Angela Merkel - Wo bleibt die Corona-Präsidentschaft?

Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte versprochen, den deutschen EU-Vorsitz dem Kampf gegen die Pandemie und ihre Folgen zu widmen. Fast drei Monate später fällt die Bilanz mager aus. In vielen EU-Ländern spitzt sich die Krise zu, die Reisebranche schlägt Alarm.

Merkels Maske zur EU-Ratspräsidentschaft / dpa
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Eric Bonse berichtet seit 2004 aus Brüssel über Europapolitik. Er betreibt auch den EU-Watchblog „Lost in Europe“.

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Eine „Corona-Präsidentschaft“ sollte es werden. Unter deutschem EU-Vorsitz, so hat es Kanzlerin Angela Merkel Anfang Juli versprochen, werde sich alles um die Bekämpfung der Corona-Pandemie und um die Heilung der Wunden der letzten Monate drehen.

Die Gesundheitspolitik liegt zwar in den Händen der Mitgliedsstaaten; eine echte EU-Zuständigkeit gibt es nicht. Der Ratsvorsitz kann jedoch Prioritäten setzen, Vorschläge machen und die Agenda bestimmen. Sie wolle alles tun, um die Coronakrise zu überwinden, so Merkel. „Unser gemeinsames Ziel muss es jetzt sein, die Krise gemeinschaftlich, nachhaltig und mit Blick auf die Zukunft zu bewältigen. Genau das wird das Leitmotiv unserer EU-Ratspräsidentschaft sein“, kündigte die Kanzlerin zu Beginn ihres Amtszeit in Berlin an.

Maskenpflicht in München

Fast drei Monate später fällt die Bilanz mager aus. Merkel hat es zwar geschafft, gegen große Widerstände einen 750 Milliarden Euro schweren Corona-Aufbaufonds durchzuboxen, der vor allem Krisenländern wie Italien oder Spanien helfen soll. Doch ausgerechnet die EU-Hilfen für Gesundheit und Forschung wurden zusammengestrichen.

Derweil spitzt sich die Lage an der sanitären Corona-Front wieder bedrohlich zu. Während Europastaatsminister Michael Roth (SPD) am Dienstag in Brüssel versuchte, ein wenig Ordnung in das Chaos der nationalen Reisewarnungen zu bringen, kam aus den europäischen Krisenregionen eine Hiobsbotschaft nach der anderen.

Weil die Infektionszahlen in die Höhe schnellen, ordnete München eine Maskenpflicht für stark besuchte Orte wie den Marienplatz und den Viktualienmarkt an. Ab sofort dürfen sich im Stadtgebiet nur noch fünf Personen oder die Mitglieder zweier Haushalte treffen. Das Oktoberfest war schon vorher abgesagt worden.

Dramatische Lage in Madrid und Brüssel

Dramatisch ist die Lage in Madrid. Dort wurden einige besonders betroffene Stadtviertel abgeriegelt. Rund 850.000 Menschen in ärmeren Stadtteilen im Süden von Madrid sowie in südlichen Vororten dürfen ihr Quartier nicht mehr verlassen. Dies führte zu Protesten, die Stimmung schwankt zwischen depressiv und explosiv.

Auch in Brüssel sieht es nicht gut aus. Weil das „Infektionsgeschehen“ in der EU-Kapitale größer ist, als die Bundesregierung erlaubt, hat Berlin gleich zu Beginn des EU-Vorsitzes eine Reisewarnung erlassen. Die Folge: Das Europaviertel ist menschenleer, die Bundesregierung sagte reihenweise wichtige Termine in Brüssel ab.

Berichterstattung der Medien ist eingeschränkt

Nicht einmal Dienstreisen zur EU-Kommission sind erlaubt. Auch die Berichterstattung der Medien ist eingeschränkt. Reisen aus Brüssel nach Berlin sind wegen der strikten deutschen Regeln kaum noch möglich. Pressekonferenzen gibt es nur noch virtuell; selbst beim EU-Gipfel am 24. und 25. September sind keine Journalisten zugelassen.

Das wäre alles halb so wild, wenn die deutsche „Corona-Präsidentschaft“ beim Kampf gegen die Pandemie vorankäme. Doch auch davon kann keine Rede sein. Im Gegenteil. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO liegen die wöchentlichen Infektionszahlen in Europa sogar über den Werten der ersten Hochphase im März.

