- Der Hund spricht, aber die Bilder schweigen
Tom McCarthy findet in «Tim & Struppi» verborgene Symbolik, hat aber keinen Begriff für den ästhetischen Eigensinn des Comics
Er hat in Afrika mit Löwen, in China mit
Verschwörern gekämpft und ist im Himalaya auf den Yeti gestoßen.
1954 spazierte er als erster Mensch auf dem Mond: In
sämtlichen Erdteilen und sogar im All hat der Reporter Tim
aufregende Abenteuer erlebt, zusammen mit seinem treuen Begleiter,
dem sprechenden Foxterrier Struppi. Über fünfzig Jahre lang, von
1929 bis zu seinem Tod 1983, zeichnete Georges Rémi, alias Hergé,
«Tim und Struppi»-Geschichten und inspirierte damit Generationen
von Comic-Künstlern. Als Erster importierte er die damals noch neue
Ästhetik der amerikanischen Comic-Strips in die Alte Welt – mitsamt
ihrer Onomatopöien, Sprech-blasen und Bewegungslinien. Für Europa,
wo man noch am alt-väterlichen Bildergeschichtenstil Wilhelm Buschs
klebte, war das eine visuelle Revolution. Anfangs erzählte Hergé simple
Fortsetzungsabenteuer, später aber komplex konstruierte Geschichten
mit vielfältigeren Nebenfiguren. Man denke an den ewig fluchenden
Kapitän Haddock, den genialen, aber harthörigen Erfinder Professor
Bienlein, das Detektivduo Schulze undSchultze und die
furchteinflößende Opernsängerin Bianca Castafiore. Gegenüber diesen
eigenwilligen Gestalten tritt die Hauptfigur Tim bald in den
Hintergrund – im Meisterwerk «Die Juwelen der Sängerin» von 1963
dreht sich der gesamte Figurenkosmos wie in einem postmodernen
Spiegelkabinett bloß noch um sich selbst. Haddocks manchmal gerötete
Nase Kein Wunder, dass
gerade die späten «Tim und Struppi»-Geschichten zum
Lieblingsgegenstand der dekonstruktivistischen und
psycho-analytischen Literaturkritik wurden; seit den Siebzigern
suchten die Schüler Derridas und Lacans hier unermüdlich nach
Spiegelstadien und entwendeten Briefen, Klitoris- und
Kastrationssymbolen. Ein später Vertreter dieses Trends ist der
1969 geborene britische Literaturkritiker und Autor Tom McCarthy,
der letztes Jahr auch in Deutschland mit seinem durch Baudrillard
inspirierten Simulakren-Roman «8 1/2 Millionen» für Furore
sorgte. Er hat den «Tim und Struppi»-Comics einen langen
literaturwissenschaftlichen Essay gewidmet,
in dem er fein säuberlich ihre
Motivketten und Handlungsstränge rekonstruiert und dabei auf
überraschende Verbindungen zwischen scheinbar weit
auseinanderliegenden Episoden stößt. Er macht auch allerlei
«geheime» Zweitbedeutungen meist sexualpathologischer Natur aus. Am
Ende, so ist der Autor sich sicher, dreht sich alles um die
Klitoris von Bianca Castafiore, und Kapitän Haddocks manchmal
gerötete Nase ist natürlich ein Phallus-Symbol.
McCarthy schöpft aus einer enzyklopädischen
Werkkenntnis; so kann er aus Gags und Details, die man bei
flüchtiger Lektüre nur allzu leicht übersieht – notorische
Versprecher, wiederkehrende Motive wie Rätsel und Gräber, die
sonderbar sexuell aufgeladenen Rausch-Fantasien Kapitan Haddocks
und Bianca Castafiores erregende Unfähigkeit, sich den Namen des
Kapitäns zu merken –, ein dichtes Netz aus psychoanalytischen
Verweisstrukturen stricken. McCarthy interessieren Zwillings- und
Doppelgängermotive und Hergés notorischer Hang zu Königsfiguren und
Thron- folgergeschichten.
Dazu führt er in der überraschendsten Volte des Buches ein
biogra- fisches Faktum an:
Hergés Vater und Onkel waren uneheliche Kinder eines gräflichen
Dienstmädchens, und zeitlebens umschattete sie das Gerücht, ihr
wahrer Vater sei der belgische König.Comics sind keine Literatur
Das ist oft originell, immer
heiter dahingeschrieben, in den Details inspiriert und durchweg
kurzweilig zu lesen. Und doch: Das Interessanteste an dieser Studie
ist die Konsequenz, mit der sie ihren Gegen stand in ästhetischer
Hinsicht verfehlt. An keiner Stelle berücksichtigt der Autor, dass
es sich hier eben nicht um geschriebene Texte handelt, sondern um
Comics, das heißt: um Verbindungen aus Bildern und Texten, deren
Funktionsweise und ästhetischer Witz nur in der Zusammenschau
beider Zeichenarten begreifbar werden. McCarthy liefert keine
einzige Bild beschreibung; Hergés grafischer Stil – der als «Ligne
Claire» zum Vorbild einer ganzen Comic-Schule wurde – ist ihm
nicht eine Erwähnung wert. Dabei zeigt sich erst im Widerspruch
zwischen dieser künstlich-naiven, geometrisch-klaren Zeichen
sprache und den zusehends obskurer werdenden Geschichten die ganze
Komplexität dieser Comics. Gehört «Tim und Struppi» zur Literatur? Tom
McCarthy meint: Nein. Doch legt er großen Wert darauf, dass diese
Comics genauso komplex, genauso herausfordernd, genauso tief wie
die größten litera rischen Werke sind. Kann sein oder auch nicht.
Aber das ist gar nicht das Problem. Dass Comics keine Literatur
sind, ist keine Frage der Qualität, sondern eine des ästhetischen
Eigensinns. Spannend werden Comics gerade zwischen den Bildern und
Texten – in jenen Zonen, in denen sie den Blick des Betrachters
irritieren und zwischen verschiedenen Wahrnehmungsweisen hin und
her schicken. Davon hat Tom McCarthy nicht die leiseste Ahnung;
darum werden ihm auch die wahren Geheimnisse von «Tim und Struppi»
für alle Zeit verschlossen bleiben. Tom
McCarthy Tim & Struppi und das Geheimnis der Literatur
Aus dem Englischen von Andreas
Leopold Hofbauer. Blumenbar, Berlin 2010. 260 S., 18,90 €
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