Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
(Werner Kranwetvogel / lumas.de) Massenspektakel auf koreanisch

Nordkoreas Massentanzspektakel - Olympia auf Steroiden

Zehntausende Tänzer, Turner und Akrobaten präsentieren bei Nordkoreas Massenspektakel „Arirang“ nationalistischen Megapomp: Streng einstudierte Stafetten und Sequenzen, die der Herrschaft des jungen Führers Kim Jong-un visuell gigantische Akzente verleihen. Größenwahn? Ach was

Madeleine Albright war geschockt, fast sprachlos. Es war in Pjöngjang im Oktober 2000. Als erstes hochrangiges Mitglied einer US-Regierung überhaupt war die amerikanische Außenministerin gerade in die nordkoreanische Hauptstadt gereist, um mit dem „lieben Führer“ Kim Jong-il direkte Gespräche zu führen. Dann, geradezu aus dem Nichts, wartete der mit einer besonderen Überraschung auf, um Albright die „Kultur und Kunst“ seines Landes näher zu bringen. Wenige Stunden später marschierten beide Seite an Seite ins May Day-Stadion ein. Frenetischer Stakkato-Applaus setzte ein, bestimmt 100.000 Tänzer, Akrobaten und fahnenschwenkende Kinder gerieten in Ekstase.

Albright war gewiss nicht die einzige westliche Augenzeugin, die die überwältigenden Eindrücke von der Megalomanie nordkoreanischer Massentanzfestivals mit nach Hause nahm. Das zwischen 2002 und 2012 fast jährlich veranstaltete Spektakel „Arirang“, laut Guinness-Buch die größte Turn- und Artistikshow der Welt, bringe einen Drill-Sergeant zum Weinen, einen Tanzchoreographen zum Lechzen, einen Musical-Produzenten zum Schwärmen, berichtete der sichtlich ergriffene Journalist Andrew Salmon.

[gallery:Nordkoreas Massentanzspektakel Arirang]

Auch in diesem Jahr, seit Anfang August, schlagen Nordkoreas Tänzer wieder Räder, fliegen Akrobaten wie Kanonen durch die Luft, sorgt eine Kartenwand aus Zehntausenden von Kindern mit Bildern des ehrwürdig gehuldigten Staatsgründers Kim Il-Sung für das passende Panorama der Show. Bis Oktober sind die Tore auch für westliche Neugierige und Spektakelbegeisterte geöffnet.

Nationalistischer Megapomp in sechs Akten

Auf dem Spielfeld des Stadions befinden sich etliche Tänzer, Turner und Akrobaten, die Flaggen schwingen, auf Springbrettern oder Trampolinen hüpfen oder Rhönrad fahren – das alles in streng einstudierten Stafetten und Sequenzen, die in unglaublichem Tempo wechseln, wenn Hunderte von Darstellern in Sekundenschnelle das Stadion verlassen und neue einmarschieren. Manche Einlage erinnert an den Zirkus oder an ein Musical. Den zweiten Teil bildet die Gegentribüne, auf die die Zuschauer blicken. Dort befinden sich zwischen zwanzig- und dreißigtausend Schulkinder. Man wundert sich mithin, wie sich die Mosaike, Dioramen und Bilder in so schneller Folge verändern. Des Rätsels Lösung: Die Kinder halten bücherähnliche Tafeln in ihren Händen, die aus rund 200 Farbkartons bestehen. Nach monatelangem Training sind sie in der Lage, diese so rasch unisono hochzuhalten, dass sich dadurch eine dynamische, geradezu filmische Animation ergibt. Durch zumeist traditionelle koreanische Volkslieder oder opernhafte Arien soll die Show ihre Kohärenz und Dynamik, aber auch ihre mythologisch inszenierte Theatralik und heroische Sentimentalität erhalten.

