Flüchtlingsschiff Alan Kurdi - „Die Libyer haben auf die im Wasser treibenden Menschen gezielt“

Vor der libyschen Küste waren Mitarbeiter des Schiffes „Alan Kurdi“ bei der Seenotrettung mit Maschinengewehren bedroht worden. Ein Augenzeuge berichtet von dramatischen Szenen. Sind private Retter für solche Einsätze ausgebildet?

Vor dem Ertrinken und libyschen Gewehren gerettet: Die Flüchtlinge auf der „Alan Kurdi” konnten inzwischen in Italien an Land gehen / picture alliance
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Autoreninfo

Chiara Thies ist freie Journalistin und Vorsitzende bei next media makers.

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Felix Seidel ist Jurist und derzeit nautischer Wachoffizier auf dem Rettungsschiff „Alan Kurdi“. Das Schiff ist für die deutsche Nicht-Regierungsorganisation Sea-Eye im Mittelmeer unterwegs. 

Herr Seidel, am vergangenen Samstag haben Sie mit dem Rettungsschiff Alan Kurdi 91 Menschen aus Seenot gerettet. Bei dem Einsatz wurden Sie von Schnellbooten mit einem Maschinengewehr bedroht. Was ist da genau passiert?
Um 12 Uhr habe ich die Seewache von der Kapitänin übernommen. Zehn Minuten später war schon die Nachricht von „Alarm Phone“ da. Ein Schlauchboot würde sich 15 Seemeilen vor der Küste Libyens in internationalen Gewässern befinden, völlig überfüllt und ohne Motor. Wir haben Kurs auf die uns übermittelten Koordinaten genommen. Zu dieser Zeit war ich als Wachoffizier für die navigatorische Schiffsführung verantwortlich. Später, bei dem Einsatz vor Ort, war ich dann Bootsführer eines unserer zwei Rettungsboote. Wir erreichten das Schlauchboot, nachdem das andere Rettungsboot den Erstkontakt hergestellt und mit dem Austeilen der Rettungswesten begonnen hatte.

Wie war die Situation zu dem Zeitpunkt?
Als die Menschen uns sahen, waren sie ruhig. Es gab fünf medizinische Fälle an Bord, die aber soweit stabil waren. Die medizinischen Fälle und die zwei Frauen an Bord des Schlauchboots wurden vom anderen Rettungsboot zur Alan Kurdi gebracht. Als wir dann die nächsten Personen an Bord nehmen wollten, kam die Meldung, dass sich zwei Schnellboote nähern. Eins hatte ein Maschinengewehr am Bug befestigt. Als die Boote in Sichtweite waren, ist Unruhe im Schlauchboot ausgebrochen. Die Menschen wollten unkontrolliert auf unser Boot übersteigen. Die Situation war so gefährlich, dass ich die Entscheidung traf, dass wir uns auf 20 Meter Abstand zurückziehen. Daraufhin sind die ersten Menschen ins Wasser gesprungen und auf unser Rettungsboot zugeschwommen. Glücklicherweise hatten sie die ausgeteilten Rettungswesten an, da die wenigsten von ihnen schwimmen konnten.

Wie haben Sie den Einsatz erlebt?
Ich war geschockt, so eine unkontrollierte Situation habe ich noch nicht erlebt. Ich hatte Angst, dass die Situation aus dem Ruder läuft. Auch der martialische Auftritt der Libyer mit Maschinengewehr hat mich schockiert. Wir konnten nicht abschätzen, wie sich die Situation entwickelt. Also haben wir die Hände gehoben, um zu zeigen, dass wir ungefährlich sind. Sie haben uns erlaubt, zwei Menschen aus dem Wasser bei uns an Bord zu nehmen.

