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Berlinale-Halbzeitbilanz - Viel Schnee und überall Babylon

Wim Wenders „Every Thing Will Be Fine“ und viel mehr: Ein durchschnittlicher Film-Jahrgang war es bisher auf der Berlinale – mit echten Perlen aber, einem russisch-ukrainischen Hoffnungszeichen und einer großen deutschen Neuentdeckung

Alexander Kissler

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Mit dem neuen Spielfilm von Wim Wenders feiert die Berlinale ihr Bergfest. Nach rund der Hälfte der Filme zeigt sich: Ein überragender Jahrgang ist 2015 nicht, das Gewollte dominiert. Bisher. Die beiden großen Themen lauten „Rückkehr nach Babylon“ und „Kollaps der Geschichte“. Ob sie am Ende einander bedingen? Ob die Menschen sich zunehmend unverständlich werden, weil sie keine gemeinsame Geschichte mehr haben?

Wim Wenders‘ Zwei-Stunden-Epos „Every Thing Will Be Fine“ – unter zwei Stunden machte es leider kaum ein Wettbewerbsfilm – versucht sich noch einmal im emphatischen Sinn an einer großen Geschichte. Ein Schriftsteller (James Franco) fährt auf verschneiter Straße – kaum ein Film scheint auf Schnee verzichten zu wollen – und kollidiert mit dem Schlitten zweier kleiner Jungen. Der eine Junge stirbt, der andere (Robert Naylor) trägt psychologisch schwer an dem Unfall, ebenso tun es seine Mutter (Charlotte Gainsborough) und der Dichter, der unschuldig schuldig wurde. Ein Dreieck der Abhängigkeit entsteht, das Wenders nach dem Drehbuch von Bjørn Olaf Johannessen über insgesamt zwölf Jahre einfängt. In ruhigen Bildern, überflüssigerweise in 3-D, und elegischen Klängen. James Franco öffnet kaum den Mund beim Sprechen, lächeln darf er ausnahmsweise. Der Poet ist ein melancholischer Zauderer.

Feinfühliges Intellektuellendrama


Ja, eine große Geschichte auf alteuropäisch bedeutende Weise ist Wenders gelungen, ein feinfühliges Intellektuellendrama, in dessen Rahmen die Mutter sich mit der Frage quält, ob ihr Junge noch lebte, wenn nicht die Lektüre William Faulkners sie am verhängnisvollen Abend so gefesselt hätte, dass sie die Kinder auf dem Schlitten vergaß. Zur Strafe und zur eigenen Reinigung verbrennt sie das Buch: Literatur kann tödliche Folgen haben. Der Schriftsteller wiederum sieht sich mit dem Vorwurf konfrontiert, seit dem Unfall schreibe er bessere Bücher: Literatur als angewandte Vampirologie, die sich vom gewesenen Leben der anderen nährt. Wenders lässt beide Abgründe flirren. „Every Thing Will Be Fine“ ist ein reifes, ein abgeklärtes, inwendig loderndes Werk, das nach vielen Seiten funkelt. Man muss es zu betrachten wissen.

„Victoria“ ist der ärgerlichste Berlinale-Beitrag


Die Sprachverwirrung, in die sich der werdende Dichter gestürzt sieht, wird vom Neben- zum Hauptstrang in Sebastians Schippers grandios überschätztem Berlin-Film „Victoria“. Was als 60-minütige Abschlussarbeit vielleicht ihren Charme hätte, langweilt im Dauerfeuer der Lichtreize und der Gossensprache, das Schipper fast zweieinhalb Stunden lang abzufackeln sich müht. Das mag es tatsächlich geben, dass vier Berliner Torfköpfe eine Bank überfallen und mit dieser Tat ebenso ringen wie zuvor mit der Sprache, die ihnen nur in einem tumben Kauderwelsch aus Englisch, Deutsch und Sonstnochwas zu Gebote steht. Das angemessene Forum für eine solche Wackelbildorgie aus der Welt der Halbstarken und Viertelgebildeten ist jedoch eher ein You-Tube-Kanal als der Wettbewerb der 65. Internationalen Filmfestspiele Berlin: der bisher ärgerlichste Beitrag, ein Desaster, zum Hauptspaß höchstens gelangweilter Profigucker taugend.

