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(picture alliance) „Precht“ im ZDF

Prechts Prolog - Gefährliche Freiheit

Freiheit ist das höchste Gut des Menschen. Doch können wir in einer Gesellschaft voller Abhängigkeiten überhaupt noch „frei“ leben?

Noch nie, so meinte einst ein deutscher Bundeskanzler, hat es so viel Freiheit auf deutschem Boden gegeben wie in der Bundesrepublik Deutschland. Wir haben das Recht, uns frei bewegen zu dürfen, unsere Meinung zu äußern, unseren Beruf zu suchen, Wählen zu dürfen zwischen Personen und Parteien, unseren „eigenen“ Lebensweg zu gehen. Doch macht dieses Fehlen von Barrieren, Gängelungen und Unterdrückungen den Menschen bereits frei?

Wenn man in Deutschland im Jahr 2012 der Bevölkerung die Frage zur Abstimmung gäbe: „Wenn Sie auf eines in Ihrem Leben verzichten müssten, auf Ihr Wahlrecht oder Ihr Handy?“ – Was würde die Mehrheit wohl antworten? Und wer ohne Handy oder Internet nicht glaubt, leben zu können, ist ein solcher Mensch „frei“?

Mit der Freiheit, so scheint es, ist es eine komplizierte Sache. Es gibt sie nicht pur, und sie ist nicht unbegrenzt vermehrbar. Mit jedem Recht, das Menschen sich erkämpfen, erhalten sie neue Pflichten. Und mit jedem technischen Fortschritt wachsen die psychischen Abhängigkeiten. Die Geschichte der Menschheit in Westeuropa ist die (wechselhafte) Geschichte eines alles in allem beispiellosen Erfolgs: Die Diktaturen von Königen, Adelshäusern, Kirchen, Ideologien und Führer-Parteien brachen alle irgendwann zusammen, demokratische Strukturen breiteten sich aus, die Menschen durften erst miteinander handeln, dann frei wählen, dann ihre Meinung frei äußern und heute aus Millionen von Produkten und Angeboten ihr Leben frei gestalten – zumindest im Prinzip. Wer reicher und erfolgreicher ist, hat mehr von diesen Freiheiten, wer als Transfer-Empfänger oder Asylant am „Rande der Gesellschaft“ lebt, weniger.

Ungleichheit, so mag man einräumen, gehört eben zur Freiheit dazu. Und die Ungleichheit der Menschen lässt sich nicht aus der Welt schaffen, ohne Menschen zu gängeln und zu deformieren. Doch wenn Ungleichheit zur Grundlage der Freiheit wird, sind die Verlierer der Gesellschaft unfreier als ihre Gewinner. Und wer Verlierer in einer Gesellschaft ist, ist nicht einfach eine Frage von mangelnder Begabung oder Untüchtigkeit; ebenso wenig wie Erfolg eine logische Folge ist von Strebsamkeit, Tüchtigkeit und Fleiß. Wer als reicher Erbe geboren wird, hat noch keinen Beleg seiner Tüchtigkeit geliefert, gehört aber a priori auf die Gewinnerseite. Wer im Sozialgetto mit den falschen Eltern zur Welt kommt hat oft nie eine realistische Chance.

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Freiheit ist nicht nur eine Frage von Prinzipien, sondern auch von sozialen Realitäten. Um jedem die Möglichkeit zu geben, seine Freiheit zu leben, muss die Gesellschaft deshalb vor allem eines tun: möglichst gleiche Ausgangsbedingungen für unterschiedlich veranlage und interessierte Menschen schaffen; jeden in seiner Verschiedenheit in gleicher Intensität fördern. Gleiche Chancen für alle in der Realität, nicht nur auf dem Papier, sind der ungeschriebene Verfassungsauftrag einer jeden freiheitlichen Gesellschaft. Wer sie der Bevölkerung verwehrt, gründet seine Freiheit auf Unfreiheit. Er schafft keine freiheitliche Gesellschaft, sondern er produziert Freiheitsideologie.

Auf dieser Grundlage stellt sich Frage nach dem Verhältnis von Freiheit und Demokratie. Wer in einer „freiheitlich-demokratischen“ Gesellschaft lebt wie der Bundesrepublik Deutschland, dem scheinen beide Begriffe oft logisch und untrennbar miteinander verbunden. Doch die Sache ist, bei Licht betrachtet, durchaus kompliziert. Es gab in der Geschichte Westeuropas demokratische Gesellschaften, die nach unseren heutigen Vorstellungen nicht freiheitlich waren, zum Beispiel die attische Demokratie im antiken Griechenland, die wir gerne geneigt sind als Urform der Demokratie anzusehen. Eine Demokratie, in der Sklaven die Hauptarbeit verrichteten und Frauen nicht wählen durften. Ebenso gab es freiheitliche Gesellschaften, die nicht wirklich demokratisch waren, man denke etwa an das England im viktorianischen Zeitalter.

Seite 2: Warum Freiheit und Demokratie immer wieder neu ausbalanciert werden müssen

Die moderne Fusion von Demokratie und Freiheit, wie wir sie heute in der Bundesrepublik kennen, spürt noch immer diesen Widerspruch in sich. Denn je mehr Demokratie in einem Land herrscht, umso weniger Freiheit kann es geben. Wie soll derjenige frei sein, der unausgesetzt auf die Interessen und Meinungen der anderen Rücksicht nehmen muss? (Die Selbstzerfleischungs-Probleme der Piraten belehren derzeit unmissverständlich über dieses Problem). Und je mehr Freiheit herrscht, umso weniger demokratisch wird es in einem Land zugehen. Sich frei über die Interessen anderer hinwegzusetzen, führt nicht in ein demokratisches Utopia, sondern in eine lupenreine Oligarchie, in der am Ende wenige Starke über viele Schwache herrschen.

