Ex-Mossadchef - „Israel hat keine Angst “

Eine Machtübernahme durch Islamisten nach iranischem Vorbild befürchtet der ehemalige Chef des israelischen Geheimdiensts in Ägypten nicht. Efraim Halevy glaubt vielmehr daran, dass das Land gestärkt aus den Ereignissen hervorgehen könnte.

Herr Halevy, wie sehr wurden Sie von den Ereignissen in Ägypten überrumpelt?
Ich wurde wie jeder andere überrascht. Niemand konnte diese Entwicklung ahnen, nicht einmal die Ägypter, die doch effektive Sicherheitsdienste haben. Es ist keine Überraschung, dass wir überrascht wurden. Solche Ausbrüche lassen sich nicht vorhersagen.

Welche Rolle spielt Ägypten für Israel?
Ägypten ist für uns ein extrem wichtiger Partner. Vor 1978, als wir einen Friedensvertrag unterschrieben, war Ägypten unser wichtigster Feind. Der Friedensvertrag hat Israels strategische Lage dramatisch transformiert und ist auch im ägyptischen Interesse. Das ist der Grund, warum sich der Frieden so lange gehalten hat. Er dient beiden Seiten.

In Israel ist heute viel Angst vernehmbar. Verspüren auch Sie angesichts der Ereignisse in der gesamten Region diese Angst?
Ich mag das Wort Angst nicht. Viele sprechen von Angst in Israel. Das ist ein Fehler. Israel hat keine Angst und sollte auch keine haben. Es kann in einer Atmosphäre der Angst gar nicht fortbestehen. Angst ist der falsche Ausdruck. Israel ist besorgt. Ich befürchte nicht, dass sich in Ägypten eine Machtübernahme (von Islamisten) nach iranischem Modell wiederholt. Dieser Vergleich ist falsch, auch wenn Premierminister Benjamin Netanjahu bedauerlicherweise immer wieder von ihm Gebrauch macht.

Besteht also keine Gefahr, dass die Muslimbruderschaft die Macht in Kairo übernimmt?
Das ist doch das Szenario, vor dem Ihr Premier ausdrücklich und unaufhörlich warnt.
Es ist zu früh, um das abzuschätzen. Ein Wahlsieg der Muslimbruderschaft ist nicht unabwendbar. Viele stimmten bei früheren Wahlen für sie, weil sie die einzige effektive Opposition zum Regime war. Aber wenn sich das politische Klima in Ägypten ändert und es unterschiedliche Parteien gibt, werden die Menschen, die vorher für die Muslimbruderschaft gestimmt haben, es nicht unbedingt wieder tun. Ich glaube nicht, dass wir in Ägypten eine Lage wie im Iran bekommen werden, sollte die Muslimbruderschaft die Zügel übernehmen – auch wenn dies sicher keine positive Entwicklung wäre, weder für Israel noch für die Welt.

Sollte Israel jetzt verstärkt in Rüstung investieren?
Es ist viel zu früh, darüber konkret nachzudenken, weil das Endergebnis der Ereignisse in Ägypten noch völlig unklar ist. Viele Ägypter, auch Oppositionelle und selbst ein paar Muslimbrüder, haben gesagt, dass der Friedensvertrag mit Israel nicht annulliert werden sollte.

Ein Grund, warum Israel einen Machtwechsel in Ägypten fürchtet, ist der Umstand, dass der Frieden zwischen Israel und Ägypten ein kalter Frieden war, der nicht zwischen den Völkern stattfand, sondern auf die Regierungsebene beschränkt war.
Ich glaube, ein Frieden zwischen beiden Völkern war damals, nur fünf Jahre nach dem blutigen Jom-Kippur-Krieg, unmöglich. Ägyptens Präsident Anwar al Sadat kam nach Jerusalem, um nicht nur psychologische Barrieren in Israel, sondern auch in Ägypten abzubauen. Nur kurze Zeit später wurde er von einem Anhänger der Muslimbruderschaft ermordet. Es wird lange dauern, die ägyptische Sicht auf Israel zu ändern, vielleicht noch Jahrzehnte. Wenn es eine Sache gibt, die wir tun können, dann ist es zu erkennen, dass unsere zukünftige Beziehung zu Ägypten auch davon abhängt, wie wir fortan das Palästinenserproblem angehen.

