Abendpost aus der Ukraine - „Eure Angst macht Putin stark“

Eine Reise von Steinmeier und Scholz nach Kiew wäre ein Signal an die Ukrainer und eine kalte Dusche für Putin, sagt Präsidentenberater Serhij Leschtschenko. Einen Atomkrieg hält er für ausgeschlossen. Und er ruft die Ukrainer dazu auf, in die Heimat zurückzukehren.

„Je mehr Menschen hier sind, desto mehr normalisiert sich das Leben“: Majdan-Platz in Kiew / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

So erreichen Sie Moritz Gathmann:

Anzeige

Der 41-jährige Serhij Leschtschenko war lange einer der führenden Journalisten der Ukraine. Nach dem Euromaidan wurde er Abgeordneter, 2019 unterstützte er Selenskyj während dessen Präsidentschaftskampagne. Seit Beginn des Krieges lebt Leschtschenko in der Präsidialverwaltung in Kiew.
 
Herr Leschtschenko, der Streit zwischen Berlin und Kiew scheint beigelegt, einem Besuch der deutschen politischen Führung steht nichts mehr im Wege. Wie wichtig wäre denn ein Besuch von Scholz und Steinmeier in Kiew?

Das wäre nicht nur ein wichtiges Signal der Solidarität mit der Ukraine, sondern es wäre eine kalte Dusche für Putin. Denn es würde zeigen, dass die Investitionen in deutsche Politiker, die er jahrelang über seine Einflussagenten getätigt hat, sich in Luft aufgelöst haben. Diese Leute haben jetzt kein Gewicht mehr. Das muss auch ein klares Zeichen für die Zukunft sein: Die Methode, ehemalige Politiker zu kaufen und sich damit geopolitische Vorteile zu verschaffen, darf keine Zukunft haben.

Hat Sie denn der Streit zwischen Deutschland und der Ukraine verwundert?

Ich habe ein sehr enges Verhältnis zu Deutschland, besonders zu Berlin. Meine Erfahrungen in Deutschland haben mein Weltempfinden maßgeblich geprägt. Ich verfolge auch seit Jahren mit Interesse die Debatten in der deutschen Politik. Deshalb war es für mich schmerzhaft, dass Deutschland sich nach Beginn des Krieges uns gegenüber so zurückhaltend verhalten hat.

Zum Streit um den Steinmeier-Besuch will ich sagen: Der Krieg ist eine Zeit, in der man das sucht, was einen eint – im Gegensatz zu dem, was einen trennt. Ich habe mit mehreren Menschen, mit denen ich in den letzten Jahren große politische Konflikte hatte, die bis zu persönlichen Beleidigungen gingen, Frieden geschlossen. Zwischen Steinmeier und Selenskyj gab es längst nicht solche Spannungen wie zwischen mir und manchen politischen Gegnern.

Auch wenn die Bundesregierung inzwischen ihren Kurs geändert hat, gibt es in Deutschland noch immer eine starke Fraktion, die gerne Frieden ohne Waffen schaffen möchte. Dort dominiert die Angst vor einem Atomkrieg. Können Sie diese Menschen verstehen?

Nein. Putin nährt sich an der Angst dieser Menschen. Er ist stark, weil sie Angst haben. Ich glaube nicht, dass es einen Atomschlag geben wird. Putin hat es mit seinen Truppen ja nicht einmal geschafft, über den Fluss Irpen zu kommen, der 40 Meter breit ist. Er kann keinen Atomkrieg beginnen. Er lebt in der Welt der Kriege von Mitte des letzten Jahrhunderts. Aber moderne Kriege werden anders gewonnen.

 

Moritz Gathmanns Abendpost aus der Ukraine:

 

Haben Sie nicht auch Angst?

Natürlich haben wir Angst zu sterben. Aber ich bin eben überzeugt, dass es keinen nuklearen Angriff geben wird. Genauer: Ein nuklearer Angriff, der das Ende der Welt bedeutet, ist unmöglich. Und ein lokal begrenzter Atomschlag führt zum Ende Russlands. Er würde für Putin nichts lösen, er wäre sogar kontraproduktiv.

