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(picture alliance) Mehr als ein Stück Haut

Beschneidungen - Zwischen Vorhautmarsch und Religionsmythen

Zum Jahreswechsel zeigen wir Ihnen noch einmal die erfolgreichsten Artikel aus dem Jahr 2012. Im Juli:

Die Beschneidung von Jungen trennt nicht nur ein Stück Haut ab, sondern scheidet auch die Geister. Ob auf dem Gebiet der Medizin, der Erotik oder der Religion: vieles ist umstritten

Ein Mann trifft mitten in der Nacht drei hübsche Frauen in der New Yorker U-Bahn. „Was machen Sie denn noch so spät allein hier?“, fragt er. „Wir waren auf einem Kongress nymphomanischer Sexualwissenschaftlerinnen über den männlichen Penis.“ – „Und was haben Sie herausgefunden?“ – „Indianer haben den längsten und Juden können am längsten“. Darauf er: „Entschuldigen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt: Winnetou Goldstein.“

Nur ein Witz, natürlich. Und ein relativ harmloser dazu. Aber mit Klischee, da ohne ein solches die meisten Witze nicht funktionieren. Das hier verarbeitete Klischee lautet: Juden können länger, denn sie sind beschnitten. Wenn es etwas gibt, was landläufig mit der Beschneidung assoziiert wird, dann ist es die angeblich gesteigerte sexuelle Leistungsfähigkeit des Mannes.

Dabei ist auch diese Frage, wie vieles, was sich um Notwendigkeit, Vorteile und Nachteile dieses Eingriffs dreht, umstritten. Das kommt nicht von ungefähr: Um kaum einen Körperteil ranken sich derart viele Mythen und Legenden, wie um die Haut über der Eichelspitze des männlichen Gliedes. Die Frage „Abschneiden oder nicht?“ ist längst auch außerhalb des religiösen Kontextes zu einer Glaubensfrage geworden.    

Ein kleiner Schnitt für den Menschen – ein großer für die Menschheit?    

Die Beschneidung fasziniert. Denn der kleine Schnitt bringt auch die kulturgeschichtliche Entwicklung des Menschen zum Vorschein. Mit Sigmund Freud kann man die Beschneidung als Brücke von Natur zur Kultur lesen. Die durch die Beschneidung simulierte Kastration sollte in Frühkulturen das Inzesttabu verstärken und die ödipal-erotische Loslösung des Jungen von der Mutter ausdrücken.

Der Ursprung der Beschneidung wird bei Nomadenstämmen Westafrikas und Australiens vermutet, der Wiege der Menschheit. Die älteste Abbildung dieses Rituals findet sich auf einem Relief in Ägypten aus dem Jahr 2420 v. Chr. Aus religiösen Gründen wird sie bis heute bei Juden und Muslimen vorgenommen, aber auch von christlichen Kirchen wie der koptischen oder der erithreisch-orthodoxen sowie von afrikanischen Religionsgemeinschaften.

Der kleine Schnitt ist Bindeglied zwischen immerhin drei Weltreligionen. Zwar macht wohl keine Religion von der Beschneidung die Religionszugehörigkeit abhängig. Jedoch gilt der männliche Gläubige, wie im Judentum oder im Islam, oft erst dann als „vollkommen“.    

[video:Streitfrage - gehört der Islam zu Deutschland?]

Im viktorianischen England des 18. Jahrhunderts begann der säkulare Siegeszug der Beschneidung. Der Schweizer Arzt Tissot empfahl sie als Mittel gegen frühkindliche Masturbation, die als Ursache für psychische Störungen bis zur Hirnerweichung verantwortlich gemacht wurde.

Durch den Einfluss des britischen Empires kam die Beschneidung unter anderem nach Indien und in die USA, wo sie heute der häufigste Routineeingriff ist. Zwischen 40 und 60 Prozent der amerikanischen Männer werden aus hygienischen Gründen bei der Geburt beschnitten.

In Europa beträgt die Beschneidungsrate laut Weltgesundheitsorganisation nur rund 20 Prozent. Hier wird der Eingriff oftmals freiwillig und dann vor allem aus ästhetisch-erotischen oder modischen Gründen vorgenommen. Mystik, Moral und Lifestyle: Man kann auf die Beschneidung wie durch ein kulturgeschichtliches Kaleidoskop blicken, in welchem sich Vormoderne, Moderne und Postmoderne in ihren vielleicht charakteristischsten Ausprägungen auftun.    

Auf der folgenden Seite: Was bleibt nach dem Mythos?

Mit dem Vorhaut-Superhelden gegen Beschneidungsmythen    

Ob man durch dieses Kaleidoskop jedoch insgesamt schärfer sieht, ist fraglich. In Amerika ist um die routinemäßige Beschneidung von Säuglingen inzwischen eine Art säkularer Glaubenskrieg entbrannt. Webseiten, wie www.circumstitions.com möchten mit den Mythen rund um die Beschneidung aufräumen.

