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Benedikt XVI. - Der Papst der Freundschaft

Papst Benedikt XVI. verpasste es in seinem Pontifikat zwar, wichtige aktuelle Probleme zu lösen. In einer Zeit der Anonymität und der Sexualität prägte jedoch der Gedanke an die Freundschaft sein Denken. Damit hinterlässt Benedikt ein wichtiges Erbe

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Christophe Fricker ist Autor, Übersetzer und Literaturwissenschaftler. Er lebt in Bremen und Bristol.

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In seiner bewegenden Rücktrittserklärung bittet Papst Benedikt XVI. um „Verzeihung für alle meine Fehler“. Zu diesen Fehlern zählen viele die Weigerung, homosexuelle Lebensgemeinschaften anzuerkennen, das Zölibat abzuschaffen und die Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche tatkräftig aufzuarbeiten. Sie sehen darin Zeichen des mangelnden Respekts vor innigen Beziehungen einerseits und kirchenpolitisch motivierte Taktiererei zum Schaden unschuldiger Kinder andererseits.

Diese Einschätzungen übersehen ein zentrales Anliegen des Papstes. Benedikt XVI. hat wie kaum ein anderer Kirchenführer vor ihm die Freundschaft zum Leitbild zwischenmenschlicher Beziehungen erklärt. In einer Zeit der Anonymität und der Sexualität prägte sein Denken der Gedanke an die Freundschaft.

Benedikt XVI. kritisierte, dass Pornographie und besonders Kinderpornographie heute „etwas Selbstverständliches“ seien. Er beklagte, dass „Menschen zum Marktartikel gemacht werden“. Das Urbild für diesen zum „Kontext unserer Zeit“ gehörenden Missstand zeige die Offenbarung des Johannes in den „großen Sünden Babylons“, sagte er in der Weihnachtsansprache für das Kardinalskollegium 2010.

Ausgebeutete und ausgestellte Sexualität gibt es nicht erst seit gestern. Seit einem Jahrhundert ist die Sexualität die gesellschaftliche Normalvermutung (Freud), seit einem halben Jahrhundert die Normallösung (1968). Seit einem Jahrzehnt ist sie auch die Normalumgebung – durch das Internet. Auf der amerikanischen Webseite urbandictionary.com stehen die „Rules of the Internet“, eine Liste von einhundert mehr oder weniger sinnvollen Sprüchen. Eine Version der „Regel“ 34 lautet: „Wenn etwas im Internet steht, wird irgend jemand es für pornografisch halten.“ Wer das pornografische Potenzial eines Bildes oder einer Situation nicht erkennt, ist naiv. Der Anschein der Asexualität blendet ihn, anstatt ihn zur Suche nach sexuellen Dimensionen anzuregen. Menschliches Handeln wird immer häufiger sexistisch eingeengt.

Sexuelle Gewalttäter entdeckte man in den letzten Jahren in verschiedenen Organisationen. Einige waren Trainer amerikanischer Uni-Sportmannschaften, andere waren Lehrer an Reformschulen. Und viele waren katholische Priester. Sie missbrauchten das Vertrauen von Kindern aus ihrer Gemeinde und gebrauchten diese Kinder zur Befriedigung ihrer sexuellen Gelüste. Eine irische Untersuchungskommission sprach vom doppelten Skandal der Gewalttaten selbst und der Art, wie die Kirche mit Hinweisen darauf umging. Die Kommission stellte fest, dass führende Vertreter der Erzdiözese Dublin und sogar Sprecher des Vatikans kirchenrechtliche Regeln nicht kannten, nicht befolgten oder nicht für gültig oder anwendbar hielten und dass sie in dem Versuch, negative Berichte über die Kirche abzuwenden, deren Untaten noch verschlimmerten. Die Kirche schöpfte ihre juristischen Sanktionsmittel nicht aus, und viele Priester sahen die sakramentale Einrichtung des Zölibats nicht als Chance, einen freieren Blick auf die Fülle der Schöpfung zu erlangen.

Papst Benedikt XVI. bewertete diese Situation dogmatisch. Er erinnerte daran, dass „in der großen rationalen Tradition des christlichen Ethos die wesentlichen und bleibenden Grundlagen moralischen Handelns“ liegen und individuelles und institutionelles Fehlverhalten durch die Rückbesinnung darauf zu heilen und zu vermeiden sind. Er vertrat in Zeiten sexueller Gewalt ein menschliches Beziehungsmodell, das durch Liebe, Respekt und Zuwendung geprägt ist und sich in gemeinsamer Arbeit, einträchtiger Stille und demütigem Zusammensein erfüllt: die Freundschaft.

