raketen ausgeführt worden sein – eine Demütigung der russischen Luftverteidigungssysteme: Auf der Krim ist unter anderem das moderne System S-400 im Einsatz, das auch von der Türkei und China gekauft wurde. Möglich, dass die russische Luftverteidigung durch amerikanische Anti-Radar-Raketen vom Typ AGM-88-HARM ausgeschaltet wurde, über die die Ukraine seit kurzem verfügt.
 
Zum zweiten ist es der erste Angriff auf das von Russland 2014 annektierte Territorium der Krim überhaupt. Bis zuletzt hatten die politischen Führer der Halbinsel behauptet, „nichts bedrohe die Krim“, die Halbinsel sei nie seit 2014 so sicher gewesen wie heute. Trotz des Kriegs kamen auch in diesem Jahr schon mehrere Millionen Touristen aus Russland auf die Krim, denn im russischen Fernsehen wird bis heute die Mär von der „Militärischen Spezialoperation“ erzählt. Der Mehrheit der Russen gelingt es, den Krieg auszublenden. Der Angriff auf der Krim dürfte das ändern: Seit Dienstag gibt es Meldungen über einen massiven Urlauberexodus von der Halbinsel.
 
Für die Ukrainer kommt der erfolgreiche Angriff in einem entscheidenden Moment: Seit Wochen spricht die politische Führung von einer Gegenoffensive im Süden des Landes, aber bislang gibt es kaum nennenswerte Erfolge. Wie im Süden, so auch im Osten hat sich der Krieg in einen opferreichen Abnutzungskrieg verwandelt, in dem keine der beiden Seiten erkennbare Geländegewinne verzeichnen kann. Allerdings hatte die Ukraine seit der Lieferung amerikanischer HIMARS-Mehrfachraketenwerfer das strategische Gleichgewicht auf dem Schlachtfeld verändert: Kiew gelang es, vielerorts Munitions- und Waffendepots tief im russisch kontrollierten Gebiet zu zerstören und damit die russische Artillerie-Übermacht an der Frontlinie zu reduzieren.

Ein Angriff auf Ziele in Russland mit westlichen Waffensystemen wäre eine rote Linie

Auch gegen die russischen Luftangriffe auf ukrainische Städte und Militäreinrichtungen kann sich die Ukraine immer besser zur Wehr setzen: Am 8. August gelang es der Ukraine, alle vier „Kalibr“-Raketen, die die Schwarzmeerflotte abgeschossen hatte, noch im Gebiet Odessa abzuschießen. Der erfolgreiche Angriff auf den Militärflugplatz auf der Krim schwächt die Möglichkeiten der Russen für Luftangriffe an der südlichen Front noch weiter. Mit einem weiteren Angriff auf das von den russischen Streitkräften genutzte Flugfeld Zyabrovka in Belarus nahe der ukrainischen Grenze in der Nacht auf Donnerstag setzt die Ukraine diese Strategie auch an anderen Frontabschnitten fort. Auch hier gab es keine offizielle Stellungnahme der ukrainischen Führung, für den Angriff verantwortlich zu sein. Präsidentberater Podoljak erklärte auf Twitter lapidar: „Die Epidemie technischer Unfälle auf Militärflughäfen auf der Krim und in Belarus sollte vom russischen Militär als Warnung verstanden werden: Vergesst die Ukraine, zieht die Uniform aus und haut ab.“

Ein Grund für die offizielle Zurückhaltung der Ukrainer könnte sein, dass es inoffizielle Absprachen mit den westlichen Partnern gibt, keine Ziele in Belarus oder Russland mit westlichen Waffensystemen anzugreifen, da man darin eine „rote Linie“ für Putin sieht. Die Krim ist dabei gewissermaßen Grauzone, weil sie lediglich von Russland als eigenes Staatsterritorium angesehen wird, international jedoch als Teil der Ukraine. Bislang war man im Westen zögerlich, Raketen mit größerer Reichweite zu liefern, weil man eine weitere Eskalation befürchtete.
 
Zwar verfügt die Ukraine über eigene Raketen des Typs „Neptun“, die mit einer Reichweite von 280 Kilometern für den Angriff in Frage kommen würden. Allerdings wurden diese für Angriffe auf Ziele im Meer konstruiert. Wahrscheinlicher ist, dass die Ukraine von den USA ATACMS-Raketen bekommen haben, die mit HIMARS-Raketenwerfern abgefeuert werden, aber eine Reichweite von 300 Kilometern haben. Zusammen mit den amerikanischen Anti-Radar-Raketen, die seit wenigen Wochen in ukrainischen Diensten stehen, bedeutet das in den kommenden Monaten massive Probleme für die russische Kriegsführung.

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