Aktivisten, auch „Intakt-ivisten“ genannt, rufen zu Vorhautmärschen, den „Foreskin-Pride-Marches“ auf und machen aus der Beschneidungsfrage unter dem Motto „Möge die Vorhaut mit dir sein“ eine Neuauflage des ewigen Kampfes zwischen Rebellen und Imperium.

Auch der „Foreskin-Man“, ein genital intakter Comicsuperheld, kämpft gegen die Beschneidung und schreckt dabei nicht mal vor antisemitischen Klischees, wie blutrünstigen Rabbis, zurück. Vor dem Hintergrund der Ideologisierung dieses Themas sind auch Studien und Umfragen mit einer gewissen Vorsicht zu genießen.  

Richtig viel spricht tatsächlich nicht für die Beschneidung, aber auch nicht richtig viel dagegen. Medizinisch indiziert ist der Eingriff in der Regel nur bei einer Vorhautverengung, der sogenannten Phimose, die einen schmerzfreien Geschlechtsverkehr nahezu unmöglich macht.

Die Beschneidung aus sonstigen prophylaktisch-hygienischen Gründen steht unter dem Vorbehalt des „Ja, aber“. Zwar gibt es Studien, die belegen wollen, dass eine Beschneidung Peniskrebs vorbeugt und auch die Ansteckungswahrscheinlichkeit für Geschlechtskrankheiten, wie Genitalherpes, Gonorrhoe bis hin zu HIV senkt, da ein beschnittener Penis für die Keimbesiedlung der Eichel und ihres Zwischenraums weniger anfällig ist.

Die Auftretungswahrscheinlichkeit derartiger Krankheiten ist jedoch so gering, dass ein Eingriff sorgsam abgewogen werden will. Es gibt laut „Intact America“, einer Initiative gegen routinemäßige Beschneidungen bei Säuglingen, keine Ärztevereinigung, die für Beschneidungen aus bloß hygienischen Gründen eintritt. Krankenkassen in Deutschland bezahlen ohnehin nur medizinisch notwendige Eingriffe.    

Trotz aller Routine ist der Eingriff zudem nicht risikofrei: Schwellungen, Entzündungen, schlechte Wundheilung bis hin zu Deformierungen sowie anfängliche Schmerzen beim Geschlechtsverkehr können die Folge sein. Gesundheitliche Probleme sind vor allem in Gebieten mit niedrigen medizinhygienischen Standards ein Problem.

[video:Streitfrage - gehört der Islam zu Deutschland?]

Die Weltgesundheitsorganisation unterstützt beispielsweise seit mehreren Jahren Kampagnen für die Beschneidung von Männern in Afrika, um die Verbreitung von HIV einzudämmen. Kritiker bemängeln, dass hierdurch selbst wieder ein Gesundheitsrisiko geschaffen wird: für die Männer durch Komplikationen beim Eingriff und auch für Frauen, da die Beschneidung bei Männern den Irrglauben fördert, danach immun gegen HIV zu sein und auf weiteren Schutz verzichten zu können.    

Aus erotischer Sicht ist die Beschneidungsfrage ebenfalls umstritten. Es gibt Studien, die darauf hindeuten, dass der Geschlechtsverkehr mit beschnittenen Männern länger dauert, da diese durch den Eingriff weniger empfindlich sind. Andere Untersuchungen wollen das Gegenteil belegt haben.

Eine aktuelle Studie dänischer Psychologen mit über 5.000 Teilnehmern kommt zu dem Ergebnis, dass beschnittene Männer und ihre Partnerinnen häufiger über Funktionsstörungen und Orgasmusprobleme klagen als nichtbeschnittene Vergleichsgruppen.

Es läuft für Männer also auf die Frage hinaus, ob sie den eventuellen Zugewinn auf der Zeitachse mit einem sicheren Verlust auf der Intensitätsskala bezahlen wollen oder nicht. Monokausal lässt sich die Frage nach dem erfüllten Liebesleben wohl ohnehin kaum beantworten, da ein wichtiges Erregungszentrum völlig ausgespart bleibt: das Gehirn. Ja, es geht immer noch um Männer.    

Eine Entmystifizierung täte schließlich auch der aktuellen Debatte über die Strafbarkeit von rituellen Beschneidungen an nicht einwilligungsfähigen Jungen gut. Um einen Kulturkampf zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheitsgesellschaft geht es dabei nicht, sondern um die verfassungsrechtlich verankerte Schutzpflicht des Staates gegenüber wehrlosen Kindern.

Nicht nur Religionsgemeinschaften, auch die Rechtsordnung muss ihre Identität wahren dürfen. Wie viel an kulturellen Ausnahmen kann letztere vertragen, ohne sich selbst zur Disposition zu stellen? 

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