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Um 1980 war die heroische Zeit der Pop-Musik – das wilde Fest nach dem Punk, nach der Devise: Schmeiß alles hin und fang neu an. Was damals neu anfing, war der Postpunk, und Simon Reynolds ist sein Historiker. Jens Balzer schätzt beide sehr.

Niemals gehörter Lärm erschüttert in diesen Jahren die Welt. Stoische Maschinenrhythmen verdichten sich zu ritualistischer Trance. Ganze Sinfonien werden aus den Ge­räuschen gewoben, die eine Gitarre beim Feedback mit dem Verstärker erzeugt. Blasse junge Männer beklagen zu pulsenden Beats die Klassenverhältnisse im Spätkapitalis­mus, strahlende Mädchen streiten in ironischer Primitiven-Verkleidung gegen sexuelle Ausbeutung und den Machismo des Rock’n’Roll. Die Jahre zwischen 1978 und 1984 waren die heroische Zeit der Popmusik, eine Epoche, die nur so strotzt vor Kraft, Erfin­dungs­­geist, Futurismus. «Die Sex Pistols haben ‹No Future› gesungen», sagte Allen Ravenstine, der Keyboarder der stilbildenden Band Pere Ubu, 1978: «Aber es gibt eine Zukunft – wir erschaffen sie.»

Kurz zuvor, im Sommer 1976, hatte der Punk-Rock seine nihilistische Revolte gestartet. Gruppen wie die Sex Pistols oder The Damned inszenierten sich als Ausgestoßene, als endzeitlichen Müll; ihre Lieder vom Ende der Zivilisation orchestrierten sie mit stumpfen Drei-Akkord-Kompositionen. Doch der Versuch, alle Musikgeschichte am Nullpunkt eines ultimativen Dilettantismus einzufrieren, «war vorüber, bevor er überhaupt begann», wie Simon Reynolds in seiner groß angelegten Geschichte der Jahre nach dem Punk schreibt. Die wahre Revolu­tion, so Reynolds, ereignete sich erst mit jener Musik, die auf den Punk folgte: mit Bands wie Throbbing Gristle, die noch in der bilderstürmerischen Stumpfheit der Punks «zu viel Tradition» und «zu viel musikalisches Können» kritisierten und stattdessen mit elektronischen Geräten, an denen man nur noch ein paar Knöpfe drücken musste, körperfunktionsverwirrenden Krach erzeug­ten. Oder mit Scritti Politti, die ihre Karriere als marxistisches Diskussionskollektiv mit angeschlossener Musikproduktion begannen, um dann, Anfang der achtziger Jahre, dazu überzugehen, die philosophische Theorie der Dekonstruktion in Form übersüßer, sich selbst dekonstruierender Popmusik in die Kulturindustrie einzuspeisen: «I’m In Love With Jacques Derrida.»

Bands wie diese – oder auch die mao­istischen Gang of Four, die Dub-Reggae-inspirierten Public Image Ltd. oder die New Yorker Kunst-Studenten Talking Heads – gründeten ihre Ästhetik auf den Ikonoklas­mus des Punk, auf dessen Respektlosigkeit und Verliebtheit in provozierende Gesten. Doch sie ersetzten den musikalischen Nihilismus durch unaufhörliches Experimentieren: «constant change», «all gates open», «anything goes» hießen die Devisen dieser wahrhaft postmodernen Kultur.

Mit neuen musikalischen Produktionsmitteln wie Synthesizer und Drum-Computer, die von ihren Benutzern kein Virtuosentum forderten, öffnete der Postpunk nicht nur – wie vor ihm der Punk – die Musik für Nicht-Musiker. Darüber hinaus nutzte er die eigene musikalische Un­ter­be­stimmtheit dazu, die verschiedensten künstlerischen Traditionen miteinander zu vernet­zen. Throbbing Gristle verbanden das Selbstüberschreitungs-Theater des Wiener Aktio­nismus mit dem psychedelischen Krach der frühen Pink Floyd. Die Pop Group legte in Brecht’scher Weise die Produktionsverhältnisse der Musikindustrie offen, indem sie Rechnungen und Künstlerverträge zum Bestandteil des Platten-Designs machte: ein sich selbst entschleierndes Gesamtkunstwerk. Für den Postpunk war die Musik zugleich künstlerisches Medium und Gegenstand der Reflexion. Eine Vielzahl neuer Verbindungen entstand – zwischen Pop und bildender Kunst, Pop und Theater, Pop und Literatur.