Haben die Männer in den Schnellbooten auch geschossen?
Ja, zweimal. Und ich habe gesehen, wie einer der Männer das Maschinengewehr durchgeladen und auf die im Wasser treibenden Menschen gezielt hat. In dem Moment dachten wir im Rettungsboot, dass er auf die Menschen schießen wird. Danach sind keine weiteren Menschen mehr von ihrem Schlauchboot ins Wasser gesprungen, um uns zu erreichen. Die Libyer auf dem Schnellboot haben uns dann auch verboten, weitere Menschen aufzunehmen. Es war schrecklich und frustrierend. Überall waren Menschen im Wasser, die um ihr Leben geschrien haben, weil sie nicht schwimmen können. Vorsichtig haben wir so viele Menschen aus dem Wasser gezogen, wie das Boot aufnehmen konnte. Dann mussten wir die Rettung vom Boot aus abbrechen und zur Alan Kurdi zurückkehren.

Trotzdem konnten Sie 91 Personen aus dem Wasser retten. Wie haben Sie das geschafft?
Wir haben an der Bordwand der Alan Kurdi ein Rettungsnetz angebracht. In einem unbeobachteten Moment ist das Schlauchboot längsseits gekommen und die Menschen sind in Panik an das Netz gesprungen. Wir haben sie dann von Hand über die Reling gezogen. Auch da ist zum Glück nichts passiert, obwohl wir noch Fahrt durchs Wasser gemacht haben.

Wer waren die Männer in dem Schnellboot?
Ich vermute, dass es Boote der libyschen Küstenwache waren. Sie hatten zwar keine Kennung, aber libysche Flaggen an ihren Booten. Das ist aber nicht von der libyschen Seite bestätigt worden. 

Die libysche Marine hat abgestritten, in den Vorfall verwickelt zu sein. Wieso glauben Sie dann trotzdem, dass es sich um die Küstenwache gehandelt hat?
Weil sie die gleichen Koordinaten von „Alarm Phone“ erhalten haben. Sie wussten also auch, dass sich Menschen von dem Schlauchboot auf den Weg gemacht haben.

Die libysche Küstenwache erhält EU-Gelder, um Flüchtlinge an der Überfahrt nach Europa zu hindern. War das ein solcher Einsatz? Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen, vermutlich war es aber so. Wenn die Menschen, die wir vergangenen Samstag getroffen haben, in Verbindung mit der libyschen Küstenwache stehen, ist das ein unmöglicher Zustand.

Sie konnten 91 Menschen retten, eine Person wurde anfangs vermisst. Konnte sich das aufklären?
Hier an Bord wird sie das noch immer. Ein Mann vermisst seinen Bruder. Wir wissen nicht, seit wann die Person vermisst wird. Ich würde es persönlich nicht ausschließen, dass er auch im Chaos während unseres Einsatzes verloren gegangen ist. Aber selbst wenn dem so wäre, hätten die Menschen noch Glück. Die Tage nach dem Rettungseinsatz hat sich das Wetter stark verschlechtert. Wenn dieses Boot bis nach Lampedusa weitergefahren wäre, wäre es sehr wahrscheinlich gewesen, dass es untergeht. Die 91 Personen an Bord wären wahrscheinlich alle ertrunken.

Seit sieben Wochen hat Italien eine neue Regierung aus Partito Democratico und Fünf Sterne Bewegung. Sie will eine liberalere Flüchtlingspolitik durchsetzen als der ehemalige Innenminister Matteo Salvini. Setzt sie das auch um?
Es scheint beinahe, als hätte sich nichts geändert. Es gab ja eine Absichtserklärung zwischen einigen wenigen EU-Mitgliedsstaaten. Für Stand-Off-Zeiten soll eine schnellere politische Lösung gefunden werden. Stand-Off-Zeiten bedeutet, dass man wie wir tagelang in internationalen Gewässern ausharrt und wartet, bis man in den Hafen darf. Anfangs schien es auch so, als ob das funktioniert. Ein anderes Seenotrettungsschiff konnte zweimal schnell in den Hafen einfahren und die Geretteten übergeben.

Nach einer Wartezeit von einer Woche konnten Sie in den italienischen Hafen Tarent einlaufen. Hätten Sie bei einem Noteinsatz nicht den nächstgelegenen Hafen ansteuern müssen? In diesem Fall einen in Libyen?
Es muss sich um einen sogenannten „Place of Safety“ handeln. Das ist Libyen definitiv nicht.

