Bücher des Monats - Eine kleine Hirnmusik

Wie man nach einem Blitzschlag zum Klavierspiel findet, ganze Symphonien halluziniert, tausende Opern erinnert – und doch einfach Mensch bleibt

Was taten unsere steinzeitlichen Urahnen, nachdem sie Hunger und Durst gestillt und die drohendsten Gefahren abgewehrt hatten? Es gibt Grund zu der Annahme, dass sie klopfend, flötend oder irgendwie singend Musik gemacht haben. Das war so weit entfernt von Bachs «Kunst der Fuge», wie es heute «Tokio Hotel» sind. Wir wissen nicht, warum – und doch führt jener unstillbare Drang zum Musikmachen oder -hören zu den archaischsten Schichten des Menschseins. Der Homo musicus hat den Rhythmus im Blut; alle Versuche, Hund, Katze, Maus, selbst den gelehrigen Affen wenigstens zum Mitwippen zu bewegen, sind gescheitert. Und ganz gleich, mit wie viel beats per minute man das Huhn beschallt – es pickt nie im Takt.

Die Zusammenhänge zwischen Musik und Menschheit, zwischen tönender Betätigung und Intelligenz sind schon länger ein Lieblingsthema nicht nur der Bildungstheorie (weit mehr als der schulischen Praxis), sondern auch der Neurowissenschaft. Diese kann mit ihren neuen bildgebenden Verfahren dem visualisierungssüchtigen Pub­likum endlich knallbunt vor Augen führen, was man immer schon ahnte: dass Musiker anders im Kopf sind. Der Neurophysio­loge Gerhard Neuweiler etwa entwickelte gemeinsam mit dem Komponisten György Ligeti eine Theorie der «motorischen Intel­ligenz» am Beispiel des Klavierspielens (siehe „Literaturen” 9/2007). Weit weniger thesenfreudig, dafür aber geschichtengesättigt folgt jetzt Oliver Sacks’ Report aus der musikalisch-neurologischen Praxis: «Der einarmige Pianist».


Unwiderstehliche Lust auf Chopin

Einem breiteren Publikum ist der britische Neurologe vertraut mit Titeln wie «Der Tag, an dem mein Bein fortging» (1989) oder «Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte» (1990). Sacks kommt aus einem musischen Elternhaus, ist offenbar ein guter Klavierspieler und Musikhörer. Für die Rätsel um Mensch, Musik und Gehirn interessiert er sich schon so lange, dass im Laufe der Jahre eine kaum überschaubare Sammlung von Fundstücken zusammengekommen ist. Sacks ist der Meister des Fallbeispiels, und wenn man seiner neuen Kollektion des Schönen und Schrecklichen, des Wundersamen und Betrüblichen aus den Tiefen des Oberstübchens etwas vorwerfen könnte, dann nicht das Modische der Themenwahl, den schwach ausgeprägten literarischen Ehrgeiz der Darstellung, sondern höchstens die Überfülle des Materials, das hier weitgehend für sich sprechen muss. Vom Ohrwurm (den Sacks plausibel zum «Hirnwurm» umtauft) zu Amusie und Hochbegabung, zu Sprachverlust und Alzheimer, zu Synästhesie und Musiker-Dystonien, von den Hör-Nerven zur Hirnmusik geht es in 29 Kapiteln sämtliche Gehirnregionen auf und ab – jedenfalls die Temporallappen und Basalganglien –, so dass einem mitunter schwindlig wird. Zumindest verliert man bisweilen die Struktur des Ganzen aus den Augen: «Musikalische» Störungen – Musikalität – Musik und Gedächtnis – Musik und Identität.

«Oh, Scheiße, ich bin tot», sagt gleich in der ersten Abteilung, «Plötzliche Musiko­philie», ein Mann namens Tony Cicoria zu sich selbst, als er beim Telefonieren an einem Münzfernsprecher vom Blitz getroffen wurde. Tony war nicht tot, aber er konnte später von einer klassischen Nahtod-Erfahrung berichten. Ein paar Tage, nachdem er seine Arbeit als Orthopäde (ein paar Seiten später ist er Chirurg) wieder aufgenommen hatte, geschah etwas Merkwürdiges: Es überkommt ihn ein unwiderstehliches Verlangen nach Chopin.

«Im dritten Monat nach dem Blitzschlag war Cicoria – der einst so unbeschwer­te, freundliche Familienmensch, dem Musik fast gleichgültig gewesen war – von Musik beseelt, ja, besessen, und hatte kaum noch Zeit für irgendetwas anderes. Er begann zu glauben, er sei aus besonderem Grund ‹gerettet› worden.» Klavierspielen, Komponieren und Konzertbesuche sind seitdem Dr. Cicorias Lebensinhalt. Inzwischen ist er geschieden. Ob seine plötzliche Musikophilie der Grund war, erfahren wir nicht. Unbestreitbar ist aber die Verbindung zwischen dem Blitzeinschlag und dem Beginn der Musikalität.


