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(Foto: Douglas Kirkland, «Mademoiselle - Coco Chanel / Summer 62». Steidl-Verlag 2008) Im Spiegel sah sie ein wildes Tier

Autobiografie - Im Spiegel sah sie ein wildes Tier

«Die Kunst, Chanel zu sein» ist wieder zu haben: Die Erinnerungen der Modeschöpferin Coco Chanel erzählen von Schönheit, Schlichtheit, Emanzipation – und ganz anderen Aktualitäten

Es war ein täglich wiederkehrendes Ritual: Kaum hatte Coco Chanel ihre Suite verlassen und war mit kleinen, festen Schritten durch den Hinterausgang des «Ritz» auf die Rue Cambon getreten, nahm der Hotel­portier den Telefonhörer in die Hand und rief gegenüber in der Boutique an. «Sie kommt», gab er durch, wo­raufhin eine der Damen eilig den eckigen Flakon vom Regal nahm und einen Hauch des Parfums im Treppenhaus versprühte. Wenn Mademoiselle – so ließ sich die Gründerin des Modehauses bis ins hohe Alter anreden – dann in ihrem Geschäft ankam und weiter in die dritte Etage zu ihrer Zweitwohnung hinaufstieg, um sich dort gleich eine Zigarette anzuzünden, war der Duft, ihr Duft, bereits da: Chanel No. 5, jenes Parfum, von dem Marilyn Monroe einst behauptete, dies sei das Einzige, was sie im Bett trage. Es war der weltweit erste synthetische Duft, der sich nicht an Blumen orientierte. Denn, so war Chanel überzeugt, als sie die Kreation 1921 auf den Markt brachte: «Frauen sind keine Blumen. Warum also sollten sie wie Blumen riechen wollen?»

Bei der Frage, was eine moderne Frau sein, wie sie sich kleiden und geben soll, ist Gabrielle Chanel, genannt Coco, immer zuerst von sich selbst ausgegangen. Als junges Mädchen in der französischen Provinz um die Jahrhundertwende kannte sie Damenmode ausschließlich als Dekoration. Nicht die Trägerinnen und wie diese sich in ihren Kleidern fühlten, schien das Anliegen der Coutu­riers zu sein, sondern allein der Widerschein ihrer Kreationen im Auge des Betrachters. So schritten die wohlhabenden Gattinnen steif einher, trugen bodenlange Röcke spazieren, die durch Rüschen und Volants ausuferten und zusätzlich beschwert wurden. Auf ihren Köpfen balancierten sie Hüte so groß wie Wagenräder, bestückt mit Früchten, Federn und anderem Zierrat. Korsetts schnürten ihnen die Taillen und den Atem ab und brachten so manche an den Rand der Hysterie.


Ein unsterblich gewordenes Beige

In dieser Epoche betritt Coco Chanel, «der kleine schwarze Stier», wie ihre Freundin, die Schriftstellerin Colette, sie einmal nannte, die Arena. Zuerst fegt sie den Putz vom Hut und zieht die Kopfbedeckung tief ins Gesicht. Dann setzt sie ihre Schere an: kürzt die Röcke, stutzt Rüschen, nimmt Kleidern florale Verzierungen und wuchernde Jugendstil-Arabesken. Bei all ihren Schnitten wahrt sie die körpergerechte Proportion. Die formale Strenge ihrer kragenlosen Cardigans mit abstehender Borte, ihrer Twinsets und lockeren Tweedkostüme mit Rocktaschen findet ihre Entsprechung in den Farben: Schwarz, Weiß, ein tiefes Blau, ein Geranienrot und ihr unsterblich gewordenes Beige. Die kostbaren Stoffe ersetzt Chanel durch grobe Tweeds und bringt mit dem leichten Jersey ein Material an die Oberfläche, das bis dato nur als Unterfutter gedient hatte. Den Nerz und den Zobel verbannt sie nach innen.

«Es ging zunächst einmal und vor allem darum, aus der Mode zu beseitigen, was mir nicht gefiel», erin­ner­te sie sich in einem Gespräch, das sie 1946 in ihrem Schweizer Exil mit dem Freund und Schriftsteller Paul Morand führte. «Kultur besteht ja auch darin», sagte Chanel, «dass man so allerlei Dinge über Bord wirft. Genauso ist’s in der Mode: Man beginnt für gewöhnlich mit dem viel zu Schönen, um dann beim ganz Schlichten zu landen.» Nicht nur in Architektur und Design galt spätes­tens nach dem Ersten Weltkrieg das Prinzip form follows function.

