Der Fall Nawalny - Russland lieben, Putin verachten

Es ist kein Verrat an Russland, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen: Wladimir Putin benutzt den russischen Geheimdienst, um politische Gegner zu eliminieren. Eine Gedankenübung für alle wahren Freunde Russlands.

Russlands Präsident Wladimir Putin während seiner Pressekonferenz am 17. Dezember diesen Jahres / dpa
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Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Auch nach diesem Text werden wieder die Leserbriefe kommen: „Das ist zu komisch! Wenn der russische Geheimdienst jemanden beseitigen will, dann beseitigt er ihn.“ „Ach Herr Gathmann, ach Recherche-Verbund ... ach CIA, ach NSA, ach MI5, ach MI6, ach BND, …“ „Und wieder waren die Russen zu blöd dazu. Was hat der Putin nur für einen unfähigen Geheimdienst. Das hat der saudische Kronprinz aber besser hingekriegt mit dem Khashoggi.“ (Alles Original-Zitate)

Was steht hinter diesen Vorwürfen? Allgemeine Verachtung für die Medien, klar. Die Überzeugung, dass den amerikanischen Geheimdiensten alles zuzutrauen ist, auch dies. Aber im Fall von Russland kommt noch etwas hinzu: der Russland-Komplex der Deutschen.

An seiner Existenz ist, von Thomas Mann bis Gerhard Schröder, nicht zu zweifeln. Aber die Liebe zu „Russland“, wie es ist oder wie wir es uns vorstellen, sollte uns doch nicht daran hindern, unangenehmen Wahrheiten ins Gesicht zu sehen. Ganz besonders, was die politische Führung des Landes betrifft.

Wehrmachtssoldaten, verliebt in Russland

Seit fast drei Jahrzehnten befasse ich mich nun mit Russland – Anfang der 90er hatte ich im Gymnasium am Rande der Schwäbischen Alb meine erste Russischstunde. Im Laufe dieser Zeit faszinierten mich immer wieder aufs Neue Geschichten darüber, wie Menschen „dem Russischen“ verfallen: Mal ist es die Liebe zu einer Frau, mal die Faszination des Baikalsees, mal die Musik. Ganz besondere Beispiele sind die Wehrmachtssoldaten, die Jahre in der Gefangenschaft in Sibirien verbracht hatten – und sich nach ihrer Rückkehr vornahmen, Tolstoj und Dostojewskij im Original zu lesen.

Auch heute gibt es in Deutschland die Faszination für Russland, und es ist ähnlich überraschend wie im Falle der Wehrmachtssoldaten, dass sie besonders dort ausgeprägt ist, wo die Menschen jahrzehntelang unter der Knute des „Großen Bruders“ zu leiden hatten: auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Das ist in Ordnung: Die Menschen in der DDR konnten neben den negativen Aspekten eines Lebens im sowjetischen Machtbereich in viel engeren kulturellen und sonstigen Austausch mit Russen und anderen Sowjetbürgern treten als Westdeutsche.

Die Linke, seit neuestem aber ganz besonders die AfD, bemühen sich, aus dieser Gefühlslage politischen Profit zu schlagen – der jüngste Ausflug des AfD-Parteichefs Tino Chrupalla nach Moskau, den die russische Propaganda genüsslich auskostete, gehörte dazu.

Es gibt nichts mehr zu exkulpieren

Einen Fehler begehen viele Russlandversteher in Ost und West dennoch immer wieder: In ihrem Bemühen, „Russland“ zu verteidigen, versuchen sie, Präsident Wladimir Putin zu exkulpieren, wo es im Jahr 2020, und erst recht im Jahr 2021, nichts mehr zu exkulpieren gibt: Ja, Putin hat sich beim Wiederaufbau des Landes nach den 90ern Jahren Meriten verdient. Aber bei der Durchsetzung seiner Interessen hat er inzwischen alle Hemmungen abgelegt. Grund dafür ist, dass er seine Interessen nicht mehr von denen des Landes trennt. Und um seine Macht zu sichern, befiehlt er dem Geheimdienst die Tötung seiner Gegner.

Das hat er im Fall des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny getan. Der wohl wichtigste Unterschied zu früheren Fällen besteht darin, dass der Fall mit Hilfe westlicher Investigativjournalisten praktisch komplett aufgeklärt werden konnte: Mit der jetzigen Veröffentlichung eines Telefongesprächs mit einem der FSB-Agenten, die an Nawalnys Vergiftung beteiligt waren, bleiben nur noch wenige offene Fragen. (Hier gibt es das Gespräch mit englischen Untertiteln.)

So stümperhaft agiert der FSB? Ja.

