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(picture alliance) Ankepetra und Franz Müntefering, 2003.

Palliativmedizin - Die Lust auf Leben bis zum Schluss

Sterben tut nicht weh und Palliativmediziner kriegen jeden Schmerz in den Griff? In Sachen Tod werden immer noch viele Unwahrheiten aufgetischt. Dabei könnten wir uns viel mehr zutrauen

Es war so beruhigend, was der Spiegel vor einigen Wochen in einer Titelgeschichte über das Sterben schrieb: Die Angst vor dem Sterbeprozess sei unnötig, hieß es da – und zum Beweis wurden Pflegedienste zitiert. Kathrin Dwornikiewicz etwa erklärte glaubhaft, auch Durchbruchsschmerzen eines Tumors „haben wir nach fünf bis zehn Minuten mit Medikamenten im Griff“. Dasselbe Argument nutzen aktuell die Gegner der Sterbehilfe: Kein Schmerz sei so schlimm, dass man ihn nicht behandeln könne. Aktive Sterbehilfe dürfe deswegen nicht erlaubt sein. Menschen, für die ein lebenswertes Weitermachen möglich wäre, hätten dann zu früh die Möglichkeit, sich davon zu machen.

Das alles klingt schön und man mag es nur allzu gerne glauben. Allein: Es ist nicht die Wahrheit. Wer einmal einen kranken Menschen am Sterbebett begleitet hat, der weiß, dass es Zeiten gibt, in denen die Medizin die Schmerzen nicht abschalten kann, in denen die Angst überwiegt, in denen die Sprachlosigkeit die Luft im Raum vergiftet, in denen die Hilflosigkeit alles überschattet.

Franz Müntefering trat vor fünf Jahren von allen seinen politischen Ämtern zurück, um die letzte Zeit mit seiner sterbenden Frau zu verbringen. Nun erhielt er den Ehrenpreis des deutschen Hospiz-und Palliativverbandes. Als er den Preis in den Händen hielt, sagte er: „Die Liebe zum Leben und die Lust auf Leben. Das muss bleiben. Bis zum Schluss.“ Müntefering hat seine Frau erlöschen sehen. Die Erfahrung hat ihn nicht zermürbt – im Gegenteil. Sie hat ihn stark gemacht.

Es sind viele Lügen im Spiel, wenn es ums Sterben geht. Lügen, die aus der Angst erwachsen. Dabei wird ein mutiger Umgang mit dem Tod in einer alternden Gesellschaft immer wichtiger. Deswegen ist es an der Zeit, offen zu sprechen. Sterben kann sehr schmerzhaft sein. Eine hochentwickelte Gesellschaft wie die unsere stellt sich ungern den Momenten, in denen sie die Kontrolle verliert. Den Zuständen, bei denen Blut im Spiel ist, Körpersäfte, Fäkalien, Gerüche, Schreie oder Seufzer. Der Tod ist nicht sauber, nicht einfach.

Seite 2: Wolfgang Bosbach: Kontrolle bis zum Schluss

Wolfgang Bosbach, gezeichnet von seiner Krebserkrankung, gibt sich in einem Interview mit dem Spiegel kampfeslustig und erklärt, dass er in der Zeit, die ihm verbleibt, weiterhin die Geschicke der Bundesrepublik mitlenken will. Kontrolle behalten solange es geht. So altert man heute. Wenn Gunter von Hagens im Interview mit der Bild von seiner Parkinson-Krankheit spricht, dann ist das fast mehr als die Öffentlichkeit aushält. Es ist rar, dass einer erzählt, wie er sabbert und weint.

Dabei kann der Kontrollverlust erleichternd sein. Der Besuch am Sterbebett, die Umarmung für den Todkranken, das Gespräch mit ihm und seinen Angehörigen. Wer sich dorthin wagt, der stellt nach dem Schaudern fest: Plötzlich wird alles leichter. Denn das ist es, was wir auch wissen: Der Mensch ist dafür gemacht, all das auszuhalten. Es zu ertragen. Dies ist der Trost, den Sterbebegleiter spüren, wenn sie ihrer Arbeit nachgehen. Es ist der Motor, der Hospizmitarbeiter am Laufen hält. Menschen verarbeiten viel mehr, als uns die Sterilität, die Makellosigkeit, die Planbarkeit der Moderne glauben machen.

Wichtig ist nur, dieses Tabu einzureißen, BEVOR es die Sterbenden in ihren Betten erwischt. Es gibt nichts Hilfreicheres, um loslassen zu können, als die Zeit nach dem Tod geregelt zu wissen, predigen Palliativmediziner. Wer aber sein Leben lang nicht über das Sterben nachdachte, dem wird das auch in seinen letzten Tagen und Monaten schwer fallen. Wie sollen von Krankheit und Leiden geschwächte Menschen und ihre Angehörigen die Kraft aufbringen, ein zementiertes Tabu zu brechen, wenn sie noch nicht einmal mehr das Essen zum Mund führen können?

Dann entstehen Situationen, in denen Kinder ihre Eltern zu Grabe tragen ohne zu wissen, ob diese eingeäschert werden wollten oder nicht. Sie werden zur Ruhe gebettet an einem Ort, der vielleicht nicht ihr Wunschort war, einfach weil sich niemand traute, über den Moment nach dem Tod zu sprechen. Es ist ihnen nicht zu verübeln, haben sie es doch nicht anders gelernt.

Deswegen ist Offenheit zu Lebzeiten im Hinblick auf unser Sterben so wichtig. Das Tabu einreißen, solange wir noch stark genug dafür sind. Offenheit entsteht aus Mut, aus Angstlosigkeit, aus Zuversicht. Aus der Lust auf Leben bis zum Schluss.

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