Seite 2: Unendliche Freundschaft zwischen China und Korea

Die 90-minütige Vorstellung erzählt im Grunde die offiziell „gültige“ Geschichte Nordkoreas. Nach einem „Großen Präludium“ wird das Heldentum Kim Il-sungs, von der flammende Sonne ikonographiert, besungen und mit Waffenbildern aus dem Befreiungskampf untermalt. Nach einer Ode an den koreanischen Nationalismus und Militarismus folgen politische Botschaften über die stolze und prosperierende Gesellschaft. Und dann tritt zum Vorschein, wie sich Pjöngjangs Machthaber die Zukunft vorstellen; die Utopie einer koreanischen Wiedervereinigung etwa, hinter sozialistischen Vorzeichen wohlgemerkt, ist bis heute ein unverrückbares Ziel des Regimes geblieben. Nicht umsonst ist das Festival nach einem, in beiden Koreas populären Volkslied benannt, das die Einheit auf der Halbinsel emotional beschwört. Der melancholisch inszenierte Schmerz der nationalen Trennung und der Wunsch nach Einheit ist dabei ein Thema, das in der gesamten Show immer wieder aufflammt.

Interessanterweise ist dem Massenfestival in den letzten Jahren ein weiteres Kapitel hinzugefügt worden: Hier wird die „unendliche Freundschaft zwischen China und Korea“ zelebriert, ganz offenbar als politisches Zeichen des Respekts an den „großen Bruder“ in Peking, von dem Nordkorea existenziell abhängig ist. Da auch die Show im Jahr 2012 mit derlei anbiedernden Botschaften nicht gespart hat, wurde bereits spekuliert, dass der neue Herrscher in Pjöngjang, Kim Jong-un, auf diese Weise seinen Willen zu wirtschaftlichen Reformen nach dem chinesischen Modell bekundet haben könnte.

„Ein großer Erfolg unserer Kultur“

Die Führer in Pjöngjang wissen um die Wirkung sportiver Massen. Gymnastikaufführungen mit tausenden von Teilnehmern akribisch zu organisieren, gehört seit Jahrzehnten zur Ertüchtigungs- und Propagandapolitik des Regimes. Verbunden mit dem konfuzianischen Akzent auf sozialer Harmonie verbirgt sich dahinter besonders der Glaube an ein sozialistisches Gesellschaftsideal, an ein starkes Kollektiv aus hörigen, unterwürfigen Menschen in voller körperlicher und geistiger Gesundheit. „Körperliche Ertüchtigung und Sport sind für die Masse des Volkes bestimmt“, so der Sohn des Staatsgründers, Kim Jong-il, über die existenzielle Bedeutung des Massensports für den Sozialismus nordkoreanischer Provenienz. „In kapitalistischen Gesellschaften sind sie ein Mittel des Vergnügens und des Geldmachens, in unserer Gesellschaft aber verleihen sie dem Volk seine Kraft.“

In den 1960er Jahren rief die Führung auch eine neue Staatsideologie aus. Mit Chuch´e dekretierte sie Autarkie, Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. Die Botschaft an das nordkoreanische Volk war eindeutig: Nur durch Demut, Gehorsam und Zurückstellung ihrer individuellen Bedürfnisse und Freiheiten könne die Gesellschaft als Ganzes funktionieren und sich schädlichen Fremdeinflüssen erwehren. Für die kollektive Einheit und Harmonie sei nichts schädlicher als eigennütziger Individualismus. Seit den 1980er Jahren – und mit dem unübersehbaren wirtschaftlichen Zerfall des Landes – hat sich mehr und mehr ein radikaler ethnozentrierter Nationalismus heraus kristallisiert, der zur prägenden politischen und gesellschaftlichen Triebkraft avancierte. Radikaler denn je pries das Regime nun die Größe, die Überlegenheit, das Heldentum, den Stolz und das Selbstwertgefühl der koreanischen Nation. Auch hier blieb der Sport nicht unberührt, im Gegenteil. Sportliche Massenveranstaltungen waren notwendig, um das Volk „auf Linie“ zu halten und zu mobilisieren.

Seite 3: Botschaften an die Welt

All dies scheint für die nordkoreanische Herrscherclique in der heutigen Zeit wichtiger denn je. Angesichts der desolaten wirtschaftlichen Situation und der immer wieder heraufbeschworenen politischen Instabilität der Volksrepublik überrascht das keineswegs. Nordkorea ist ein „gescheiterter Staat“, der seit Jahrzehnten die Grundbedürfnisse des Volkes nicht mehr annähernd zu erfüllen im Stande ist. Umso eindringlicher muss die Führung ihre Fähigkeit scheinhaft unter Beweis stellen, die Fäden der Macht fest in den Händen zu halten. Umso mehr muss es ihr entgegen allen Härten des Alltags darum gehen, die Einzigartigkeit, Stärke und Stabilität des politischen Systems zu demonstrieren und seine Führer zu glorifizieren. Und umso mehr muss sie die Einheit der (gesamten koreanischen!) Nation immer wieder aufs Neue verkünden oder vielmehr: von seinem eigenen Volk verkünden lassen.

