Alice Schwarzer schreibt offenen Brief an Olaf Scholz - Wer zu spät kommt…

Prominente wie die Feministin Alice Schwarzer haben in einem Offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) appelliert, nicht noch mehr schwere Waffen an die Ukraine zu liefern. Ihre Position kann man sich allerdings nur leisten, solange man in gutbürgerlichen Verhältnissen lebt – in Friedenszeiten. Zudem kommt ihr Appell zu spät, um überhaupt noch Einfluss nehmen zu können.

Alice Schwarzers offener Brief kommt zu spät und wird wohl nur eine kurzweilige publizistische Randnotiz bleiben / dpa
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Autoreninfo

Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Nur einen Tag nach der überwältigenden Zustimmung des Deutschen Bundestages für die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine meldeten sich 28 Intellektuelle und Künstler in einem Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zu Wort. Die Botschaft: Der Bundeskanzler möge sich doch auf seine „ursprüngliche Position besinnen und nicht, weder direkt noch indirekt, weitere schwere Waffen an die Ukraine liefern“.

Die Initiatorin des Briefes ist die feministische Journalistin Alice Schwarzer. Sie fühlt sich durch die Resonanz bestätigt. Innerhalb von nur drei Stunden hätte er mehr als 10.000 Unterstützer gefunden. Schon heute Vormittag sind es seit einem Umzug auf die Petitionsplattform change.org mehr als 50.000. Die Petition „rennt“, wie Schwarzer sagt.

Allerdings dürfte dieser Appell ein paar Tage zu spät kommen. Nachdem mehr als 80 Prozent der Abgeordneten des Deutschen Bundestages der Regierung mit deren Billigung einen gegenteiligen Auftrag erteilt haben, ist es jedenfalls nicht allzu wahrscheinlich, dass Olaf Scholz eine plötzliche Notbremsung hinlegen wird. Und täte er es, müsste er zurücktreten. Denn der Vertreter des Souveräns sitzt nun einmal nicht in der Regierung, sondern im Parlament.

Ein „unerträgliches Missverhältnis“

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Daran ändert auch nichts, dass Filmemacher wie Andreas Dresen und Helke Sander, namhafte Wissenschaftler wie Reinhard und Wolfgang Merkel oder Schriftsteller wie Martin Walser und Juli Zeh zu den Erstunterzeichnern gehören. Wer zu spät kommt, den bestraft eben das Leben. Und so wird der offene Brief wohl nichts anderes bleiben als eine kurzweilige publizistische Randnotiz. Man hätte, nachdem sich die Bundesregierung unter SPD-Führung hat von den Unionsfraktionen zu einem Bekenntnis zwingen lassen, besser geschwiegen. Oder den Text des offenen Briefes zumindest überarbeitet. Damit er noch in die Zeit passt und nicht aus ihr herausfällt.

Jaja, schreiben die Autoren, was Putin mache, sei schon eine furchtbare Angelegenheit. Und natürlich gebe „es eine prinzipielle politisch-moralische Pflicht (…), vor aggressiver Gewalt nicht ohne Gegenwehr zurückzuweichen“. Aber offenbar nicht im Fall der Ukraine. Denn die Lieferung schwerer Waffen könne den Krieg nicht nur eskalieren, sondern bis in einen Dritten Weltkrieg hineinführen.

Irgendwann, so schreiben die deutschen Künstler und Intellektuellen, werde der an sich „berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor“ nämlich auch illegitim. Dieser Punkt sei genau dann erreicht, wenn das Leid der Zivilbevölkerung „irgendwann in einem unerträglichen Missverhältnis“ zu den Werten der Freiheit und Selbstbestimmung stehe. Die Frage ist nur: Wer hat eigentlich darüber zu befinden, wann das der Fall ist? Die Ukrainer selbst oder deutsche Intellektuelle und Künstler? Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen heißt nicht umsonst so, wie es heißt. Die Autoren und Unterzeichner sehen das anders. Moralische Normen seien nämlich „universaler Natur“.