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Als Leitbild für Freundschaften sah Benedikt die „Freundschaft mit Christus“. Schon am Tag vor seiner Wahl erklärte der damalige Kardinal Joseph Ratzinger: „Je mehr wir Jesus lieben, je mehr wir ihn kennen, desto mehr wächst unsere wahre Freiheit, wächst unsere Freude darüber, erlöst zu sein. Danke, Jesus, für deine Freundschaft!“ Ratzinger vermischt hier die Begriffe Liebe und Freundschaft: Wir lieben Jesus, der uns die Freundschaft angeboten hat. Bei seiner ersten Generalaudienz sagte Benedikt: In der Freundschaft mit Christus „öffnen sich die Türen des Lebens. Erst in dieser Freundschaft gehen überhaupt die großen Möglichkeiten des Menschseins auf. Erst in dieser Freundschaft erfahren wir, was schön und was befreiend ist.“ Durch die freudige Erfahrung der Befreiung, die befreiende Erfahrung der Freude kann der Mensch in der Freundschaft die Fülle seiner Möglichkeiten erkennen. Wer sich ganz dem einen Freund widmet, wendet sich nicht von der Welt ab, er kehrt sich ihr erst zu.

Laut Benedikts Vorgänger Johannes Paul II. ist die „Begegnung mit Christus“ nicht nur ein „Flehen um Hilfe“. Benedikt kennzeichnete diese „Begegnung“ als Freundschaft, und dadurch ist klar, dass sie auch „Danksagung, Lob, Anbetung, Betrachtung, Zuhören, Leidenschaft der Gefühle bis hin zu einer richtigen ‚Liebschaft‘ des Herzens“ ist. Die „Anbetung“ spiele nicht nur in dieser besonderen Freundschaft eine Rolle. Auch in anderen Freundschaften gebe es die staundende und verhaltene Aufmerksamkeit auf die Würde des Anderen, die fraglos besteht und zur Verantwortung mahnt. Auch so bete der Mensch – nicht indem er den anderen vergöttert, sondern indem er in ihm das Walten Gottes erkennt. Bei einer Generalaudienz im Februar 2011 wies Benedikt darauf hin, dass Freundschaft und Gebet schon bei der heiligen Theresa von Avila und beim heiligen Thomas von Aquin zusammengehören. Beide verstanden das Gebet als freundschaftliche Begegnung.

Die „Freundschaft mit Christus“ war seit seiner Priesterweihe Joseph Ratzingers Thema. „Ich nenne euch nicht mehr Knechte; vielmehr habe ich euch Freunde genannt“ – dieser Satz aus dem Johannesevangelium war sein Losungswort. Er habe es als direkte, persönliche Ansprache Christi empfunden. Was ihm diese Freundschaft bedeute, beschrieb er am 60. Jahrestag seiner Priesterweihe: Christus „gibt mir die fast erschreckende Vollmacht zu tun, was nur er, der Sohn Gottes, sagen und tun kann und darf: Ich vergebe dir deine Sünden. Er will, dass ich – von ihm bevollmächtigt – mit seinem Ich ein Wort sagen kann, das nicht nur Wort ist, sondern Handeln, das im Tiefsten des Seins etwas verändert.“ Diese Freundschaft ist eine tiefe und dauernde Verbindung. Sie erfüllt sich im Handeln gegenüber der Gemeinde. Die Freundschaft stärkt den Freund, sie ermöglicht es ihm, seine Mitmenschen zu stärken. Der Freund handelt im Namen seines Freundes Jesus Christus, der ihm vertraut.

Auf seiner Reise in das fast bis ins Mark säkularisierte Großbritannien erklärte Benedikt im September 2010, die Opfer sexueller Gewalt hätten „wie Christus und die Märtyrer“ für ihren Glauben an das Gute gelitten. Er verglich ihr Leiden als Opfer „dieser unbeschreiblichen Verbrechen“ mit der Passion Christi und bekannte seine „Beschämung und Demütigung“. Benedikt bezog vor den weit offenen Augen der Kirche deren Sünden auf den Kern des Glaubens. Er sprach die zutiefst persönliche Dimension der Vertrauensbrüche und der sexuellen Gewalt an und stellte sie zugleich in einen heilsgeschichtlichen Kontext.

Die im Leiden in der Welt und im Vertrauen auf die befreiende Kraft des Evangeliums Vereinten sprach Papst Benedikt in Westminster Cathedral so an: „Liebe Freunde in Christus!“ Gegen die Freunde, gegen ihre Freundschaft hätten sich die Gewalttäter gestellt und damit gegen die Würde des Einzelnen und die Hoffnung der Kirche auf ihre Vollendung.

Papst Benedikt XVI. musste bewusst sein: Die Suche nach einem Neuanfang für die Opfer und für die Kirche durfte keine Augenwischerei sein. Deshalb betrieb er mit solchem Nachdruck die Neubestimmung der „Freundschaft“. Das ist sein Erbe. Inwiefern sich daraus neue Gedanken zur Liebe zwischen Männern ergeben, kann sein Nachfolger ausloten. Vielleicht wird es ja der Wiener Erzbischof Christoph Schönborn. Dessen Losungswort lautet: „Vielmehr habe ich euch Freunde genannt“.

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