Abtreibungsverbot in Polen - „Das ist ein Krieg“

Der Generalstreik der Frauen am Mittwoch war der Höhepunkt der seit letzter Woche andauernden Proteste gegen ein Abtreibungsverbot durch das Verfassungsgericht. Sogar die katholische Kirche hat sich davon distanziert.

Das Abtreibungsverbot treibt in Polen Tausende Frauen auf die Straße, die für ihre Selbstbestimmung einstehen / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Thomas Dudek kam 1975 im polnischen Zabrze zur Welt, wuchs jedoch in Duisburg auf. Seit seinem Studium der Geschichts­­wissen­schaft, Politik und Slawistik und einer kurzen Tätigkeit am Deutschen Polen-Institut arbei­tet er als Journalist.

So erreichen Sie Thomas Dudek:

Anzeige

„An dieser Stelle sollte sich ein Nachrichtentext befinden, aber wir streiken." Diesen Text konnte man am Mittwoch an mehreren Stellen von Gazeta.pl lesen, einem der größten Nachrichtenportale Polens. Der Grund: Die Redakteurinnen befanden sich, so wie Millionen anderer Frauen, in einem landesweiten Generalstreik. Egal ob an den Hochschulen des Landes, in den Krankenhäusern oder in Banken. Zumindest zeitweise legten Frauen heute ihre Arbeit nieder. Jene Frauen, aber auch Männer, die dies nicht tun können, zeigen sich mit den Streikenden in den sozialen Netzwerken solidarisch. Das Erkennungszeichen ist ein roter Blitz.

Ein roter Blitz, der seit dem Donnerstag vergangener Woche allgegenwärtig ist. Denn der „Frauenstreik“ ist nur der bisherige Höhepunkt der seit Donnerstag im ganzen Land trotz stark steigender Coronazahlen täglich stattfindenden Proteste. Diese haben die Kraft, Polen nicht nur politisch, sondern auch gesellschaftlich zu verändern. Sie könnten nicht nur die PiS vorzeitig die Macht kosten, sondern auch die Katholische Kirche um ihren Einfluss auf die Politik und ihren Rückhalt in der Gesellschaft bringen.

Ist Kaczyński Stratege oder Populist?  

Auslöser dafür ist ein am Donnerstag gefallenes Urteil des von der PiS domestizierten Verfassungsgerichts. Danach verstößt die bisher geltende Regelung, wonach schwer missgebildete oder unheilbar kranke Föten abgetrieben werden dürfen, gegen die Verfassung. Sobald dieses Urteil durch dessen Veröffentlichung in Kraft tritt, herrscht in Polen de facto ein Abtreibungsverbot. Die seit 1993 geltende Regelung erlaubte bisher bis zur 12. Woche Schwangerschaftsabbrüche bei Vergewaltigung, einer Gefahr für die Gesundheit der Mutter oder eben bei irreparablen Schäden des Embryos.

Von den im Jahr 2019 1.100 offiziell getätigten Abtreibungen wurden 1.074 aus exakt diesem Grund durchgeführt. Es ist ein Urteil, bei dem man sich die Frage stellt, wie es der allmächtige PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński, der seit einigen Wochen auch stellvertretender Ministerpräsident ist, überhaupt dazu kommen lassen konnte. Ist er wirklich der gewiefte politische Stratege, für den ihn zum Teil sogar einige Oppositionspolitiker hielten? Oder nicht doch eher ein Populist, der allein wegen einer ideenlosen, unglaubwürdigen und an charismatischen Gesichtern armen Oppositition bei allen Wahlen seit 2015 Erfolge feiern konnte? Zuletzt im Sommer, als die Wiederwahl von Andrzej Duda zum Staatspräsidenten gelang. 

50 Prozent der Polen hatten sich mit dem Gesetz arrangiert

Die seit nun fast 30 Jahren als „Kompromiss“ geltende Regelung, beschlossen von Politik und der Katholischen Kirche, bescherte dem Land ein im Vergleich zu anderen europäischen Staaten sehr strenges Abtreibungsgesetz, das sich in der Praxis oft auch als noch rigoroser erwies. Beispielhaft dafür ist der Warschauer Gynäkologe Bogdan Chazan. 2014 sorgte er für Schlagzeilen, als er die Abtreibung eines schwer missgebildeten Fötus so lange verzögerte, bis diese rechtlich nicht mehr möglich war. „Nach der Geburt hatten die Ärzte Angst, uns das Kind zu zeigen“, klagte das betroffene Elternpaar

Doch trotz all seiner Makel war es ein Kompromiss, der den gesellschaftlichen Frieden sicherte. Wie eine im Dezember vergangenen Jahres veröffentlichte Umfrage ergab, sprachen sich 50 Prozent der befragten Polen für den Erhalt des Status Quo aus. Bei Wählern der PiS lag die Zustimmung für den Erhalt des Kompromisses bei 61 Prozent. 