«Rockismus» und «Popismus»

«Rip It Up And Start Again – Schmeiß alles hin und fang neu an» heißt das umfangreiche Werk, mit dem der britische, in New York lebende Pop-Kritiker Simon Reynolds vor zwei Jahren Furore gemacht hat; nun liegt es in deutscher Übersetzung vor. Ein erstaunliches, auch für Nicht-Spezialisten überaus lohnendes Buch. Denn über die schlichte Rekonstruktion einer kurzen Ära geht Reynolds weit hinaus. Wie gegenwärtig kaum ein anderer Pop-Kritiker verbindet er historische Genauigkeit mit Theorie: mit einer normativen Ästhetik, die gelungenen Pop daran misst, wie kraftvoll und schöpferisch dieser mit neuen Produktionsmitteln umzugehen versteht – und mit veränderten historischen Situationen.

In Kritik und Geschichtsschreibung der populären Musik lassen sich im Wesent­lichen zwei Schulen unterscheiden. Auf der einen Seite steht die konservative, an Blues, Rock’n’Roll und Singer-/Songwritertum orientierte Schule der «Rockisten». Sie wird im englischsprachigen Raum am prominen­testen von Greil Marcus vertreten; in Deutsch­land ließen sich vor allem die Autoren des «Rolling Stone»-Magazins, aber auch die einiger bürgerlicher Feuilletons nennen. Ihnen gilt gemeinhin Bob Dylan als das Maß aller Dinge: der einsame, seiner Gegenwart fremd gegenüberstehende Künstler, der auf traditionell gewordenen Instrumenten wie der E-Gitarre versucht, bedrohte Bestände einer älteren Kultur vor dem Untergang zu bewahren. So wie Dylan sich als Originalgenie und als Mann des Volkes geriert, so misstrauen die Rockisten jedem Theoretisie­ren über Musik. Die Aufgabe des Kritikers sehen sie in der positivistischen Historiografie, im Sammeln von Schallplatten und deren Kanonisierung.

Auf der anderen Seite steht die progressive, an der Tradition von Postpunk, New Wave und elektronischer Musik geschulte Klasse der «Popisten». In Deutschland wurde diese vor allem von Diedrich Diederichsen und der ersten Generation des «Spex»-Magazins geprägt. Während die Rockisten zur Nostalgie neigen und zum kulturpessimistischen Lamento, schreiben die Popisten jenen Fortschrittsgedanken fort, wie ihn die Epoche des Postpunk geprägt hat. Histo­riografie ersetzen sie durch Theorie und die Liebe zur Tradition durch Utopismus. Zukunft gilt ihnen viel, Vergangenheit hingegen wenig. Nicht zuletzt daran liegt es zweifellos, dass die Epoche nach 1978 so schlecht dokumentiert ist. Während über den Rock’n’Roll der fünfziger Jahre, die Beat-Musik der sechziger oder die kalifornische Songwriter-Szene der frühen siebziger Jahre eine fast unübersehbare Literatur existiert, brechen die pophistorischen Monografien mit dem Beginn des Postpunk fast vollständig ab. Aus den wechselnden Redaktionen der «Spex» sind zwar inspirierte Feuilletonisten, Theoretiker und Dampfplauderer hervorgegangen; aber nicht einer von ihnen hat ein Kompendium zum Pop hinterlassen, das den Stan­dards der Kulturgeschichte genügen würde.


Das wilde Fest um 1980

Darum ist Simon Reynolds so ein Glücksfall. Er ist ein emphatischer Anti-Rockist, voller Misstrauen gegenüber der Verherrlichung von Tradition und Authentizität. Dennoch ist er ein glühender Historiker. In seiner Geschichte des Postpunk schildert er akribisch Künstlerbiografien und Sound-Genealogien. Und er kartografiert die komplexen Verwandtschaftsverhältnisse, die zum Beispiel scheinbar extreme Phänomene wie Throbbing Gristle mit Kultgruppen wie Joy Division und späteren Stadion-Rockern wie U2 verbinden.

