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Mein Traum von Europa

Ein Plädoyer wider die Selbstlügen und für ein Europa der selbstbewussten Zweifel.

Nur die Geschichte gibt Aufschluss über die Werte, die zu verteidigen sich lohnt, weil sie spezifisch unsere Werte sind. Bezogen auf Deutschland und Europa, auf Alteuropa, scheint mir die Auskunft klar zu sein: Für uns stellt sich Geschichte als eine Kette von Rebellionen, Reformationen und Renaissancen dar, von Abspaltungen und Sezessionen, deren Wortführer sich zwar immer wieder auf das Alte beriefen, aber nur, um dem Neuen den Weg frei zu machen. Diese Erfahrung hat den Einwand, den Zweifel in seiner vornehmsten Gestalt, den Selbstzweifel also, zur beherrschenden Denkfigur der Europäer gemacht, und das beileibe nicht erst seit Descartes; schon die platonische Akademie, neben der Stoa die einflussreichste der vier antiken Philosophenschulen, hatte den systematischen Zweifel, die Skepsis, zum Markenzeichen erhoben. Skeptisch zu sein und zu bleiben, ist nicht nur ein Merkmal, sondern das Merkmal der europäischen Kultur. Entgegen einer weitverbreiteten Auffassung verrät der Zweifel, woran Joachim Fest erst kürzlich wieder erinnert hat, eben keinen charakterlichen Mangel „oder gar eine Vertrauensstörung, sondern weit eher einen Gesittungsausweis sowie, ins Politische übersetzt, eine bürgerliche Tugend“. Gesittungen und Tugenden sind aber nichts, was sich in ein paar Monaten von hier nach dort verpflanzen lässt; das glauben nur Leute, die die Gesellschaft für eine Maschine halten, die man in ihre Einzelteile zerlegen und dann nach einem neuen Bauplan wieder zusammensetzen kann. Das ist jedoch ein Irrtum, der sich, wenn überhaupt, nur historisch aufklären lässt. Wenn es einen einzelnen Grund gibt für den erstaunlichen Siegeszug, mit dem die europäische Kultur fast die gesamte Welt erobert hat, dann diese Fähigkeit, sich selbst in Frage zu stellen. Sie ist das Resultat jener grenzenlosen Neugier, die schon die Griechen auszeichnete. Es war die Neugier, die sie dazu gebracht hat, immer wieder Neues, neue Länder, neue Völker, neue Kulturen, neue Verfahren, neue Ansichten und neue Lebensweisen zu entdecken und sich von ihnen anregen zu lassen. Als ihre Erben haben wir von ihnen gelernt, nicht nur die anderen mit unseren, sondern auch uns selbst mit den Augen der anderen zu sehen und neben der Schauseite auch immer die Kehrseite der Münze in den Blick zu fassen. Golden ist die bekannte Regel, kategorisch ist der berühmte Imperativ, universell ist die europäische Kultur doch nur deshalb, weil sie den anderen grundsätzlich dieselben Rechte zugesteht, die sie für sich selbst in Anspruch nimmt. Wenn irgendetwas, dann ist es diese Lust, die Gegenrechnung aufzumachen, und deren notwendige Folge, die Neugier auf den anderen und der Zweifel an der eigenen Person, die die europäische Kultur überlegen machen. Anspruch auf Vorrang kommt eben nur dem zu, der darauf keinen Anspruch erhebt. Um für diese Gegenrechnung hier gleich ein Beispiel zu geben und einen Einwand gegen mich selbst zu erheben: Skepsis ist etwas für Skeptiker. Stark und werbewirksam ist die europäische Kultur in dem, was sie sagt, nicht in dem, was sie tut; da ist sie schwach, schwach zumindest im Vergleich zu dem, was ihre Gegner aufzubieten haben, zu Panzern und Kanonen, zu Autobomben, Sprengfallen und entführten Flugzeugen. Was die europäische Kultur stark macht, macht sie auch schwach, verletzlich. Wie alle Spätkulturen leidet sie unter dem Stigma der Kraftlosigkeit; der Vergleich zum Rom des fünften oder zum Byzanz des 14. Jahrhunderts hat seine guten oder besser: