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(picture alliance) Al Gore unterstützt Barack Obama im Wahlkampf

US-Wahlsystem - Wird Obama ein Präsident ohne Mehrheit?

Bei der Präsidentschaftswahl 2000 verlor Al Gore gegen George W. Bush, obwohl Gore die Stimmenmehrheit der Amerikaner hinter sich hatte. Ihm fehlte jedoch die Mehrheit der Wahlmänner. Nun könnte sich die Geschichte wiederholen, diesmal jedoch anders herum, zugunsten der Demokraten

Noch 5 Tage – und am 6. November wählen die USA ihren Präsidenten: Cicero-Online-Korrespondent Malte Lehming berichtet zu diesem Anlass in einem Countdown über besondere Ereignisse und Kuriositäten während des Wahlkampfs.

In seinem Bestseller „Stupid White Men“ schimpft sich Michael Moore die Seele aus dem Leib. Besonders empört ist er über George W. Bush und die „gestohlene“ Präsidentschaft im Jahr 2000. Moore schreibt:

„Al Gore ist der gewählte Präsident der Vereinigten Staaten. Er erhielt 539.898 Stimmen mehr als George W. Bush. Dennoch sitzt er heute nicht im Oval Office. Statt dessen zieht unser gewählter Präsident ohne Ziel und Auftrag durchs Land und taucht nur gelegentlich auf, um vor Collegestudenten einen Vortrag zu halten oder seinen Vorrat an Little Debbie’s Snack Cakes aufzustocken. Al Gore hat gewonnen. Al Gore, Präsident im Exil. Lang lebe El Presidente Albertoooooo Gorrrrrrrrrrre!“

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Erinnerungen werden wach. Gore hatte die Stimmenmehrheit der Amerikaner hinter sich, aber nicht die Mehrheit der Wahlmänner. Doch auf die kommt es an. Entschieden wurde die Wahl letztlich, nach wochenlangen Nachzählungen und juristischen Manövern, in Florida. 537 Stimmen gaben den Ausschlag. Kein Wunder, dass die Unterstützer von Barack Obama jetzt in allen acht Swingstates eine TV-Werbekampagne lanciert haben, in der Bilder von Bush, Dick Cheney und dem Irakkrieg zu sehen sind, während eine Stimme mahnt: „537 Stimmen haben über den Kurs Amerikas entschieden. Jede Stimme zählt.“

Doch es zählt nicht jede Stimme. In Amerika leitet sich durch das System der Wahlmänner aus einer absoluten Stimmenmehrheit nicht direkt eine Mandatsmehrheit ab. Nun liegt Mitt Romney im Durchschnitt der nationalen Umfragen seit gut drei Wochen knapp, aber stabil vor Obama, während Obama seit längerer Zeit über eine deutliche, stabile Mehrheit bei den Wahlmännern verfügt. Wiederholt sich die Geschichte, nur diesmal anders herum? Nehmen die Demokraten 2012 Revanche für 2000?

Würde morgen gewählt, könnte Obama – statistisch gesehen – Präsident bleiben, während Romney die absolute Mehrheit der Stimmen erhält. Laut dem Wahlexperten Charlie Cook ist die Wahrscheinlichkeit dafür durchaus real. Eine solche Teilung der Mehrheiten hat es in der amerikanischen Geschichte zwar schon viermal gegeben (1824, 1876, 1888, 2000), aber erst ein einziges Mal in den vergangenen 124 Jahren. Auch deshalb hatte der Bush-Sieg über Gore die Spaltung im Land noch weiter vertieft.

Was es allerdings noch nie gab: Dass ein Amtsinhaber im Weißen Haus bleibt, obwohl eine Mehrheit der Amerikaner gegen ihn votierte. Insofern wäre das Ergebnis einer geteilten Mehrheit im Jahre 2012 – Zahl der Wahlmänner pro Obama, Zahl der absoluten Stimmen pro Romney – eine Premiere.

Jeder Präsident der jüngeren amerikanischen Geschichte – Dwight Eisenhower, Richard Nixon, Ronald Reagan, Bill Clinton, George Bush – bekam bei seiner Wiederwahl mehr Stimmen als bei seiner ersten Wahl, bilanziert Karen Tumulty in der „Washington Post“. Ein Sieg Obamas bei den Wahlmännern, der nicht begleitet wird von einer Mehrheit der absoluten Stimmen, würde „einen Schatten auf den Präsidenten werfen und auf dessen Fähigkeit zu regieren“. Juliet Lapidos von der „New York Times“ ergänzt: Bei einer Teilung der Stimmen könnte Obama „kein Mandat mehr für sich beanspruchen“.

Das geht wohl zu weit. Im Jahr 2000, als Bush ein Mandat für sich beanspruchte, verteidigten die Republikaner vehement das Wahlmännersystem als amerikanische Besonderheit. Folglich müssten sie fair genug sein, auch einen Obama 2012 als Wahlsieger anzuerkennen, falls dieser in absoluten Stimmzahlen unterlegen sein sollte. Das schließt spontane Zeter- und Mordio-Geschreie nicht aus. Doch nach einiger Erregungszeit sollten die Konservativen ihre Gefühle wieder im Zaum haben. Nur schlechte Verlierer beschweren sich nach dem Spiel über die Spielregeln.

Grundsätzlich freilich lässt sich das Wahlmännersystem aus demokratietheoretischer Sicht kaum verteidigen. Im bevölkerungsarmen Wyoming etwa reichen 189.000 Wähler für die Stimme eines Wahlmannes, im bevölkerungsreichen Kalifornien braucht man dafür 679.000 Wähler. Außerdem ist es ein Unding, dass sich die Wahl auf einige wenige Swingstates konzentriert. Obama muss seine Politik nie im tiefschwarzen Mississippi verteidigen, Romney sich nie im linken Vermont kritischen Fragen stellen. Denn Mississippi ist für Demokraten ebenso verloren wie Vermont für Republikaner. Weil das Ergebnis in diesen Staaten praktisch feststeht und das Prinzip gilt „the winner takes all“, lohnt der Gang ins Wahllokal nicht.

Doch die Regeln mögen falsch und ungerecht sein: Wenn sie feststehen und von beiden Seiten akzeptiert wurden, gelten sie. Dann ist Sieg Sieg und Niederlage Niederlage. Post festum lässt sich allenfalls lamentieren, aber nichts ändern. Spannend dürften die Reaktionen trotzdem werden. Denn ein Präsident Obama, der im Amt bleibt, ohne die Mehrheit der Stimmen bekommen zu haben: Mal sehen, was Michael Moore dazu sagt.

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