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(Axel Springer Verlag) Kollektiver Überschwang und dumpfe Ängste in einem Buch

Papiernes Horrorkabinett - Die „Bild“ zwischen zwei Deckeln

Fast unanständig: Eine Feier des Boulevard-Blatts im Prachtband

Kann man sich einen Leser vorstellen, der am Zeitungskiosk zur „Bild“ greift, aber auch bereit ist, hundert Euro für einen DIN-A3-formatigen und elf Kilogramm schweren Band aus einem Kunstbuchverlag zu bezahlen? Und wie steht es um die, die zwar als Kunstbuchleser in Frage kommen, aber „Bild“ sonst nicht mal mit spitzen Fingern anfassen? Werden sie dieses geradezu monströse Objekt gut sichtbar im Wohnzimmer verwahren wollen? Vorne drauf und umschlagfüllend prangt beinahe obszön das rot-weiße Logo des mächtigsten Blut-Schweiß-und-Tränen-Blatts in deutscher Sprache.

Es ist eine mutige und schlichte Idee, die hier, zum sechzigsten Geburtstag dieser Tageszeitung, umgesetzt wurde: Auf 750 Seiten sind originalgroße Titelblätter versammelt, von 1952, dem Gründungsjahr, bis in die jüngste Gegenwart: Auf dem letzten, es stammt vom 9. März 2012, wiegt die „schöne Eva aus Polen“ ihre silikonoptimierten Brüste stolz in beiden Händen; die Schlagzeile dazu verkündet, dass „Bild“ ab sofort das Seite-1-Girl abschafft. Man kann nur darüber spekulieren, wie traurig diese Meldung den treuen „Bild“-Leser gestimmt hat, und ob sie ihm gar als lebensverändernder Einschnitt vorgekommen sein mag.

„Bild“ dokumentierte aber auch die wahrhaft bedeutenden Ereignisse der letzten sechzig Jahre. Mauerbau und Kalter Krieg, Deutscher Herbst und Wiedervereinigung, Mondlandung, Vietnamkrieg und der 11. September fallen in diese Zeit, dazu nicht weniger als fünfzehn Fußball-Weltmeisterschaften. Und das ist so grandios an dieser speziell gefärbten Chronik: Indem das „Bild“-Buch die Geschichte noch einmal durch die Brille des Boulevards erzählt, dokumentiert es, wie die meisten Deutschen zunächst auf ihre Gegenwart geschaut haben; das Blatt war hierzulande stets die auflagenstärkste Tageszeitung. Schwachsinn und Weltpolitik, Prominenentenklatsch und Ernährungstipps – all dies konnte in großen Lettern zum Ereignis des jeweiligen Tages erklärt werden. „Der Mond ist jetzt ein Ami“, „Baader-Meinhof ißt Kaviar in der Zelle“, „1. Tor mit Penis geschossen“, „Juhnke auch von Friseuse verlassen“, „Düsenknall – und eine Stumme konnte sprechen“ – und dann, am 12. September 2001, ein Gebet: „Großer Gott, steh uns bei!“ Eine Frau, die drei Gatten hintereinander mit Blaubeerpudding vergiftete, ist heute in Vergessenheit geraten, nicht aber die dadaistische Gedichtzeile „Wir sind Papst!“.

„Bild“ konnte kollektiven Überschwang und dumpfe Ängste auf den Begriff bringen oder überhaupt erst hervorrufen. Wie mächtig die Zeitung durch Kampagnen auch in die Politik hineinwirkte, bewiesen noch jüngst die Rücktritte von Guttenberg und Wulff. Allzu ausgedehnte Gänge durch das Horrorkabinett, das hier erstmals zwischen Buchdeckel gebracht wurde, empfehlen sich nicht. Schließlich enthält der riesige Pappkarton, in dem das „Bild-Buch“ verkauft wird, kein Kopfschmerzmittel. Aber blättern genügt: Man stößt dabei auf das Rohmaterial, aus dem die Psyche der Deutschen geformt wurde.

Das Bild-Buch, Taschen, Köln 2012. 752 S., 99,99 €

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