Vom Krieg belästigt

Was dieser Tage passiert, ist im Grunde nichts anderes als das Aufeinandertreffen einander ausschließender Wertehorizonte. Ja, die Ukraine will zu Europa gehören – und eigentlich auch zur Nato. Aber das bedeutet nicht zwangsläufig, dass der Blick auf die Welt ein gemeinsamer ist. Die Hinwendung der Ukraine zum Westen erklärt sich auch als eine Angstreaktion auf die imperialen Gelüste Putins. Der Feind meines Feindes kann eben auch manchmal mein Freund sein. Dafür muss ich den Freund gar nicht sonderlich mögen. Außer dafür, dass er denselben Feind hat wie ich selbst.

Schon vor Wochen hatte sich beispielsweise der Soziologe Harald Welzer, der den Aufruf deutscher Intellektueller natürlich ebenfalls unterschrieben hat, ganz angewidert gezeigt von der Heldenrhetorik des ukrainischen Präsidenten. Während die Ukrainer für ihre Selbstachtung und um ihr Leben kämpften, fühlte sich der deutsche Vorzeige-Intellektuelle von der „Ästhetik und Rhetorik des Krieges“ belästigt. Wer hätte denn gedacht, so fragte Welzer, dass plötzlich „Begriffe wie ‚Tapferkeit‘, ‚Vaterland‘, ‚Held‘ usw. usf. plötzlich nicht nur sagbar, sondern positiv verstanden werden könnten?“

Tja, wer hätte das gedacht! Da, wo Welzer wohnt, angeblich mitten in Berlin, braucht man nämlich heute keine Helden und schon längst kein Vaterland mehr. Das braucht man nur, wenn die eigene Frau von Vergewaltigung und die ganze übrige Familie vom Tode bedroht ist. In einem solchen Moment könnte sich vielleicht selbst Harald Welzer dazu aufraffen, seine Lieben zu verteidigen und – freilich ungewollt – zum Helden werden. Und das, obwohl es überhaupt nicht gendergerecht wäre, wenn Männer ausgerechnet Frauen verteidigten. Soll doch in der Welt der Gleichberechtigung gefälligst jeder für sich selbst kämpfen!

Das gute Leben geht nicht ohne Opfer

Womit wir hier konfrontiert sind, ist nichts anderes als die Frage nach dem Sinn des Lebens. Das mag pathetisch klingen – und ist es auch. Aber immer dann, wenn es ums Ganze geht, lässt sich das schlecht vermeiden. Die alten Griechen dachten da noch ganz traditionell. Der athenische Philosoph Aristoteles zum Beispiel betonte schon zu Beginn seiner „Politik“, dass es dem Menschen nie um das bloße Überleben gehen könne. Ein sinnerfülltes Leben hätte vielmehr das „gute Leben“ zur Bedingung. Und das kann auch bedeuten, für das Ganze im Notfall das eigene Dasein zu opfern.

Dem westlichen, modernen Denken kommt das absurd vor, weil es ganz von persönlichen Interessen gesteuert wird. Es könne freilich in niemandes Interesse sein, sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen. Eine solche Position kann man sich allerdings nur leisten, solange man eine gutbürgerliche Wohnung inmitten Berlins bewohnt – in Friedenszeiten. In der Ukraine ist das heutigentags wahrscheinlich ganz anders. Ukrainerinnen und Ukrainer, die heute freiwillig zu den Waffen greifen, ziehen offenbar mit allen denkbaren Konsequenzen den Kampf für die Freiheit und eigene Selbstachtung dem bloßen Überleben in der Sklaverei vor.

Anders war es auch bei Maximilian Maria Kolbe. Er wurde im Jahre 1893 geboren und war ein Franziskaner. Im Jahre 1941 wurde er in das Vernichtungslager Auschwitz überführt, weil er daran beteiligt war, mehr als 2.000 polnischen und ukrainischen Juden Zuflucht vor den Nazis zu gewähren. Am 29. Juli desselben Jahres bot sich Kolbe den Nazis gar zum Tode an als Ersatz für einen Familienvater mit dem Namen Franciszek Gajowniczek. Heute gilt er für diese Selbstaufopferung als Held. Vielleicht nicht mitten in Berlin, aber zumindest in der katholischen Kirche. Papst Johannes Paul II. jedenfalls sprach ihn im Jahre 1982 als Märtyrer dafür heilig.