Wird Israel jetzt auf diplomatische Initiativen setzen, oder wird es sich immer tiefer in einen Bunker zurückziehen?
Ich hoffe, dass Israel genug Selbstvertrauen aufbringen kann, um schnell einen Teilvertrag mit den Palästinensern auszuhandeln. Eine permanente Lösung zu finden, ist im Augenblick unmöglich. Weder wir noch die Palästinenser besitzen die Fähigkeit, eine solche Lösung umzusetzen, selbst wenn wir ein Stück Papier unterschreiben. Aber es gibt andere Optionen. Wir müssten jetzt die Initiative ergreifen, um die strategischen Beziehungen zwischen uns und der arabischen Welt zu beeinflussen, die aufgrund der Ereignisse in Ägypten Spannungen ausgesetzt sind.

Mit dem Sturz Mubaraks scheint das alte Regime am Ende zu sein. Fällt damit eine der tragenden Säulen westlicher Nahost­diplomatie?
Ägypten muss aus diesen Ereignissen nicht unbedingt geschwächt hervorgehen. Vielleicht gelingt es ja, ein System zu schaffen, das die Bedürfnisse und Wünsche der Bevölkerung erfüllt. Das wird allerdings sehr schwer werden, da die Probleme gewaltig sind. Während Mubaraks Amtszeit hat sich die Bevölkerung von 40 auf 80 Millionen verdoppelt, ähnlich wie in Iran. Demokratie allein genügt nicht: Menschen brauchen auch Nahrung und Arbeitsplätze. Sollte die Regierung das liefern, wird das Land stärker sein als zuvor.

Erleiden Amerikas Versuche, den Iran in der arabischen Welt zu isolieren, mit dem Umsturz in Ägypten nicht einen schweren Rückschlag? Werden die Extremisten in der Region jetzt stärker?
Ägypten muss kein extremistischer Staat werden, der von der Muslimbruderschaft beherrscht wird. Aber selbst wenn: Im Nahen Osten hat der Kampf zwischen Schiiten und Sunniten tiefe historische Wurzeln. Er wird ein maßgeblicher Faktor bleiben. Ich kann mir ein Bündnis zwischen der Muslimbruderschaft und Iran nicht vorstellen. Die Muslimbrüder sind Sunniten und werden niemals eine iranische, also schiitische, Vorherrschaft in der islamischen Welt akzeptieren. Die Ägypter werden die Iraner abblitzen lassen, sollten sie versuchen, dort Fuß zu fassen. Die Sunniten in Nahost werden sich neu organisieren. Ich glaube nicht daran, dass Iran diese Region dominieren kann. Von 80 Millionen Iranern sind 30 Prozent arbeitslos, viele junge Menschen sind enttäuscht. Vorerst konnte das Regime die Opposition niederknüppeln. Aber wenn die Grüne Bewegung sich wieder erhebt, wird die Welt vielleicht anders reagieren als vor anderthalb Jahren. Ich hoffe, dass der Westen sich dann nicht mit Kommuniqués begnügt.

Und wie steht es um Syrien?
Syrien ist, seinem engen Bündnis mit Iran zum Trotz, kein schiitisches Land. Das Regime der Alawiten-Clans repräsentiert eine Minderheit, die nicht mehr als 20 Prozent der Bevölkerung ausmacht. Es ist fraglich, wie lang es sich halten kann. Selbst Syriens Präsident Baschar al Assad sagte, es müsse Wandel geben. Er müsse nur zuerst seine Bevölkerung „erziehen“. Nun, ich bin mir nicht sicher, dass das syrische Volk diese nicht enden wollende „Ausbildungszeit“ noch lange hinnehmen wird. Ich bin mir nicht sicher, dass Assad derjenige sein wird, der das Datum für das „Kursende“ festlegen wird. Es könnte früher kommen als er denkt.