Wer legt fest, was ein „Place of Safety“ ist?
Der sogenannte „Place of Safety“ ist im internationalen Seerecht in der SOLAS Convention und in der SAR Convention eingeführt worden. Es gibt innerhalb der EU keine einheitliche Meinung, ob Libyen als Place of Safety anzusehen ist. Italien nahm dies unter dem ehemaligen Innenminister Matteo Salvini an. Die jetzige Regierung hat sich dazu noch nicht geäußert. Wenn Libyer Gerettete zurück nach Libyen bringen, bleibt dies in der Regel folgenlos. Sollten Europäer jedoch Gerettete zurück nach Libyen bringen, könnten diese eventuell vor dem Internationalen Gerichtshof klagen.

Lange Zeit auf offenem Meer, verzweifelte Menschen – was hat Sie dazu bewogen, diese Mission mitzufahren?
Ich spreche hier nur für mich: Jeder Mensch sollte das Recht haben, einen Antrag auf Asyl zu stellen. Zu diesem Recht gehört aber die Möglichkeit, das überhaupt zu tun. Diese faktische Möglichkeit wird durch die EU kontinuierlich und systematisch verbaut. Das ist für mich ein unerträglicher Zustand.

Stellen Sie sich vor, es wäre tatsächlich auf Sie geschossen worden. Wären Sie darauf vorbereitet gewesen? 
Natürlich ist es richtig, dass das eigentlich eine Aufgabe ist, die von professionell ausgebildeten und geschulten Menschen durchgeführt werden sollte. Wenn dies aber nicht erfolgt, ist es falsch, diese Aufgaben gar nicht zu erfüllen. Und selbstverständlich bereiten wir uns auch auf diese Missionen vor. Wir haben Schulungen, Übungen und bereiten uns mental darauf vor.

Wenn Sie darauf vorbereitet werden: Haben Sie dann auch Nachsorge wie eine Supervision?
Ja. Natürlich sprechen wir auch untereinander an Bord darüber und sind füreinander da. Ein professionelles Gespräch gibt es, wenn wir wieder an Land und im Hafen sind.

Wenn jetzt die geretteten Flüchtlinge sicher in Europa ankommen und ihren Verwandten zu Hause von der Seenotrettung erzählen, lösen Sie mit Ihrer Mission dann nicht einen Pull-Effekt aus?
Es gibt Studien, die das Gegenteil belegen. Nach meinen Erfahrungen, die ich hier an Bord gemacht habe, glaube ich das auch nicht. Erst neulich hat ein Schlauchboot Kurs auf Lampedusa genommen. Es hat sich aber kein Rettungsschiff in der Nähe befunden. Die sind also die halbe Strecke auf rauer See alleine gefahren, bevor sie gerettet werden konnten. Das spricht dafür, dass die Boote auch rausfahren, wenn keine Retter in der Nähe sind. Und das sind nur die Schlauchboote, von denen wir Kenntnis haben. Ich bin mittlerweile davon überzeugt, dass auch viele rausfahren, von denen wir nichts mitbekommen. Daher halte ich diesen Pull-Effekt für einen Mythos.

Die EU-Staaten führen momentan keine professionelle Seenotrettung durch. Was würden Sie sich von denen wünschen?
Eine staatlich organisierte Seenotrettung. Dass unser Job, den wir als Freiwillige machen, von Profis übernommen wird, damit keine Menschen mehr ertrinken müssen. Zum anderen muss es möglich sein, einen Asylantrag in der EU zu stellen, ohne sein Leben zu riskieren. Wir müssen es schaffen, die Ursachen dafür, dass Menschen ihre Heimat verlassen, zu bekämpfen. Und natürlich müssen diese Stand-Off-Zeiten verkürzt werden. Das ist einfach unerträglich. Wir wollen die Menschen, die wir gerettet haben, so schnell wie möglich in Sicherheit übergeben.

Die Fragen stellte Chiara Thies. Sie hat das Interview geführt, während die „Alan Kurdi“ noch nach einem Hafen gesucht hat. 

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