Und um die Frage vorweg zu nehmen: Ja, es ist durchaus vorstellbar, dass der FSB so stümperhaft agiert. Die Vorstellung, dass der russische Geheimdienst aus Super-Agenten besteht, kann als widerlegt gelten. Vielleicht war das zu Sowjetzeiten der Fall, aber eigene Erlebnisse (wie zum Beispiel meine Verhaftung durch den FSB in der Provinzstadt Woronesch, hier ab 6:40) bestätigen das Gegenteil: Der Geheimdienst agiert grob und mit wenig Fähigkeit zur Konspiration.

In Zusammenarbeit mit Bellingcat, Spiegel und CNN führt Nawalny den Geheimdienst vor, er lacht ihn aus, er zeigt der Welt: Der Zar ist nackt. Das mag erklären, warum der Machtapparat so nervös reagiert: Putin selbst versuchte auf seiner Pressekonferenz, die Fragen zur Causa Nawalny wegzulachen und wies mit dem Finger auf die amerikanischen Geheimdienste. Putins Pressesprecher Dmitrij Peskow ließ sich auf ein Niveau hinab, das man bisher vom ihm nicht kannte: Der „Patient“, wie er Nawalny nannte, leide an Verfolgungs- und Größenwahn. Zudem sei auch eine Obsession mit dem Intimbereich zu erkennen, erklärte er Journalisten. Damit spielte Peskow darauf an, dass das Gift Nowitschok laut Nawalnys Gespräch mit dem FSB-Agenten auf seine Unterhose aufgetragen wurde. An Zynismus ist diese Äußerung kaum zu überbieten.

Der Kreml reagiert nervös wie selten

Der FSB selbst, der sich traditionell zu jeglichen Vorwürfen ausschweigt, ließ wissen, das jüngste Video Nawalnys sei eine „Provokation“ mit Hilfe ausländischer Geheimdienste. Das russische Außenministerium wiederum erließ heute als Reaktion auf die europäischen Sanktionen im Falle Nawalny Einreisesperren gegen zehn deutsche und französische Beamte, darunter hohe Mitarbeiter des Kanzleramtes und des Verteidigungsministeriums.

Das alles sind Ablenkungsmanöver, scheinbare Zeichen der Stärke eines Machtapparats, den der Präsident seinen Interessen untergeordnet hat. Sie sind in erster Linie nach innen gerichtet, an die russischen Bürger: Auch wenn zehn oder zwanzig Millionen Russen Nawalnys Videos sehen, die meisten schauen immer noch Staatsfernsehen. Sie vertrauen der Staatspropaganda, sie glauben niemandem mehr, oder sie haben andere Sorgen, als sich mit Nawalny zu befassen.

Wir hierzulande dagegen sollten uns daran gewöhnen, dass Putins Verhältnis zur Wahrheit mindestens so gestört ist wie jenes von Donald Trump. Dass wir uns im globalen Machtkampf einen starken Gegenpol gegenüber den USA wünschen, darf uns nicht dazu verleiten, uns Putin schönzureden. Eher sollten wir daran arbeiten, Europas Unabhängigkeit in diesem Machtpol zu stärken.

Russland ist mehr als eine Tankstelle

Dass wir Putin dafür verachten, dass ihm im Kampf gegen seine politischen Gegner jedes Mittel recht ist, sagt nichts, aber auch gar nichts über unser Verhältnis zu Russland oder „den Russen“ aus. Man kann Russland lieben und Putin verachten, das ist kein Gegensatz. Es sagt viel über Deutschland aus, dass es hier keine Politiker wie den US-Republikaner Mitt Romney gibt, die mal eben raushauen: „Russland ist eine Tankstelle, die so tut, als wäre es ein Land.“ Wir sind zu eng verwoben mit Russland, historisch, kulturell, wirtschaftlich, wir können uns eine solche Arroganz nicht leisten.

Dass unsere Regierung alles dafür getan hat, um Alexej Nawalnys Leben zu retten, kann aus der Logik eines wahren Russlandverstehers dennoch nur richtig sein: Nawalny wird in einer Zukunft nach Putin, und die wird möglicherweise schneller kommen als mancher denkt, relevant sein. Putin und seine Handlanger nicht. Dass Deutschland dafür aus dem Kreml derart unter Feuer gerät, ist nur der Beweis dafür, dass es richtig war, so zu handeln. Und nein, damit machen wir uns nicht zum Büttel des CIA, und wir verhalten uns auch nicht feindlich gegenüber Russland.

Ein Letztes noch, bevor ich Ihnen, werte Leser, frohe Weihnachten wünsche. Wenn Sie mich nun in den Kommentaren fragen: „Herr Gathmann, wenn alles so stimmt wie von Ihnen beschrieben, und der Geheimdienst Nawalny sterben lassen sollte, warum in aller Welt hat Putin Nawalny dann nach Deutschland ausfliegen lassen?“, dann kann ich Ihnen nur mit einem Klassiker unter Russlandverstehern antworten: Mit dem Verstand ist Russland nicht zu fassen.

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