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Paer Baeckstrand

Schriftsteller Horace Engdahl - Glück ist Gefährlich

Horace Engdahl, langjähriger Verkünder des Literaturnobelpreises, hat sich zum Schriftsteller verpuppt 

Autoreninfo

Ulrich Schacht, geboren 1951, wird 1976 nach vier Jahren Haft aus der DDR freigekauft. Schacht arbeitet als Journalist und Autor, seit 1998 lebt er in Schweden.

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Am 25. Dezember 1797 berichtet der 25-jährige Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, seinem Freund August Wilhelm Schlegel in einem Brief von einer Begegnung mit dem Philosophen Schelling, deren intellektuelle Unterhaltsamkeit eindrucksvoll gewesen sein muss. Denn Novalis hebt nicht nur das freundschaftliche Moment der Stunde hervor, sondern steigert die spezielle Gesprächsatmosphäre mit einem Neologismus, einer Neuschöpfung Friedrich Schlegels, des Bruders des Adressaten, ins geradezu Genussvolle hinein: „Wir haben“, schreibt Novalis, „einige köstliche Stunden symphilosophiert.“

Unter dem Motto „Genie und Geschmack“


Am 11. Juni 2013 fährt gegen Mittag ein schwarzes Taxi auf den von Sonnenlicht überfluteten und von Touristen überlaufenen „Stortorget“ – den „Großen Platz“ im Herzen der Altstadt von Stockholm, auf dem sich auch die Hauptfront der legendären, 1786 von Gustav III. unter dem Motto „Genie und Geschmack“ gegründeten Svenska Akademien erhebt, die sich bis heute nicht nur als „Wächter“ der schwedischen Sprache versteht, sondern seit 1901 auch in souveräner Intransigenz nichts Geringeres vergibt als die in aller Welt begehrten Nobelpreise. Der Mann, der aus dem Taxi steigt, hat die Tür des Wagens noch nicht ganz zugeschlagen, als ihm ein anderer Mann im gleichen Alter, aber von größerer Gestalt, aus einem Café am Rande des Platzes entgegeneilt, ihn lebhaft begrüßt, auf ihn einredet, um dann schnellen Schrittes mit ihm in einer der vielen Gassen, die in den Platz münden, zu verschwinden.

Wer den beiden folgt, sieht sie bald darauf ein Café betreten, vor dem ein riesiger Laubbaum Schatten spendet. „Under Kastanjen“ heißt es, und dann dauert es geschlagene vier Stunden, bis die beiden Männer es wieder verlassen und durch das barocke und klassizistische Gassenlabyrinth nahe der „Tyska Kyrkan“, der Deutschen Kirche, in Richtung „Skeppsbron“ davongehen, einer breiten Uferstraße, von der aus man nach Osten blickt, wo sich ein paar Seemeilen weiter die bezaubernde Schärenwelt vor Stockholm ausbreitet.

„Köstlich symphilosophiert“ über die Zeit und den Zeitgeist


Was aber haben die beiden Männer, ein Schwede und ein Deutscher, im Café „Unter der Kastanie“ eigentlich so lange miteinander besprochen – mit Händen und Füßen, hätte ein Beobachter berichten können, auch herzhaftes Lachen sei zu hören gewesen, nur unterbrochen vom Nachholen frischen Kaffees? Nun, ich kann es verraten, denn ich war dabei: Horace Engdahl – als Ständiger Sekretär der Schwedischen Akademie zwischen 1999 und 2009 ein weltbekanntes Gesicht, das jeweils Anfang Oktober den Namen des neuesten Literaturnobelpreisträgers verkündete – und ich, wir haben an diesem Tag, an dem wir uns erstmals begegneten, nichts anderes getan als „köstlich symphilosophiert“ miteinander – über Gott und die Welt, die Zeit und den Zeitgeist, über Novalis, Hegel, Marx, über die Schrecken der Utopien von einst, den totalen Kapitalismus von heute und den medialen Totalitarismus von morgen.

Darüber, was an der Aufklärung dialektisch, also gefährlich ist, aber auch, was von ihr bleibt. Oder warum es sinnvoll sein kann, sich gelegentlich als „Reaktionär“ zu bekennen – es also selber zu tun, bevor es anderen einfällt. Auch über Kleists verstörende Stücke sprachen wir und ihre mögliche Bedeutung für die harmoniesüchtige Gesellschaft im Königreich, würden sie denn hier aufgeführt. Über Berlin schließlich und Schweden als Rückzugsprovinzen, über den Wert von Distanzen zur jeweiligen Heimat und das, was vom Geist der Vorfahren zu bewahren, ja zu verteidigen wäre. Engdahl, promovierter Literaturwissenschaftler mit einer Professur im dänischen Aarhus und vor seiner Berufung in die Akademie als Kulturredakteur bei Dagens Nyheter tätig, wohnte nach 2009 zwei Jahre wegen einer Gastprofessur seiner Frau Ebba in Berlin, wo sein jüngstes Buch, „Die Zigarette danach“, in zahllosen Caféhaus-Stunden entstand.