Dass die Sprache schlingert, wo die Geschichte kollabiert, zeigt sich deutlich an zwei sehr unterschiedlichen Wettbewerbsfilmen, an „Mr. Holmes“ und „Knight of Cups“. Letzteres ist der Name einer Tarotkarte, „Ritter der Kelche“, und der Titel des neuen Films des mittlerweile 71-jährigen Terence Malick, des letzten großen Filmessayisten in der Tradition Jean-Luc Godards. Die „Bruchstücke des Lebens“ werden hier ebenso beschworen wie gezeigt. Rick, ein Großer der Filmszene, Produzent oder Schauspieler, wir wissen es nicht, gespielt von Christian Bale, läuft somnambul durch die Kulissen seines Lebens. Verfehlt sei dieses. Luxusprobleme, mag man rufen, taugen doch zur Illustration des Ennui ausnahmslos schöne Frauen, teure Wohnungen, weiche Betten. Und doch ist es mehr als Schnösels Reise in ein neues Glück: Malick rüstet die durch innere Monologe aus dem Off dargebotenen Gedankensplitter mit allerhand platonischem Timbre aus, Schönheit erscheint als Erinnerung, als Rückbindung, wörtlich als Religion, die lockt und entweicht. Dazu räkeln und dehnen sich Cate Blanchett und Natalie Portman.

Und welche Sprache bleibt, wenn alles Reden nur Erinnerung ist an den einen entscheidenden biographischen Punkt, der sich so wenig fassen lässt wie der Ball, nach dem in einem der irritierendsten Bilder ein Schäferhund im Wasser schnappt und schnappt, vergebens schnappt? Die Sprache der Dinge bleibt. Die Geographie des Gefühls wird Architektur, Los Angeles gerät unter Malicks Blick zur Danteschen Vorhölle, das Purgatorium will nicht kommen. Wenn eine Geschichte anfangen könnte und damit das Reden von Du zu Du, bricht der Film ab. Arvo Pärt erklingt ein letztes Mal, doch ob im Off Erlösung sich ereignet, bleibt fraglich. „Knight of Cups“: ein Mosaik aus Fragmenten, die sich nicht fügen dürfen, damit sie ihren Glanz behalten. Wahrheit wäre Illusion.

„Mr. Holmes“ ist auf shakespearische Weise grandios


Die Sprache des Sherlock Holmes hingegen war geronnene Wahrheit. Der fiktive Musterbrite, kalt wie Hundeschnauze und immer im Recht, löste alle Rätsel, die man ihm vorhielt, nur nicht das größte: das Mysterium des eigenen Ichs. In Bill Condons Film „Mr. Holmes“ ist der über 90 Jahre alte Detektiv Privatier und Bienenfreund geworden. Das Gedächtnis verlässt ihn, die Geschichten seines Lebens fasern aus. Mühsam versucht er sich des letzten Falles zu erinnern, des ersten, an dem er scheiterte, wofür er sich mit einem Bußschweigen fernab von London und nahe bei den Bienen bestrafte. Ian McKellen spielt auf shakespearische Weise grandios, ganz im Gegensatz zu den kleinkriminellen Authentizitätsnarren in „Victoria“. So wurde „Mr. Holmes“ das Porträt einer Lebensdämmerung, in der sich das Unabgegoltene rundet.

Vom Kollaps einer ganz anderen Geschichte wusste der Schriftsteller Clemens Meyer in „Als wir träumten“ zu berichten. Regisseur Andreas Dresen machte aus den Auf- und Abbrüchen einer Leipziger Freundesbande kurz vor und kurz nach der Wende ein recht langes Adrenalindrama, das trotz mancher Redundanz in den juvenilen Bann schlägt.

Viel kleiner in Besetzung und Anspruch kommt Andrew Haighs „45 years“ daher, der Charlotte Rampling den Preis für die beste Darstellerin bescheren könnte. Vor den Feierlichkeiten zu ihrem 45. Hochzeitstag lagert sich in die Geschichte dieser zweiköpfigen Liebeszelle eine dritte Person ein, eine Tote, die Frau, die Geoff (Tom Courtenay) liebte, ehe er Kate heiratete. Und die er geheiratet hätte, wäre sie nicht bei einer gemeinsamen Wanderung zu Tode gestürzt. Der Schatten dieser Vergangenheit legt sich über ein ansonsten ganz unverdächtiges Glück. Kate ist die Frau, die sich als zweite Wahl begreift und nicht weiß wohin mit ihrem Erkenntnisschock. „45 years“: ein Bewusstseinsdrama der ganz leisen Art, gemischt aus Mann und Frau und allen Zwischentönen.