Chanel führte den Funktionalismus in die Mode ein und verpasste damit der weiblichen Emanzipation ein elegantes Kleid. Sie stöberte in den Kleiderschränken ihrer Liebhaber, ließ sich von den Schnitten ihrer Uniformen, Reitjacken und Reithosen inspirieren. Kühn lancierte sie die Standestracht der underdogs zur Snobgarderobe: Jockeypullover, Waisenhauskittel, Matrosenjacken, Verkäuferinnenkleider mit weißem Kragen und Manschetten, dazu der Kokottenschmuck aus Strass.


Wer war der adlige Deutsche in ihrem Bett?

Mademoiselle Coco, wie haben Sie das gemacht? Die Notizen, die Morand während seiner langen Unterhaltung mit ihr auf Briefbögen des St. Moritzer Palace Hotels gekritzelt hatte, trug er ganze dreißig Jahre mit sich herum. Erst 1976 wurde ein Buch daraus, da war die Modeschöpferin schon seit fünf Jahren tot. Deutsche Leser muss­ten noch länger warten: «Die Kunst, Chanel zu sein» erschien erstmals 1999, war lange vergriffen und ist nun erneut aufgelegt worden – inklusive vieler bereits ikonisch gewordener Porträtfotografien, die Henri Cartier-Bresson, Horst P. Horst, Cecil Beaton oder Man Ray von der großen Dame angefertigt hatten.

Es ist, so Morand, die tiefe, «wie Lava vor sich her rollende, sturzbachartige Stimme» dieser faszinierenden Persönlichkeit, es sind die «wie trockenes Reisig prasselnden Worte» einer Meisterin der Selbstinszenierung, die einen über knapp dreihundert Seiten dieser autobiografischen Erzählung in Atem halten. Coco Chanel war dafür bekannt, dass sie log, ihre Herkunft verschleierte, ihre Geschwister verleugnete und immer wieder andere, geschönte Versionen ihrer Kindheits-, Jugend- und Männergeschichten in Umlauf brachte. Ob es sich nun um ihre große Liebe Boy Capel handelte, einen Sportsmann und britischen Bergwerksmagnaten, der ihre erste Boutique eröffnete und später tragisch verunglückte, oder um den Zarenneffen Dimitri, den Lyriker Pierre Reverdy, den Herzog von Westminster oder den Illustrator und Karikaturisten Paul Iribe.

Die Porträts der mondänen Schönen mit Zigarette täuschen darüber hinweg, dass diese elegische Person den Teufel im Leib trug. Chanels «verwirrende Doppelnatur, mal zarter Engel, mal knochentrockene, rücksichtslose Macherin», versetzte nicht nur den Schriftsteller Truman Capote in Erstaunen, der ihr eine biografische Skizze widmete; sie beeindruckte etliche Zeitgenossen, Männer wie Frauen, Bohemiens wie Herrenreiter. Die Verbindung mit dem Deutschen Hans Günther von Dinck­lage etwa fällt in den Gesprächen mit Morand ganz unter den Tisch. Dabei war Chanel mit diesem Diplomaten, der als Attaché der deutschen Botschaft in der Rue de Lille arbeitete, ein ganzes Jahrzehnt, von 1940 bis 1950, liiert. Was dieser von Dincklage, der sich auch «Spatz» nennen ließ, im deutsch besetzten Paris zu tun hatte, blieb bis heute im Unklaren. War der distinguierte Adlige, den niemand je in Uniform sah, ein Mitglied der Spionageabwehrorganisation der Nazis, ein Mitglied des Reichspropagandaministeriums? Oder, wie der Fotograf Horst P. Horst mutmaßte, gar ein Doppelagent, der sich zugleich auch von den Briten bezahlen ließ? Sicher ist, dass Chanel an seiner Seite Zutritt zu höchsten deutschen Kreisen erhielt – und in intellektuelle Salons, in denen Gestalten wie Ernst Jünger verkehrten.


Lücken und Schatten der Biografie

Chanel stand – wie ihr Freund Paul Morand, der unter Marschall Pétain sogar Kulturfunktionär gewesen war – nach Frankreichs Besatzung durch die Deutschen eindeutig auf der Seite des Vichy-Regimes. Und wenn die beiden ihre Erinnerungen nach dem Krieg in einem Schweizer Hotel austauschen mussten, dann hatte das seinen Grund: Sie waren im erzwungenen Exil. Kein Wort da­rüber in Morands Text. Auch nicht davon, dass Chanel 1944 einmal in Haft gesessen hatte, wenn auch nur für drei Stunden. Vor einem Säuberungskomitee soll sie über ihre Beziehung zu dem wesentlich jüngeren von Dinck­lage gesagt haben: «Von einer Frau meines Alters kann man nicht erwarten, dass sie sich den Pass zeigen lässt, wenn sie die Möglichkeit hat, einen Geliebten zu finden.»