Ein A, das Tag und Nacht erklang

Überraschende Ausbrüche von musikalischer Befähigung und Begeisterung sind auch nach Schlaganfällen beobachtet worden sowie im Zusammenhang mit Demenz-Symptomen. Wir können nur ahnen, was da zwischen Kortex und Temporallappen vor sich geht. Sicher ist, dass bei der Reorga­nisation des Gehirns nach heftigen Attacken auch Musik freigesetzt werden kann. Das muss nichts Schönes sein. Dass im Kopf Musik spielt, die man lieber nicht hören möchte, hat jeder schon erlebt. Für manche sind das jahrelange Qualen. In anderen Fällen lösen die falschen Töne krampfartige Zustän­de oder epileptische Anfälle aus. Eine der Figuren im Buch kann keine tiefen Blechblas­instrumente ertragen, eine andere keine Meyerbeer- oder Wagnermusik (der Mann war, Ironie des Schicksals, Musikkritiker).
Eine kleine Hirnmusik: Sacks berich­tet ausführlich von musikalischen Imagina­tionen aller Art. Wer Partituren lesen kann, «hört» die Musik. Pianisten können «im Geiste» üben, und manchmal effektiver als am Klavier. Wer ein Stück oft gehört hat, kann sich die Musik im Kopf vorspielen. Das kennt man; Sacks aber berichtet von mehreren Fällen, in denen Menschen sicher waren, sie hätten diese Kopfmusik tatsächlich vor Ohren gehabt, und als sie den Plattenspieler abstellen wollten, da war er gar nicht eingeschaltet gewesen. Einer dieser Fälle ist Oliver Sacks selbst.

Ob der taube Beethoven ein stärkeres musikalisches Vorstellungsvermögen hatte als zuvor? Der neurosyphilitische Robert Schumann litt am traurigen Ende seines Lebens an klingenden «Halluzinationen, die der Komponist in seiner kreativen Zeit gelegentlich im Griff zu behalten und sogar zu nutzen wusste». Dann aber nahmen sie überhand, «wobei sie zunächst zu ‹engelhafter› und dann zu ‹dämonischer› Musik verkamen, um schließlich zu einem einzigen, ‹schrecklichen› Ton zu werden, einem A, das Tag und Nacht erklang, unaufhörlich, mit unerträglicher Lautstärke».

Das Gehirn will beschäftigt sein, und wenn die nötigen Reize fehlen, dann produ­ziert es Halluzinationen, auch in den Ohren. Wer über das absolute Gehör verfügt, kann sogar den Ton seines Tinnitus bestimmen. Medikamente können musikalische Zwangs­vorstellungen auslösen, auch Aspirin und Chinin; Dr. Sacks hat dann mit schwach dosiertem «Gabapentin» gute Erfahrungen gemacht. Manchmal, wenn die Begeisterung über interessante Fälle den Neurologen fortträgt, klingt sein Buch nach Arztbericht.

Hat «Musikalität» neurologische Vo­raussetzungen? Eine gute Frage, die der Autor allerdings nicht konsequent verfolgt. Es gibt einfach zu viele gute Geschichten zu erzählen, wie die vom einarmigen Pianisten: dem unglücklichen Paul Wittgenstein, der seinen rechten Arm im Weltkrieg verloren hatte und sich dann bei den Größen seiner Zeit Konzerte für die linke Hand schreiben ließ; Geld spielte bei den Wiener Wittgensteins ja keine Rolle. Sacks berichtet von seiner Bekanntschaft mit dem Pianisten Leon Fleisher, der aufgrund einer Finger-Funktionsstörung (mit Ursache tief in den Basalganglien) zum «einarmigen» Pia­nisten wurde, jedenfalls für einige Jahre. Bis er lernte, dass «die wichtigste Sache in meinem Leben nicht das Spiel mit zwei Händen war, sondern die Musik …» Eine Prise Botox hätte auch helfen können.

Che ohne Rhythmus im Blut

Unser Gehirn, lernt man, ist ein manchmal widerspenstiges, meistens wunderbares Instrument. Sacks führt, wenn auch nicht auf geraden Wegen, in ein faszinierendes Gebiet: Es muss in unseren Köpfen so etwas wie eine hochdifferenzierte musikalische Parallelwelt geben. Nicht nur, wer Klavier oder Geige übt, verändert seine «kortikalen Kartierungen» im Hirn – je fleißiger, desto nach­haltiger. Schon die Aufmerksamkeit, die sich auf einen Laut richtet, hat einen nachweisbaren Effekt. Das Potential dieses Instruments scheint unerschöpflich. In einem Pfle­geheim sitzt ein Mann mit stark verminderter Intelligenz, aber er kennt zweitausend Opern auswendig. Che Guevara dagegen soll vollkommen amusisch gewesen sein, er tanzte Mambo, wenn die Kapelle Tango spielte. Bei manchem großen Rhythmiker wiederum scheint das Tourette-Syndrom eine Rolle zu spielen.

Das alles ist erstaunlich. So sehr, dass man, den Kopf voller Sacks-Geschichten, auf die Idee kommen könnte, Musik sei über­haupt eine interessante psychische Krankheit. Aber das ist natürlich Unsinn. Novalis wuss­­­­te, dass es sich umgekehrt verhält: «Jede Krank­heit ist ein musikalisches Problem, die Heilung eine musikalische Auflösung.»

 

Holger Noltze ist Professor für Musik und Medien an der Universität Dortmund. Zuletzt erschien «Wagner für die Westentasche».

 

Oliver Sacks
Der einarmige Pianist. Über Musik und Gehirn
Aus dem Englischen von Hainer Kober.
Rowohlt, Reinbek 2008. 398 S., 19,90 €
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