Viele in Deutschland fragen sich auch, was ein „Sieg der Ukraine“ denn konkret bedeuten könnte.

Das Sterben der Menschen zu beenden – und zu den Grenzen zurückzukehren, die bis 24. Februar bestanden. Es gibt immer mehr Menschen, die davon sprechen, dass dieser Krieg Jahre dauern wird. Das finde ich nicht akzeptabel. Denn das bedeutet einen jahrelangen Niedergang der Wirtschaft. Wir müssen zurück zum territorialen Status quo, der vor Beginn des Krieges galt. Die Frage der besetzten Gebiete – Donezk, Luhansk und Krim – muss extra geklärt werden, auf diplomatischem Weg, und unter dem Versprechen, keine Waffengewalt anzuwenden.

Finden die sogenannten „Friedensgespräche“ zwischen Russland und der Ukraine denn noch statt?

Serhij Leschtschenko

Die Arbeitsgruppen treffen sich per Zoom. Dort werden aber nur technische Details besprochen. Eigentlich werden diese Gruppen nur weitergeführt, um den Kontakt auf Expertenniveau aufrechtzuerhalten. Es geht um humanitäre Fragen, den Austausch von Gefangenen. Aber es gibt dort keine Annäherung bei den wirklich wichtigen Fragen. Am Ende der Gespräche muss ein Treffen von Putin und Selenskyj zum Beispiel in der Türkei stehen. Aber das Treffen findet nicht statt, weil der Kreml nicht will. Sie sind nicht bereit, ihren Teil zum Kompromiss beizutragen, obwohl wir unsere Kompromissbereitschaft gezeigt haben. Wir geben Putin die Chance, den Krieg zu beenden. Er kann sagen: Wir haben eine Neutralität der Ukraine erreicht, die Raketen der Nato werden nicht ins Fenster der Bewohner von Brjansk und Tambow schauen. Es wäre in seinem Interesse, den Krieg jetzt zu beenden. Aber je mehr wir militärisch erreichen, desto gesprächsbereiter wird Russland.

In der Ukraine steht der 8. Mai bevor, der „Tag des Gedenkens und der Versöhnung“. Es wird erwartet, dass Russland den 9. Mail, den „Tag des Sieges“, für eine Art Siegesfeier über die Ukraine nutzen wird. Was wird in der Ukraine passieren?

Selenskyj bereitet sich intensiv auf den 8. und 9. Mai vor. Ich kann sagen, dass etwas passieren wird, was viele verwundert. Aber er hält so etwas immer geheim.

Können denn die Ukrainer, die in die EU geflohen sind, jetzt wieder in die Heimat zurückkehren?

Das hängt sehr von der Region ab. Die Situation ist in Charkiw oder Dnipro ganz anders als hier bei uns. Aber ich rufe alle dazu auf, nach Kiew zurückzukommen. Je mehr Menschen hier sind, desto mehr normalisiert sich das Leben: Je mehr Menschen, desto größer die Nachfrage nach Kinos, nach Cafés, nach Supermärkten. Die Wirtschaft ist das schwächste Glied momentan. Wir müssen die wieder in Gang bringen. Ab Samstag gibt es schon wieder Regionalbahnen von Kiew in die Vororte Butscha und Irpen. Wir haben es innerhalb eines Monats geschafft, die zerstörte Eisenbahnbrücke wieder aufzubauen. Die europäischen Länder sollten die Ukrainer, die aus Kiew, Lemberg oder anderen Städten kommen, die nicht unmittelbar bedroht sind, ermutigen, in die Heimat zurückzugehen.

Aber auch in Kiew schlagen noch immer Raketen ein, zuletzt vor etwa einer Woche. Von Bürgermeister Klitschko heißt es deshalb immer wieder an die Kiewer gerichtet: Wenn Sie einen sichereren Ort zum Leben haben, bleiben Sie vorerst dort.

Das ist ein Fehler. Wir müssen aufhören, uns zu fürchten. Natürlich besteht noch immer eine gewisse Gefahr durch die russischen Raketen. Aber das ist die neue Normalität, vielleicht für Jahre. Daran müssen wir uns gewöhnen.

Das Gespräch führte Moritz Gathmann.

Anzeige