Kurz und Bündig - Christina Bartz: Massenmedium Fernsehen

Seit 1961 wird der Begriff der Massenmedien in Deutschland verwendet. Inzwischen ist er

Seit 1961 wird der Begriff der Massenmedien in Deutschland verwendet. Inzwischen ist er
so vertraut, dass man es auch mit der Sache zu sein glaubt, die er bezeichnet: Das Fernsehen sei ein Massenmedium, welches sich an die Massen wende und zugleich die Zuschauer als Massen konstituiere. Die Massenmedien – dies scheint offensichtlich, denn sonst schauten nicht so viele Leute das gleiche Programm – haben genau den ent-individualisierten Typus hervorgebracht, den sie als Konsumenten ihrer Formate benötigen. Dass Millionen fernsehen, obwohl die Sender sich an vollkommen unbekannte Adressaten wenden, belege, dass diese Millionen weltweit alle so ziemlich das Gleiche goutieren: Kinder Teletubbies, Frauen Krankenhaus-Sendungen und Männer Fußball. Die konforme Masse, auch wenn sie millionenfach vereinzelt vor den Mattscheiben sitzt, lasse sich folglich als eine Art Supersubjekt beobachten und studieren. Diesen fest etablierten Zirkelschluss durchbricht Christina Bartz mit ihrer luziden Analyse der «Semantik der Masse in der Medienbeschreibung». Der Begriff der Massenmedien zehrt nämlich von hundert Jahre alten Annahmen der Massenpsychologie über Auflaufmassen: In den Zeiten der Psychologen Scipio Sighele (1868–1913) und Gustave Le Bon (1841–1931) wurde den Massen Reflexionsvermögen und Affektkontrolle rundweg abgesprochen. Stattdessen stellte man eine Aufreizbarkeit und Empfangsbereitschaft fest, die sie für jede Agitation empfänglich mache. Abenteuerlichste Spekulationen über Massenhypnose werden in den 1950ern umstandslos in das TV-Zeitalter hinübergerettet, vor allem die These, dass die Masse nicht kommuniziere, sondern wahrnehme und auf sinnliche Reize vorhersehbar reagiere. Aufschlussreich ist zu lesen, unter welchen Voraussetzungen aus dem Fernsehpublikum ein beliebig zu manipulierendes Objekt gemacht wird – und zugleich die Kritiker der vermeintlich hegemonialen Massenmedien sich selbst aus diesem Manipulationszusammenhang problemlos ausnehmen. Die erregbare Masse, das sind immer die anderen, nicht wir, die wir die Mechanismen der Massenmediengesellschaft aufdecken. Man könnte diese teils naiven, teils bornierten Unterstellungen bis zu den gegenwärtigen Vorurteilen über Medienwirkung verfolgen. Was allerdings die Autorin den Medien und ihren Nutzern zutrauen würde, behält sie für sich. Wer über die schillernde Karriere des Masse-Konzepts, die Entstehung des Begriffs Massenmedien und die Bedeutung der Masse für die Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft etwas wissen will, der wird von der Kölner Medienwissenschaftlerin ausgezeichnet informiert.

 

Christina Bartz
Massenmedium Fernsehen. Die Semantik der Masse in der Medienbeschreibung
Transcript, Bielefeld 2007. 275 S., 26,80 €

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