Da Freiheit und Demokratie einander nicht logisch in die Karten spielen, müssen sie immer wieder neu ausbalanciert werden. Modelle dafür gibt es viele. Von der „sozialen Marktwirtschaft“ nach dem Gusto der Freiburger Schule bis zu dem bedeutenden liberalen US-amerikanischen Philosophen John Rawls. Dessen Regeln der gesellschaftlichen Fairness lesen sich seit vierzig Jahren als gleichsam zeitlose Handlungsanweisungen für freiheitlich-demokratische Staaten. Danach muss es gleiche Grundfreiheiten für alle geben. Die Freiheit des einzelnen darf nur um der Freiheit der anderen willen eingeschränkt werden. Und die sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten sind dann gerechtfertigt, wenn sie den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen.

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In einer Gesellschaft wie der Bundesrepublik Deutschland, in der die Schere zwischen Arm und Reich in bedrückendem Tempo auseinandergeht und die Staatsschulden proportional wachsen zu den Vermögen der Oberschicht – bringen hier die wirtschaftlichen Ungleichheiten den am wenigsten Begünstigten noch den größtmöglichen Vorteil? Oder müssen wir den Liberalen der Gegenwart die weisen Grundsätze ihres großen philosophischen Mentors neu einimpfen?

Die Freiheit unserer Demokratie ist immer bedroht, durch innere wie durch äußere Feinde. Für den Gast in meiner nächsten ZDF-Sendung, Mathias Döpfner, sind die wichtigsten dieser Gefahren die Schwächung Europas, der Staatskapitalismus Chinas, die Abschaffung der Privatsphäre im Internet und der radikale Islamismus. Gerade am Beispiel der Terrorgefahr durch islamistische Radikale zeige sich nach Döpfner die „Freiheitsfalle“, in der unsere Gesellschaft gefangen sei. Wer terroristische Gewalt mit gleicher Gewalt, Unrecht, Folter und Hass mit gleicher Münze zurückzahle (man denke an die Verbrechen von US-Militärs im Irakkrieg) – der zerstöre die Freiheit, die zu schützen er angetreten ist. Gleichwohl aber, so meint Döpfner, müsse der Westen die Freiheit seiner Gesellschaften, einschließlich der Freiheit Israels, mit Entschlossenheit, nicht zuletzt mit militärischer Entschlossenheit, gegen den radikalen Islamismus verteidigen.

Seite 3: Das Recht auf Freiheitsexport mit militärischen Mitteln

Man mag diese Position nachvollziehen und wird sich dennoch viele Fragen stellen müssen: Empfinden sich die radikalen Islamisten nicht ihrerseits als „Freiheitskämpfer“, die die arabische Welt gegen den aus ihrer Sicht unheilvollen Einfluss der westlichen Kultur verteidigen? Ein Muslim, der die heiligen Stätten des Islam von US-amerikanischem Militär besetzt weiß, sieht der in den USA ein Reich der Freiheit, gar einen Befreier? Solche Fragen zu stellen bedeutet gewiss nicht die islamistische Verdrehung des Islam als gleichberechtige Wertegemeinschaft zu unserer westlichen Kultur anzuerkennen. Aber es bedeutet besser zu verstehen, warum die Freund-Feindlinien der Weltpolitik so verlaufen, wie sie verlaufen.

Das Recht auf Freiheitsexport mit militärischen Mitteln gehört zu den umstrittensten Fragen gegenwärtiger Moralphilosophie. Nicht minder kompliziert erscheint die moralische Bewertung der Freiheits-Verschiebungen durch das Internet. Viele Internet-Fans erleben das Internet als Ort der Freiheit gegenüber den etablierten Massenmedien, mithin als Befreiungsmedium in einer Medien-Oligarchie. Gleichzeitig ist das Netz ein Ort der anonymen Denunziation, der Urheberrechtsverletzung und des ungezügelten Datenmissbrauchs, der mühsam erkämpfte Freiheitsrechte mühelos hintergeht.

Nicht genannt als Bedrohungen unserer Freiheitskultur sind bislang die Gefahr der Verkrustung unserer Demokratie durch Oligarchiebildung, die Entmachtung des Bürgerwillens durch Lobbyismus und der Freiheitsentzug der europäischen Bürger durch die Sachzwänge der Finanzmärkte. Und nicht zuletzt die Frage, warum die Freiheit und das Glück der Menschen in den Staaten der Welt nicht immer passgenau Hand in Hand miteinander gehen. Im World Happiness Report liegt Deutschland auf Rang 30 der glücklichsten Länder – hinter dem undemokratischen und unfreiheitlichen Unrechtsstaat Kuweit. Für das Glück, so erklären die Macher dieser umfassenden und weithin als seriös beachteten Umfrage, spielt die größte Rolle die Gesundheit, dann ein sicherer Job mit materiellem Wohlstand, dann ein funktionierendes soziales Umfeld und erst an vierter Stelle – die Freiheit.

Precht, am 07.10.2012 um 00:05 im ZDF

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