Der Plan für eine Verschärfung des Abtreibungsgesetzes ist nicht neu  

Und wie das Thema Abtreibungsgesetz die Gesellschaft mobilisieren kann, musste die PiS bereits mehrmals erfahren. Immer, wenn eine mögliche Verschärfung des Abtreibungsgesetzes Thema wurde, gab es landesweite Proteste.

Was die PiS auch wiederholt zu einem Rückzieher bewog. So verschwand nach den „Schwarzen Protesten“ von 2016 die entsprechende Bürgerinitiative schlicht in den Schubladen des zuständigen Parlamentsausschusses. Auch ein von PiS-Politikern an das Verfassungsgericht gereichter Antrag zu dem Thema versandete. Das Verfassungsgericht fand angeblich drei Jahre lang keine Zeit, sich damit zu beschäftigen. Erst nun, nach einem erneuten Antrag von über 100 Parlamentariern, die vorwiegend der PiS angehören, fiel die Entscheidung des Verfassungsgerichts.

74 Prozent der Polen sind gegen das Abtreibungsverbot 

Die große Frage ist nur, weshalb Kaczyński ausgerechnet jetzt ein brennendes Streichholz an ein offenes Benzinfass hält. Als wäre es nicht schon genug, dass man mit Ach und Krach eine Koalitionskrise kitten konnte und dass das Land unter einer zweiten Welle der Coronapandemie ächzt, die in Polen viel dramatischere Auswüchse hat als in Deutschland. Schon jetzt stößt das Gesundheitssystem an seine Grenzen, was der Regierung bereits heftigste Kritik einbrachte.

Die Dimension des Abtreibungsurteils können Kaczyński und seine Nationalkonservativen nun jedenfalls täglich beobachten. „Das ist Krieg“,  lautet einer der Slogans der Proteste, bei denen auch immer lauter der Rücktritt der Regierung gefordert wird. Und mit Sorge muss die PiS feststellen, dass diese Demonstrationen nicht nur in den liberalen Großstädten wie Warschau und Danzig stattfinden. Auch in Kleinstädten, traditionellen Hochburgen der Nationalkonservativen, gehen aus Protest gegen das De-Facto-Abtreibungsverbot täglich Tausende auf die Straße. Was beim Blick auf eine am Mittwoch veröffentlichte Umfrage wenig erstaunt. Danach sind 73 Prozent der Polen gegen das Urteil des Verfassungsgerichts. 54 Prozent der Polen unterstützen die Proteste.

Sogar die katholische Kirche distanziert sich

Proteste, in deren Mittelpunkt auch immer mehr die katholische Kirche rückt. So mussten am Sonntag zahlreiche Gottesdienste unterbrochen werden, weil Aktivisten den Protest auch in die Kirchen trugen. Was zumindest innerhalb des Episkopats die PiS-kritischen Stimmen lauter werden lässt.

Während der Posener Erzbischof Stanisław Gądecki noch am Donnerstag die Richter des Verfassungsgerichts quasi aus der Ferne segnete, erklärte am gestrigen Mittwoch der Sprecher der Bischofskonferenz, dass es sich bei dem Urteil um eine „rein politische Entscheidung“ handelt. „Die Kirche hat diesen Krieg nicht ausgerufen. Diesen Krieg wollten wir wirklich nicht.“ 

Kaczyński nimmt die Kirche in Geiselhaft

Doch Jarosław Kaczyński scheint diese Distanzierung nicht zu beeindrucken. In einer gestern veröffentlichten Videoerklärung sprach Kaczyński von einem „von unseren Gegnern erklärten Krieg“, den man „gewinnen müsse“, und er rief seine Anhänger dazu auf, die Kirche und somit Polen gegen Kritiker zu „verteidigen“. Aussagen, mit denen er nicht nur das Gewaltmonopol des Staates aushebeln, sondern auch die Kirche in Geiselhaft zu nehmen versucht.

In der aktuellen Situation, in der sich rechtsradikale Schläger als Verteidiger der Kirche aufspielen und Aktivisten die Privatadressen der an dem Urteil des Verfassungsgerichts beteiligten Personen in sozialen Netzwerken veröffentlichen, sind es nicht die Worte eines verantwortungsvollen Politikers. Es sind die Worte eines Brandstifters.

Anzeige