Wo aber bleibt bei so viel Im- und Explosion das Komische und wo das Werk, das Babylon und Geschichtskollaps verbände? Die Antworten stammen aus Österreich, Deutschland und Russland. Peter Kern, den ehemaligen Rainer-Werner-Fassbinder-Schauspieler, einen Altmeister der Regie zu nennen, will nicht über die Lippen. Gar zu schlicht, pennälerhaft ist sein jüngstes Werk geraten. Zudem wartet „Der letzte Sommer der Reichen“ mit einer bizarr miesen Dialogspur auf; einzig die englische Untertitelung bot Aufschluss, wer in dieser billigen Groteske über eine lesbische Turbokapitalistin, die eine Nonne verführt und sich auch sonst gerne auspeitschen lässt, nun wen anredet oder anschweigt. Abhaken und weiter im Text.

„Im Sommer wohnt er unten“: Bitte alle hingehen!


Merken hingegen sollten wir uns den Namen des Nachwuchsregisseurs Tom Sommerlatte. „Im Sommer wohnt er unten“ ist eine von musikalisch leichter Hand inszenierte Urlaubskomödie, ein Familiendrama und eine Wirtschaftssatire zugleich. Von den gerade einmal fünf Darstellern verdient jeder ein Ausrufezeichen, besonders aber Godehard Giese. Er gibt einen erst auftrumpfenden, dann vor sich selbst zerbröselnden Bankmanager, der mit seiner Gattin eine Woche zu früh beim nichtsnutzigen Bruder und dessen französischer Liebe aufkreuzt. Balz- und Dominanzspiele sind das Resultat, Dialogperlen von hoher Zahl, ein Humor, der nach Champagner schmeckt und nicht nach Fassbrause und insofern zu den schönsten Hoffnungen Anlass bietet: ab Oktober dann im Kino. Bitte alle hingehen!

Während Kern und Sommerlatte außerhalb des Wettbewerbs zu begutachten sind, bewirbt sich der russische Regisseur Alexey German Jr. mit „Pod electricheskimi oblakami/Under Electric Clouds“ um den Goldenen Bären. Allein der Umstand, dass hier Russen und Ukrainer und Polen zusammenarbeiteten, ist in kriegerischer Zeit ein Hoffnungszeichen. Gemeinsam entstand ein melancholisches Stationendrama in sieben sehr lose verbundenen Kapiteln, „Die Grenzen sind in Flammen“ heißt das erste, „Die Geisel“ das fünfte, „Die Hausherrin“ das letzte, angesiedelt zwischen dem Untergang der UdSSR und einer nahen Zukunft. Es treten auf ein Architekt, der Bidets und Toiletten arrangiert, ein kleines Mädchen, das entführt wird, ein Kirgise ohne Stimme mit einem kaputten Kassettengerät auf schneebedeckter Landschaft, ein Kulturwissenschaftler, der sich als Museumsführer verdingt und zum Husaren verkleidet. Ruinen und Skulpturen nur sind geblieben, die im Wasser versinken, vom Schnee bedeckt, von Baggern abgerissen – geblieben von einer Vergangenheit, die im Rückblick als groß, da geordnet erscheint. Nostalgie ist alles.

Ukraine, Russland: „Pod...“ thematisiert den Krieg


„Pod…“ ist zudem globalisierungskritisch, modernekritisch, kapitalismuskritisch und in seiner Bildersprache an Tarkowskijs „Stalker“ orientiert. Ein ganzes Land scheint hier zur prä-, nicht postapokalyptischen „Zone“ geworden, die Menschen reden von sich als Zwergen oder Göttern, Elfen oder Titanen, dazwischen gibt es nichts. Einmal wird sogar die Ragnarök herbeizitiert, um die Gegenwart begreifbar zu machen. Die Sprachverwirrung ist total, Chinesen und Japanern wird in einem zum Freiluftmuseum gewordenen Russland eine teils untergegangene, teils erfundene Geschichte erzählt. Fortschritt ist ein anderes Wort für Uniformierung, und immer steht im Hintergrund ein Großer Krieg, von dessen baldigem Kommen alle überzeugt sind.

Der künstlerische Befund dieser dichten Meditation ist eindeutig: Russland gehört mittlerweile zum Westen, und der Westen ist seiner überdrüssig geworden. Nicht Aggressionslust könnte einen Krieg herbeizwingen, sondern innere Leere. Dagegen setzt der Regisseur ein sprachmächtiges Schlussbild. Die junge Erbin eines Oligarchen zieht ein riesiges Pferd aus Draht über einen zugefrorenen See. Babylon endet, die Geschichten beginnen von vorn, wenn der Mensch den Mut zur Poesie aufbringt. Insofern heißt diese Berlinale uns doch hoffen.

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