Ungeachtet der politischen und moralischen Schatten, denen auch diese Biografie nicht entgeht: Coco Chanel war bereits zu Lebzeiten eine Legende und lässt Biografen und Regisseure bis heute nicht los. Erst kürzlich ist «Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft» mit Audrey Tautou in der Titelrolle in die Kinos gekommen. Es ist die Legende einer self made woman, an der, wie sie selbst sagte, «Paris und die Provinz, Dummköpfe und Künstler, Dichter und die mondäne Welt gemeinsam gewoben haben». Eine Legende, «so vertrackt, so komplex, so oberflächlich und gleichzeitig so verzwickt, dass selbst ich mich kaum zurechtfinde».


So besonders wie das Kleine Schwarze

Text und Textil: Neben dem Schneiderhandwerk, auch das zeigt dieses Buch, pflegte Chanel die Kunst der Bonmots und Aphorismen. «Ich behänge mich gerne mit Schmuck, weil er an mir immer falsch aussieht», sagte sie. Und: «Einfachheit bedeutet doch nicht, barfuß oder in Holzpantinen herumzulaufen, sie ist eher eine Geisteshaltung, eine Herzensangelegenheit.» Oder: «Die Tragik besteht darin, dass die alternde Frau sich plötzlich besinnt, wie gut ihr doch mit zwanzig himmelblau stand.» Nicht wenige dieser Sentenzen, die Morand in treuer Akribie notiert und wiedergegeben hat, überschreiten das Niveau von Binsenweisheiten kaum.

Über ausgesprochenes Talent verfügte Chanel indessen in Boshaftigkeiten, zumal dann, wenn es um das Äußere ihrer nächsten Vertrauten ging. So befand sie über den flüchtigen Liebhaber und langjährigen Freund Igor Strawinsky, er sehe aus «wie ein Beamter in einer Novelle von Tschechow. Ein kleiner Schnurrbart saß unter einer großen Nagetiernase». Über den Ballett-Impresario und Kunsterneuerer Sergej Diaghilew, dem sie – wie so manchem Künstlerfreund – gelegentlich finanziell unter die Arme griff, befand sie, er habe ein «pralles Katzen-Leckermaulgesicht». Und José-Maria Sert, katalanischer Maler und Ehemann ihrer besten Freundin, der Polin und legendären Muse Misia Sert, sei ein «Riesengnom, der in seinem Buckel, wie in einer Zaubererkiepe, Gold und Unrat trug».

Und sie selbst? Wenn Coco Chanel vor den Spiegel trat, dann sah sie ein wildes Tier: «Augenbrauen, bedrohlich doppelt gerundet, Nasenlöcher, gebläht wie Pferdenüstern, Haare, schwärzer als der Teufel, Mund wie eine klaffende Wunde, in die sich eine aufbrausende und hochherzige Seele ergießt.» In diesem Assoziationskosmos scheint zuweilen etwas Märchenhaftes durch, aber auch die Bodenständigkeit, die die 1883 als Gabrielle Chanel geborene Geschäftsfrau ihrer einfachen Herkunft verdankt. Unter Bauern und Viehhändlern mit sonnengebräunten Gesichtern wuchs sie in einem Dorf in der Auvergne auf, einer düsteren Vulkanlandschaft im Süden Frankreichs. Der Volksglaube, die romanischen Kirchen, der Friedhof, der ihr zum Spielplatz wird, schließlich das Waisenhaus, in das man sie nach dem frühen Tod der Mutter abschiebt: Dies alles sind später stark geschönte Versatzstücke aus der Geschichte eines rasanten gesellschaftlichen Aufstiegs.

Vielleicht hat Chanel daraus das unerschütterliche Bewusstsein ihrer absoluten Einzigartigkeit bezogen. Sie fühlte sich so besonders wie ihre berühmteste Kreation, das Kleine Schwarze, das sie sich ganz auf die eigene schmale Figur geschneidert hatte. Wer sollte dem schon etwas anhaben können? Etwa die Heerscharen von Kopisten und Fälschern, die aus ihrer Mode eigenen Profit zu schlagen versuchten? Das sah Chanel gelassen: «Plagiat», sagte sie, «setzt Bewunderung und Liebe voraus.» Und: «Auf Kunst gibt es kein Patent. Das Leben ist nun mal Bewegung und Austausch.» Nicht zuletzt dies unterstreicht die Gegenwärtigkeit dieser Modeschöpferin einer unter­gegangenen Epoche.

 

Stefanie Peter lebt als Kulturwissenschaftlerin und freie Autorin in Berlin. 2007 erschien «Alphabet der polnischen Wunder. Ein Wörterbuch».

 

Coco Chanel
Die Kunst, Chanel zu sein. Coco Chanel erzählt ihr Leben
Aufgezeichnet von Paul Morand. Mit Fotos von Man Ray, Cecil Beaton, Henri Cartier-Bresson u. a. Aus dem Französischen von Annette Lallemand.
SchirmerGraf, München 2009. 286 S., 19,80 €

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