Das Journal - Diskurstheater auf der Romanbühne

Thomas Meinecke sampelt in seinem «Jungfrau»-Roman ein post­modernes Katholizismus-Konglomerat

Am Abend des 6. Januar 2007 fährt der Student Lothar zu seiner Exfreundin in die Stadt, unterwegs kauft er sich einen Kaffee. Dabei begegnen ihm vier Mädchen, als Sternensänger verkleidet – kein allzu kniffliger Einstieg in einen Roman, wäre er nicht von Thomas Meinecke. Denn hier gehen die Sternensängerinnen nicht einfach als Sternensängerinnen durch, sondern werden zu «juvenilen Drag Kings im karitativen Auftrag der Katholischen Kirche» gemacht. So ausgeleuchtet, erscheinen sie wie Vorboten für drei der vielen Themengebiete, die in «Jungfrau» verhandelt werden: Gender Studies, Theaterwissenschaften und katholische Religion.

Wie eine bunte Mischung von Studien­fächern klingt das, und tatsächlich ist der Roman hauptsächlich von Studenten bevölkert. Sie treffen sich in Cafés, gehen auf Partys, verlieben sich, trennen sich – aber all dies eigentümlich beiläufig, denn vor allem machen sie eins: studieren. Die Interessen sind dabei weitgefächert, und gleichzeitig gehen sie bis ins letzte Detail: Lothar, der gerade von den Theaterwissenschaften zum Studium der katholischen Theologie gewechselt ist, hat ein Keuschheitsgelübde abgelegt. Nun stürzt er sich in die Schriften des Theologen Hans Urs von Balthasar, der die «mystischen Ergüsse» und Visionen der Ärztin Adrienne von Speyr mitstenografierte. Um sexuelle Entsagung und religiöse Erfüllung geht es da – unter anderem. Weiter hangelt Lothar sich an den Schriften von Benedikt XVI. zu Eros, Agape und Caritas entlang und landet schließlich in einer Vorlesung des slowenischen Philosophen Slavoj Zizek, der für die «Re-Theologisierung der postmodernen Philosophie» eintritt. Für einen Roman ein reichlich theo­retisches Programm, möchte man meinen, doch hier kommen auch noch Queer Thea­tre und Mysterienspiele hinzu, mit denen sich Lothars Exfreundin Jeannine beschäftigt. Und dann sind da auch noch der Romanist Gustav und Concordia, eine weitere Theologin.

Ob beim Lesen, Bibliografieren, Exzerpieren oder Recherchieren, stets schaut der Leser den Studenten gleichsam über die Schulter und liest mit, so dass ein Text ganz nach Meinecke’scher Manier entsteht. Wie als DJ nutzt Meinecke auch in seinen Roma­nen das Sampling als literarisches Verfahren. Aus unterschiedlichsten Textquellen setzt er Stücke aneinander, um neue Bedeutungszusammenhänge zu generieren: der Autor als Text-Jockey.


Party-Dialog im Hausarbeiten-Stil

In «Jungfrau» gehen auch noch die Protagonisten ganz in ihren Studienfächern auf: Vor lauter Franzosen-Euphorie benennt Gustav sich in Gustave um; und Lothar, kaum hat er sein zölibatäres Leben begonnen, verfällt der Jazzpianistin Mary Lou Mackay, einer Allegorie der Versuchung; nun will er ihr in einer Asymp­­tote näherkommen. Der Leser hat es hier also nicht wirklich mit Roman­figuren zu tun, sondern mit einer lite­rarischen Fleischwerdung von Inte­ressensgebieten.

Ist das nur ein Trick, um dem Diskursbrei etwas mehr Leben einzuhauchen? Nötig wäre es bei so viel Theoriemasse – doch sprechen Mei­neckes Studenten sogar auf Partys noch so, als würden sie eine Hausarbeit aufsagen. Da möchte Jeannine etwa von Lothar wissen, «ob es sich nicht auch auf Andy Warhols berühmte asexuelle Orientierung übertragen ließe, wenn Brecht über Jack Smith schreibt, daß dieser mit seinen queer and renegade Roman Catholics on welfare, in seinen schrägen Inszenierungen der Erotik, vor allem in den Filmen Flaming Creatures und Normal Love, in dem Andy Warhol übrigens kurz als Frau auftrete, die unse­re Welt omnipräsent regierende He­te­ro­normalität nicht mit andersarti­gen Ausprägungen von Sexualität konfrontiere, sondern Sexualität schlecht­hin werde hier, gerade in der flamboyanten Travestie, mit Heterosexualität gleichgesetzt». Was für ein Satz!

Meinecke, der selbst Theaterwissenschaften studiert hat, bringt in «Jungfrau» also ein riesengroßes Diskurstheater auf die Roman-Bühne, in dem auch noch die letzte Requisite eine Bedeutung hat: Gehen die Studenten am Abend Cocktails trinken, so steuern sie die Kneipen «Maria» und «Joseph» an, das Lieblingsparfum heißt «Theorema», und auf Postkarten ist Jesus auf dem Weg zur Kreuzigung abgebildet.

Mehr und mehr reagieren auch die Diskurse selbst kreuz und quer: Andy Warhol, Jacques Lacan, die große und die kleine heilige Therese, Jack Smith, die Jazz-Pianistinnen Jutta Hipp und Mary Lou Williams, Hubert Fichte, Clemens Brentano – alle scheinen auf mystische und symbolträchtige Weise mit allen verbunden zu sein.

Meineckes gesampelte Versatzstücke lassen diese Zusammenhänge greifbar erscheinen, doch ist es unmöglich, jedem einzelnen der eng verknüpften Erkenntnisstränge zu folgen, allen Theorieschnipseln auf den Grund zu gehen – wie sollte dies auch möglich sein, wenn sogar der Autor Meinecke einmal feststellte, er selbst verstünde durchaus nicht alles, was er da an Theorie in seine Romane mischt. Mit «Jungfrau» zeigt er sich daher auch nicht als ein Autor, sondern eher als, sagen wir: ein Medium für Diskursvisionen.

Und gleich könnte man nach weiteren Sinngebungen graben. Vielleicht hat der Roman ja die Struktur eines mittelalterlichen Mysterienspiels? Ein derart vertrackt postmodernes Katholizismus-Konglomerat lässt sich letztlich nur mit protestantischer Arbeitswut angehen. In den Worten von Lothars Exfreundin: ein «ganz schöner Brocken».

 

Thomas Meinecke
Jungfrau
Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2008. 348 S., 19,80 €

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