Habermas meldet sich zu Wort

Auch Alexander Kluge hat den Brief Alice Schwarzers unterzeichnet. Erst vor wenigen Wochen feierte er seinen 90. Geburtstag und erhielt auch eine freundschaftliche Würdigung durch Jürgen Habermas. Aber Habermas selbst findet sich nicht unter den Unterzeichnern. Das ist zumindest deshalb bemerkenswert, weil er mit Abstand als gewichtigster kritischer Intellektueller der deutschen Gegenwart gilt.

Es ist aber nicht so, dass Habermas in der Sache nichts zu sagen hätte. Ebenfalls am gestrigen Tage meldete er sich nämlich mit einem eigenen Beitrag zum Krieg in der Ukraine zu Wort. Es soll nach Angaben der Redaktion der Süddeutschen Zeitung diesmal nur 16 Minuten bedürfen, um sich durch das Konvolut zu arbeiten. Und wie immer, wenn Habermas sich zu bedeutenden Themen äußert, muss man sich zwingen, zunächst das sprachliche Schmalz von der Stulle zu kratzen, um sehen zu können, was sich eigentlich darunter befindet.

Tut man das nicht, kann man dem Text fast jede Position zum Krieg in der Ukraine entnehmen, die man zuvor in ihn hineingelesen hat. Natürlich finde die „Skepsis gegen das Mittel kriegerischer Gewalt“ eine Grenze und zwar dort, wo ihr Preis „ein autoritär ersticktes Leben“ fordert. Und natürlich müsse Europa „militärisch auf eigenen Beinen stehen“, um „politisch handlungsfähig“ zu sein. Aber das alles bedeutet für Habermas am Ende freilich nicht, schwere Waffen an die Ukraine zu liefern.

Was den Kritikern des Bundeskanzlers als wochenlanges Zaudern und Zögern gilt, ist für ihn vielmehr eine „sachlich umfassend informierte Abwägung“ der Bundesregierung. Der „zwanglose Zwang“ (Jürgen Habermas) des besseren Arguments kann sich eben nur in angemessener Zeit entfalten. Auch diesem Text ist anzumerken, dass er ein paar Tage zu spät kam, um auf der Höhe der Zeit zu sein. Bundestag und Bundesregierung haben Habermas’ Rationalitätsprojektion mittlerweile in Luft aufgelöst.

Eine simple Botschaft kompliziert verpackt

Die Botschaft seines mehr als 20.000 Zeichen umfassenden Textes ist letztlich relativ schlicht: Wenn Atommächte in eine kriegerische Auseinandersetzung involviert sind, gelten die Gesetze des konventionellen Krieges nicht mehr. Es ist kein Sieg einer Partei ohne die Vernichtung des ganzen Planeten denkbar. Also, so Habermas, bleibt eben nichts anderes übrig, als mit Putin einen Waffenstillstand zu vereinbaren. Das Dilemma ist nur: Gerade weil dieser damit rechnet, dass der Westen nicht zum Äußersten greifen wird, verfügt Russland über einen „asymmetrischen Vorteil gegenüber der Nato“ in genau diesen Verhandlungen.

Nach Habermas’ eigener Logik kann das gar nichts anderes bedeuten, als die Ukraine notfalls zu opfern. Dafür spricht auch, dass er die „wiederholte Aggression“ Russlands „eher als die frustrierte Antwort auf die Weigerung des Westens“ versteht, „über Putins geopolitische Agenda zu verhandeln“. Derartiges liest man in Deutschland sonst eigentlich nur bei der AfD und der Linkspartei. Aber wie es bei Habermas häufig ist: Das schreibt er nicht im Indikativ, sondern vorsichtshalber im Konjunktiv II als eine bloß theoretische Erwägung, auf dass ihm diese Position nicht zweifelsfrei zugerechnet werden kann. Es ist eben, wie immer, für jeden etwas dabei.