Syrien ist also instabil, sagen Sie. Ist das das nächste Regime, das fällt, oder vielleicht doch Jordanien?
Alle Regime in der Region verfolgen die Ereignisse in Ägypten. Der König von Jordanien hat bereits reagiert. Viel hängt von der Wirtschaft ab. Generell würde ich aber den Israelis raten, die Ereignisse um sie herum nicht zu kommentieren. Erst vor wenigen Tagen sagte Libyens Staatschef Muammar al Gaddafi, die Ereignisse in Kairo seien das Ergebnis eines Einsatzes des Mossad. Das ist zwar lächerlich, aber alles, was Israel sagt, hat Einfluss, weil diese Region an Verschwörungstheorien glaubt.

Die Entwicklungen in der arabischen Welt scheinen Sie weniger zu beunruhigen als Israels Staatsführung und Sicherheitsexperten. Was wissen Sie, was die nicht wissen?
Ich glaube, dass Israel unzerstörbar ist. Ajatollah Chomeini sagte einmal, dass das „Problem Israel“ mit einer einzigen (Atom)bombe gelöst werden könne. Das ist Unfug. Selbst wenn eine Bombe auf uns geworfen würde, wäre das Ergebnis nicht das, das Chomeini sich wünschte. Im Gegenteil: Es würde wohl zur bittersten Pille, die er je geschluckt hätte. Wir haben bereits gewaltige Probleme bewältigt, wir haben den Kreis unserer Feinde durchbrochen und Frieden mit Ägypten und Jordanien geschlossen. Ja, es gibt Bedrohungen, aber wir dürfen aus Sorge nicht Angst werden lassen. Wir haben genug Ressourcen, um bis ans Ende aller Zeiten fortzubestehen.

Israel mag ja den Kreis seiner Feinde durchbrochen haben, aber es scheint, als würde es immer einsamer. Dem Land gehen in der Region langsam die Verbündeten aus. Iran 1979, die Türkei im vergangenen Jahr und jetzt Ägypten. Wer bleibt dem Land hier noch, sollte auch Jordanien fallen?
Iran und die Türkei sind zwei unterschiedliche Paar Schuhe. Wir haben noch immer eine Botschaft in Ankara, und sie wird dort bleiben, außer wir begehen wieder einen dummen Fehler. Die Türkei steckt in einer Krise, die nichts mit Israel zu tun hat. Europa sollte darüber übrigens mehr besorgt sein als wir. Die Beziehungen zu Israel werden sich wieder normalisieren. Sie werden vielleicht nicht so freundschaftlich sein wie zuvor. Sollte die Türkei, wie ich glaube, demokratisch bleiben, könnten wir es bald mit einer anderen Regierungspartei zu tun haben. Nur Geduld. Iran ist eine andere Geschichte. Die stille Mehrheit der Iraner betrachtet Israel nicht als Feind, sondern steht uns freundlich gegenüber. Das Regime wird nicht ewig überleben, weil es nicht vom Volk getragen wird. Wenn wir Geduld haben, wird Iran sich von innen wandeln. Und was Ägypten betrifft: Ich glaube nicht, dass die Armee dort einen Krieg mit Israel will, auch die Bevölkerung nicht. Sie wollen Arbeit, Freiheit, Demokratie, ein gutes Leben. Sie sind nicht von der Idee besessen, Israel zu vernichten. Jeder Krieg wäre für Israel schmerzhaft, für Ägypten aber katastrophal.

Was sollte im Nahen Osten die Rolle der Europäer und besonders Deutschlands sein?
Bundeskanzlerin Angela Merkel war gerade erst hier. Sie machte eindeutige Aussagen zu Ägypten und zum Palästinenserkonflikt. Sie drängte zum Fortschritt und sagte, dass die Ereignisse in Ägypten nicht als Vorwand dienen dürften, um den Friedensprozess aufzuschieben, im Gegenteil: Es müsse jetzt etwas getan werden. Solange Europa auf diese Weise politischen Druck ausübt, ist das nicht nur legitim, sondern vielleicht sogar hilfreich. Die EU sollte Israel dazu ermutigen, den Friedensprozess voranzutreiben, ohne es zu scharf zu kritisieren.

Das Interview führte Gil Yaron

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