Wie sollte es einfacher sein, durch farbenfrohe Massenfestivitäten das Grau des Alltags vergessen zu lassen, mehr noch: die Solidarität des Volkes mit der Machtelite heraufzubeschwören? Leider gibt es keinen Anlass zur Annahme, dass dies den Machthabern nicht auch gelingt. Über die Teilnehmer von Arirang ist so viel – oder so wenig – bekannt wie überhaupt von den (wahren) Überzeugungen und Wünschen der Menschen in diesem isolierten Land. Viel mehr als ein staatlich manipuliertes Indiz für die weitflächige Indoktrinierung der Bevölkerung mag uns auch Arirang nicht offerieren. Alle schulischen Einrichtungen bewerben sich um eine Teilnahme und begeben sich in ein hartes Auswahlverfahren. Schüler werden vom Unterricht freigestellt, um zu trainieren. Nur die Talentiertesten erhalten diese einmalige Chance. Auch wenn man als Nordkoreaner enthusiastische Begeisterung für das Festival zeigen muss, ist es für die meisten wohl tatsächlich eine Ehre, Teil der Spiele zu sein.

Botschaften an die Welt

Arirang ist eine eigentümliche Symbiose aus nordkoreanischer Körperkultur, Ideologie und Massenmobilisierung. Es ist vor allem für das eigene Publikum bestimmt, für die Teilnehmer mithin, deren monatelanges Training selbst zum gesteuerten Indoktrinierungsprozess gehört. Doch natürlich enthält die Demonstration von Stärke, Unabhängigkeit und Lebensfähigkeit auch Botschaften an die Außenwelt. Seinem Image als renitenter „Schurke“, als den US-Präsident George W. Bush Nordkorea 2002 in seiner „Achse des Bösen“-Terminologie bezeichnet hatte, wollte man wohl etwas entgegensetzen. Das Regime war daher sichtlich bemüht um ausländische Gäste als „Zeugen“ seines Festivals, um ihnen die „wahre Identität unserer großartigen Nation“ zu vermitteln.

Tatsächlich haben die Machthaber mit ihren Massentänzen bei einigen Abenteurern und Spektakelbegeisterten die erwünschte Bewunderung erzielt. Man darf den farbreichen Tänzen und Bildern natürlich eine gewisse Ästhetik abgewinnen. Arirang jedoch auf ein rein künstlerisches Ereignis zu reduzieren, birgt die Gefahr eines eindimensionalen, mithin apologetischen Verständnisses von dieser Massenshow. Es gilt deshalb immer auch die andere Seite zu berücksichtigen, die kritischen Stimmen, nordkoreanische Deserteure vor allem, die in ausländischen Medien ihrem Unmut über den scheinbar fröhlich, nationalistisch aufgeblähten Pomp dieses menschenverachtenden Systems Luft machen. So etwa Kim Cheol-ung, ein ehemaliger Orchestermusiker, der in einem Zeitungsartikel aus dem Jahr 2011 warnt: „Wir, die nordkoreanischen Abtrünnigen, verstehen nicht, warum Menschen bereit sind, 80 bis 300 Euro für einen Besuch des Arirang-Festivals zu bezahlen, das im Schweiß und Blut nordkoreanischer Kinder getränkt ist, nur um Kim Jong-il ein Vermögen verdienen zu lassen.“

Im Frühjahr 2012 ließ das Regime überraschenderweise verkünden, im nächsten Jahr keine weiteren Arirang-Aufführungen zu planen. Ist die Volksrepublik nun wirklich bankrott? Oder plant der junge Führer Kim Jong-un eine noch gigantischere Show in 2013, um seiner Herrschaft auch visuell neue Akzente zu verleihen? Wie so oft, wenn es um Nordkorea geht, darf weiterhin eifrig spekuliert werden, was die Zukunft bringen wird.

Der Beitrag ist in der aktuellen Ausgabe von INDES - Zeitschrift für Politik und Gesellschaft erschienen.

 

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.