Auf die Frage indes, welche Verhandlungserfolge der Westen angesichts eines asymmetrischen Nachteils gegenüber Russland für die Ukraine eigentlich erringen könnte, bleiben Alice Schwarzer und Jürgen Habermas jede konkrete Antwort schuldig. Sie wissen, was sie nicht wollen: keinen Krieg, keine Toten, keine Helden, eigentlich auch keinen Sieg Putins. Und sie wollen zugleich die „postheroische Mentalität“ (Habermas) des Westens retten.

Die naive Außenministerin

Vor allem Habermas zeigt sich über die „Konversion friedensbewegter Geister“ dieser Tage bass erstaunt. Er hat sich wohl nicht vorstellen können, dass der auch von ihm selbst betriebene mentalitätsgeschichtliche Wandel der Bundesrepublik noch einmal Risse bekommt. Dass heute ausgerechnet Annalena Baerbock und Robert Habeck zu den eifrigsten Befürwortern von Waffenlieferungen an die Ukraine gehören, verstört den 92-Jährigen sichtbar.

Er kann sich das in seinem Alter, wie er sagt, nur so erklären: Die Außenministerin sei eben schlicht von ihren Emotionen überwältigt und würde „unvermittelt“ – und das heißt bei Habermas in Wahrheit: naiv – für die Ukraine Partei ergreifen, während der Kanzler „reflektiert“ agiere. Wir blicken auf einen Mann, der nicht verstehen will, dass auch sein eigenes Denken an historische Voraussetzungen gebunden war, die seit dem 24. Februar zerbröseln. Ein wenig riecht es nach altem weißem Mann.

Diejenigen, die die Waffenlieferungen an die Ukraine unterstützen, tun dies ja nicht deshalb, weil sie kriegslüstern wären. Sie tun dies vielmehr, weil sie die Analyse Habermas’ über den asymmetrischen Vorteil Putins teilen. Es geht um die Frage, mit welchen Mitteln Putin zu Verhandlungen gezwungen werden kann, die diesen Namen auch verdienen. Es geht um die Vermeidung eines Diktatfriedens zulasten der Ukraine.

Ob diese Strategie aufgeht, ist so ungewiss wie die Zahl der Opfer, die sie fordern wird. Das eigentliche Dilemma ist daher nicht der asymmetrische Vorteil Putins, sondern die Tatsache, dass sich der Westen so oder so schuldig machen wird. Der eine wie der andere Weg wird Tod und Leid mit sich bringen. Es steht schlicht die Frage im Raum, wieviel dem Westen die Freiheit der Welt tatsächlich wert ist.

Ein Stachel im Fleische

Alice Schwarzer und Co. können zwar zur Lösung der aktuellen Probleme mit ihrem offenen Brief wenig beitragen. Aber sie können für sich immerhin reklamieren, dass sie nach aktuellen Umfragen genauso viele Bürger repräsentieren wie der Bundestag mit seinem jüngst gefassten Beschluss. Schwarzer begründet gegenüber Cicero ihre Initiative gerade mit der Tatsache, „dass die überwältigende Mehrheit der JournalistInnen in diesem Land zurzeit weitere Lieferungen schwerer Waffen befürwortet, ohne über die steigende Gefahr eines 3. Weltkrieges zu informieren. Endlich haben Menschen, die gegen weitere Lieferungen schwerer Waffen und das Risiko eines Atomkrieges sind, eine Stimme!“

Kritik und Widerspruch gehören nicht nur zu einer lebendigen Demokratie, sondern können ihr Schmiermittel sein. Sie sind für die Verantwortungsträger eine immer wiederkehrende Gelegenheit, den eigenen Standpunkt zu überprüfen. Gerade wenn es um Krieg oder Frieden geht, ist das alles andere als nichts. In Wahrheit weiß heute ja niemand ganz genau, ob er historisch im Recht gewesen sein wird – oder auch nicht.

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