seine leider nicht so guten Gründe. Nietzsche hat das zwar nicht als Erster gesehen, aber am provokantesten formuliert, als er die Willenlosigkeit zum Charaktermerkmal des modernen Europäers erhob: „Unser Europa von heute ist skeptisch in allen Höhen und Tiefen, bald mit jener beweglichen Skepsis, welche ungeduldig und lüstern von einem Ast zum anderen springt, bald trübe wie eine mit Fragezeichen überladene Wolke – und seines Willens oft bis zum Sterben satt! Willenslähmung: Wo findet man nicht heute diesen Krüppel sitzen! Und oft noch wie geputzt! Wie verführerisch herausgeputzt!“ Und etwas weiter dann: „Die Krankheit des Willens ist ungleichmäßig über Europa verbreitet; sie zeigt sich dort am größten und am vielfältigsten, wo die Kultur am längsten heimisch ist; sie verschwindet in dem Maße, als der Barbar noch – oder wieder – unter dem schlottrichten Gewande von westlicher Bildung sein Recht geltend macht.“ Das dürfte eine ziemlich genaue Beschreibung dessen sein, was am europäischen Wertehimmel zurzeit vor sich geht, zumal am deutschen. Bedingt durch ihre jüngere Geschichte, sind die Deutschen unfähig geworden, Fremdes als Fremdes wahrzunehmen. Sie wollen es verklären, verharmlosen und verniedlichen. Von der Kultur erkennen sie nur ihre Außenseite, die Pizzabäckereien und die Bauchtanzgruppen, und aus dem Kopftuch machen sie ein modisches Accessoire. Dass es, wie jedes kulturelle Symbol, für etwas steht, vielleicht sogar für etwas Ungewohntes, die Freiheit und das Bürgerrecht Bedrohendes, ist ein Gedanke, der umso panischer fern gehalten wird, je ungemütlicher er sich aufdrängt. Der offiziöse Multikulturalismus, der in Deutschland zum guten Ton gehört, hat für das Unbedingte, sich jedem Kompromiss Verweigernde, das allen lebendigen Kulturen eigen ist, kein Organ mehr, er setzt auf Dialog auch da, wo dieser Dialog demonstrativ verweigert wird. Das Fremde soll Bereicherung, darf nie Bedrohung sein, auch wenn es allein dadurch bedrohlich wirkt, dass es die Mehrheitsverhältnisse ins Wanken bringt. Was das bedeutet, kann man überall dort studieren, wo eine religiös, ethnisch oder sonst wie definierte Minderheit dabei ist, zur Mehrheit zu werden, in Nord-Irland etwa, im Kosovo oder in Palästina. Von allen Risiken scheint mir das demografische das größte zu sein; doch davon mag ein guter Deutscher nichts mehr hören. Nicht, dass ich Angst hätte, ein Polizeistaat könne mit den Gefahren, die da heraufziehen, nicht fertig werden; Israel hat ja vorgemacht, dass so etwas geht und wie so etwas geht. Aber der Preis ist mir zu hoch. Ich möchte nicht in einem Staat leben, der seine Bürger bewaffnen muss, um ihnen Schutz vor Anschlägen zu garantieren; damit zerstört er, was er doch bewahren soll, die Freiheit. Dass eine große Mehrheit von Niederländern nach dem Ritualmord an Theo van Gogh dazu bereit ist, im Kampf gegen den Terror Einschränkungen ihrer Freiheit hinzunehmen, betrachte ich als schlimmes Omen. Die Auskunft, das Auge des Gesetzes sei wachsam, dem Innenminister entgehe nichts, der Verfassungsschutz habe alles im Blick und sämtliche Parallelgesellschaften unter Kontrolle, kann mich weder beruhigen noch trösten. Denn der Überwachungsstaat, der sich anschickt, dem allzu bunten Treiben der allzu offenen Gesellschaft Einhalt zu gebieten, ist nicht mein Staat. Ich will den schlanken Staat, der seine vornehmste Aufgabe darin erblickt, den Bürgern ihre Freiheit zu erhalten. Er gehört zu jenen Werten, mit denen Europa die Welt für sich eingenommen hat. Sollen wir die Ersten sein, die sie wieder einsammeln? Und noch ein Zweites, was ich gern bewahren will. Das sind die Grenzen, zunächst