So war Ian Curtis, der Sänger von Joy Division, nicht nur ein enger Freund des Throbbing Gristle-Performers und Selbstzerstörers Genesis P-Orridge und wollte mit ihm – kurz vor seinem Selbstmord 1980 – eine neue, noch radikalere Industrial-Gruppe gründen. In seinem eisigen Pathos war er auch das größte Vorbild des damals kaum 20-jährigen U2-Sängers Bono, der es nach Curtis’ Tod zu seiner vornehmsten Aufgabe erklärte, «das Erbe von Joy Division würdevoll anzutreten». (Von einer Existenz als Politiker auf den Roten Teppichen der G8 und des Vatikan träumte Bono da noch nicht.) So zeigt Simon Reynolds, wie das, was sich später in «Underground» und «Mainstream», in geschmacklich korrekte und inkorrekte Musik, ausdifferenzierte, im «wilden Fest» des Postpunk noch glücklich ungeschieden war.

Vor allem aber rekonstruiert er das Empfinden von Zeit, jene Geschichtsphilo­sophie, die für diese kurze Epoche der Pop­musik charakteristisch war: Wie kam es, dass plötzlich so viele Menschen glaubten, dass ihnen «die Zukunft gehört», dass «die Musik wieder ganz am Anfang steht» und zugleich alles, was je an popmusikalischen Formen erfunden wurde, nun auf eine neue, höhere Ebene gebracht werden konnte?

Die Endzeit-Stimmung jener Jahre – der Zeit des eskalierenden Kalten Kriegs, der Wahlsiege von Thatcher und Reagan – verwandelte der Postpunk in erstaunlicher Wei­se in utopische musikalische Kraft. Gang of Four etwa oder die frühen Scritti Politti beklagten den «Niedergang der westlichen Zivilisation», das heißt: den Niedergang der alten Industrie-Metropolen mit ihren ver­wahr­losten Zentren. Zugleich profitierten sie hervorragend von den Möglichkeiten, die solche «schrumpfenden Städte» boten: Billiges Bohemien-Leben in heruntergekomme­nen Häusern gewährte unerschöpfliche Über­schüsse an Zeit, um mit neuen Instrumenten zu experimentieren.

Wo der Punk mit allen «schwarzen», afroamerikanischen Musik-Traditionen bre­chen wollte, öffnete der Postpunk sich für die ganze Welt: für Disco, Funk und Soul und die Musik der karibischen Immigranten. Gerade die archetypisch «weiß» scheinende Musik jener Jahre – wie die Schmerzensgesänge von Joy Division, von dürren Gitarren untermalt, in unmenschlich-transzendentalen Hallräumen verloren – verdankt ihre außerordentliche klangliche Intensität den Lehren der jamaikanischen Dub-Reggae-Schöpfer, die mit simplen Effektgeräten gewaltige akustische Räume zu erzeugen verstanden.


Jamaika und das Weibliche

In dieser multikulturellen Verfassung liegt für Simon Reynolds die bleibende Errungenschaft des Postpunk – ebenso wie in der Effeminierung des Pop: in der Ablösung der «phallischen» Rock-Gitarre durch «weibliche», schwache Klangelemente wie den Synthesizer-Sound. Als die utopischen Kräfte erschlaffen und der Postpunk Mitte der achtziger Jahre an sein Ende gelangt, sind es denn auch wieder junge, weiße Männer, die unter dem Etikett «Indie-Rock» zurück zum virtuosen Gitarrenspiel wollen: zurück zu Bob Dylan. Gegen den Futurismus ihrer Vorgänger bilden die Indie-Rocker zugleich die erste Popkultur, die sich ausdrücklich als «retro» versteht, als Re-Animation einer verschwundenen Tradition. Der Reigen von Revivals, den sie eröffnen, ist 20 Jahre später nirgendwo anders angekommen als beim Postpunk selbst: Neo-Postpunk mit Bands wie Franz Ferdinand – oder mit Nouvelle Vague, einem Ensemble süßer Französinnen, die den Kanon des Postpunk im Chanson-Stil neu aufbereiten: Dazu trinkt man Latte Macchiato.

So ist es mit dem Pop, wie es mit dem gesamten Feld der Kultur gewesen ist: Das wilde Fest des Postpunk, das vorbehaltlose, aber stets auch politische Alles-mit-allem-Verbinden, hat sich alsbald im Alles-Egal aufgelöst – in der nostalgisch gefärbten Indifferenz einer ziellosen Revival-Kultur. Den verlorenen Träumen, der verschwundenen Kraft der letzten utopischen Jahre hat Simon Reynolds ein eindrucksvolles Denkmal gesetzt.

 

Simon Reynolds
Rip It Up And Start Again. Schmeiß alles hin und fang neu an. Postpunk 1978–1984
Aus dem Englischen von Conny Lösch.
Hannibal, München 2007. 544 S., 29,90 €

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