Kritik der WHO

„Die Zahlen vom September sollten ein Alarmsignal für uns alle sein“, erklärte WHO-Europadirektor Hans Kluge. „Wohin sich die Pandemie von hier aus entwickelt, liegt in unseren Händen.“ So müsse die bisher geltende Quarantäne von 14 Tagen beibehalten werden. „Die 14-Tage-Regel gilt weiter“, heißt es bei der WHO.

Doch die EU hält sich nicht daran. Erst vor zwei Wochen haben die Gesundheitsminister vereinbart, die Quarantäne für Reisende aus Risikogebieten abzukürzen - von 14 auf nur noch zehn Tage. Der Vorstoß kam vom deutschen EU-Vorsitz, also von Gesundheitsminister Jens Spahn. Die Kritik der WHO prallt an ihm ab.

Spahn hielt es bisher auch nicht für nötig, ein EU-Krisentreffen einzuberufen, um auf die „zweite Welle“ bei den Infektionen zu reagieren. Während sich in Brüssel, Paris und Madrid die (nationalen) Krisensitzungen häufen, tut sich auf europäischer Ebene nichts. Die deutsche „Corona-Präsidentschaft“ glänzt durch Abwesenheit.

Kein Ende von Alleingängen

Nur beim Thema Reisewarnungen hat sich Berlin bewegt. Beim Treffen der Europaminister wurde ein Vorschlag des deutschen EU-Vorsitzes diskutiert. Allerdings geht es darin nicht um einheitliche Reisewarnungen in allen 27 EU-Ländern – und das Ende von Alleingängen, wie sie neben Deutschland auch Belgien und Ungarn machen.

Auf dem Tisch liegt lediglich ein Papier, das die Harmonisierung der Datenbasis vorsieht, auf deren Grundlage die Reisewarnungen ausgesprochen werden. Neben der so genannten Inzidenz - also der Zahl der registrierten Infektionen auf 100.000 Einwohner – könnten auch Daten zur Test- und zur Infektionsquote herangezogen werden.

Ergebnisse erst in einigen Wochen

Doch selbst diese technischen Vorschläge, die mehr die Statistiker angehen als die Reisenden, sind in Brüssel umstritten. Einige EU-Länder meinen, man müsse noch die Zahl der Hospitalisierungen berücksichtigen, oder auch die Todesfälle. Nur mit diesen Daten, so argumentieren sie, könne man den Ernst der Lage richtig einschätzen.

Mit Ergebnissen der Debatte wird erst in einigen Wochen gerechnet. Denn selbst wenn man sich auf eine gemeinsame Datenbasis einigt, müssen die Daten noch erfasst und aufbereitet werden. Das soll die europäische Gesundheits-Agentur ECDC übernehmen – doch die ist chronisch unterbesetzt. Schon bei der ersten Corona-Welle im Frühjahr was sie hoffnungslos überfordert.

Das Chaos weitet sich aus

Derweil weitet sich das – durch die unkoordinierten Reisewarnungen verursachte – Chaos immer mehr aus. Das sorgt nun für Alarmstimmung bei den Unternehmen. Nach einem miserablen Sommer könne man sich nicht auch noch einen verlorenen Herbst leisten, heißt es in einem Appell der europäischen Reisebranche, den Airlines, Flughäfen, Hoteliers und Taxiunternehmen unterschrieben haben. Sie fordern eine Lockerung der Reisebeschränkungen und Quarantäneregeln sowie ein EU-weit einheitliches „Test-Protokoll“, das Reisen wieder möglich machen soll.

Es gehe darum, „die Reisefreiheit wieder herzustellen, Diskriminierungen zu beenden und den Binnenmarkt wiederherzustellen“, heißt es in dem Schreiben. „Wir hoffen, dass die EU uns nicht fallen lässt“. Doch eine Antwort der EU-Kommission lässt auf sich warten. Die Brüsseler Behörde hat es damit offenbar nicht eilig.

Auch aus Berlin kam keine Reaktion. Hat die deutsche Corona-Präsidentschaft eigentlich schon begonnen?

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