die geografischen und, eng damit verbunden, die kulturellen. Sie sind Bedingung für das vielfältige, bunte und abwechslungsreiche Leben, wie ich es liebe. Die Multikulturalisten tragen ihren Namen doch zu Unrecht, denn was ihnen vorschwebt, ist ja gerade nicht die Vielfalt, sondern die Dämmerung, in der alle Katzen gleich grau und, meistens jedenfalls, gleich hässlich sind: Alle tragen die gleichen Jeans, essen denselben Döner und logieren in Hotelzimmern, die am Polarkreis genauso aussehen wie am Äquator. Das Idyll, von dem unsere Oberkirchenräte schwärmen, die Vorstellung von einem Land, „in dem deutsche Frauen Bauchtanz üben, Theaterstücke die Situation von Minderheiten vorführen und in den Gottesdiensten Bibelstellen, versetzt mit Liedgut aus verschiedenen Kulturen, in verschiedenen Sprachen vorgelesen werden“: Dieses Idyll gefällt mir nicht, weil es die Unterschiede ja gerade nicht betont, sondern systematisch abschleift. Der abgeschmackte Hass auf alles Verschiedene und Vielartige, Zufällige und Bunte, der schon einen Mann wie Jacob Burckhardt angewidert hatte, ist auch mir zuwider; und Burckhardt war ein guter Europäer, ein besserer zumindest, als die Mehrzahl unserer bekenntnisfreudigen Eurokraten. Ich stehe auf seiner Seite, betrachte also die Bereitschaft, den anderen als anderen ernst zu nehmen, sich auf den Fremden einzulassen und sich dem Ungewohnten auszusetzen, als europäisches Vermächtnis. Ohne Grenzen wird das Leben langweilig. Als dritten europäischen Wert, an dem ich hänge, nenne ich die letztlich auf die Griechen zurückreichende Überzeugung, dass Herrschaft der Legitimation bedarf. Die Athener waren die Ersten, die aus der traurigen Erfahrung, dass Macht gefährlich ist, die Folgerung zogen, dass ihr Gebrauch an die Zustimmung der Machtunterworfenen gebunden werden muss; andernfalls wird sie zur Gewaltherrschaft, zur Tyrannis, die ihnen als die schlechteste von allen Regierungsformen galt. Für Aristoteles besteht der Unterschied zwischen dem König und dem Tyrannen darin, dass der eine dem allgemeinen Nutzen dient, der andere nicht. Vor allem deswegen erachte ich es für eine Selbstverständlichkeit, zu einer so weit reichenden, Staatstätigkeit und Staatsverständnis im Grundsatz berührenden und verändernden Frage wie der nach einem Beitritt der Türkei das Staatsvolk zu befragen, in welcher Form auch immer. Nur so kann Europa zu dem werden, was seinen gläubigen Anhängern vor Augen steht, zu einem Europa der Bürger. Bisher ist es das nicht, und manches spricht dafür, dass es auch niemals so weit kommt. Als der Glaube an ein vereinigtes Europa noch jung war, in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, sagte Graf Coudenhove-Kalergi, der Gründer der Paneuropa-Bewegung: „Solange an Europa Tausende glauben, ist es eine Utopie; erst wenn Millionen daran glauben, ist es ein politisches Programm; sobald Hundertmillionen daran glauben, ist es verwirklicht.“ Wenn das so ist oder so sein soll: Warum fragt man die Hundertmillionen denn nicht nach ihrer Meinung? Die Antwort ist klar: weil man ihnen misstraut, ihrer Zustimmung zu einer um die Türkei erweiterten Gemeinschaft nicht sicher ist. Deswegen betreiben die zeitgerecht regierenden Tyrannen das immer größer werdende Europa als ein Projekt, zu dem das Volk, der große Lümmel, nichts zu melden hat. Vielleicht kommen sie damit sogar durch; das aber nur, wenn sie sich von einer zutiefst europäischen Überzeugung, dem Glauben an den Legitimationsbedarf jeglicher Herrschaft, lossagen. Und dieser Preis ist mir, wie schon die beiden vorgenannten, zu hoch.

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