 

Wir haben uns mithin vor allem über jene Bücher des Horace Engdahl unterhalten, die es auch auf Deutsch gibt: „Meteore“ von 2007 und das neue „Die Zigarette danach“, erschienen im Verlag Kleinheinrichs, einem Spezialisten für gehobene skandinavische Literatur. Beide versammeln sie scharfe Reflexionen, melancholische Kommentare, ironische Seitenhiebe auf den Tod und die Sterne, auf Ruhm, Niederlagen, Feindschaft und Freundschaft, Politik, Philosophie, Erotik, Musik, Literatur und ihre Kritik. Und all dies flackernde, blitzende oder ruhige, verharrende Nach- und Bedenken des Eigenen wie Fremden in auffallend natürlicher Korrespondenz mit Geistern von Platon über Goethe bis Bergson, Blanchot, Cioran, Ekelöf – einem illustren Gesprächskreis durch alle Zeitmauern hindurch.

Das Anti-Systemische unterstreichen


Persönliches aus Kindheit und Jugend, Selbstkritisches, Trotziges, ja, Elitäres, ohne je hochmütig zu werden, finden sich eher im neuen Band; „Meteore“ dagegen bietet oft geradezu kristallin Verdichtetes, hinter dem der Autor sich aufzulösen scheint. Es sind also weder geschwätzige Tagebücher à la Thomas Mann noch Varianten auf die egomanischen „Blaubücher“ Strindbergs. „Es sind“, sagt Engdahl – der polyglotte Literaturwissenschaftler und Spezialist für deutsche Romantik, der Kleist übersetzt hat, Novalis und Hegel, aber auch aus dem Russischen, das er in der Armeeausbildung zum Verhörspezialisten erlernte –, „es sind Fragmente.“ Natürlich weiß er, dass er damit nicht nur das Anti-Systemische daran unterstreicht, sondern sich einreiht in eine Text-Tradition, die mit Schlegels oder Novalis’ Fragmenten Literatur der haltbareren Sorte hinterlassen hat.

Schwedische Gesellschaft auf Konsens getrimmt


Was an diesen Büchern vor allem besticht, ist eine intellektuelle Risikobereitschaft, die in der auf Konsens getrimmten Gesellschaft Schwedens selten ist. Aber auch im restlichen Europa wird es sich ein Intellektueller inzwischen dreimal überlegen, „Reaktionäre Betrachtungen“ so offen auszubreiten, wie Engdahl es sich vor einigen Jahren in einer Serie der Tageszeitung Dagens Nyheter erlaubt hat, der man nun in „Die Zigarette danach“ wiederbegegnen kann. Darin greift er nicht nur die juvenile Blog-Pathologie des Internets an: „Mithilfe des hemmungslosen Sprachflusses kehrt man ins Herdenstadium zurück.“ Auch den Gender-Ideologen attestiert er das Absurdum, dass sie als „Feinde der Heterosexualität die zweigeschlechtliche Paarung“ nur deshalb als „Ausbund von Indoktrinierung“ hinstellten, weil „der Mann“ aus ihrer Perspektive „nicht mehr notwendig sein darf“.

Solche Positionierung hat etwas mit der Überzeugung zu tun: „Eine gute Biografie benötigt den Geschmack einer polizeilichen Anzeige.“ Aber das sollte nicht verwechselt werden mit der profitlichen Selbststilisierung westlicher Chefideologen zu gesellschaftlichen Opfern, die sich ihre „Verfolgung“ schon mal ganz eigenmäulig bescheinigen. Für Engdahl besteht die „Rolle des Intellektuellen in der Geschichte“ doch vor allem in ihrer schrecklichen Fähigkeit, „dem Bösen ein System zu geben, das es von Gewissenszweifeln befreit“. Denn: „Unmenschlichkeit lässt sich nicht ohne eine Theorie durchhalten.“

Geistige „Wachheit“ und „Offenheit“


Womit wir beim dezidierten Anti-Utopisten Engdahl wären: „Von den Utopien“, sagt Schwedens bekanntester Intellektueller, „bleiben nur die Tränen der Menschen.“ Es klingt wie eine Variation auf Eric Voegelins Wort von der „spielerischen Grausamkeit der humanistischen Intellektuellen“. Horace Engdahl, 1948 in Karlskrona in Schwedens südöstlichster Provinz Blekinge geboren, in der sich in Jahrhunderten deutsche, dänische und schwedische Mentalitäten und Sprachschätze kulturgenetisch vermischt haben, setzt – geht es um die Kritik der neuesten fortschrittlichen Umformung des Individuums zum Modul einer weiteren egalitären Glücksdiktatur – auf geistige „Wachheit“ und „Offenheit“ wie auf „das Recht, seiner Wege zu gehen“, das ihm ein „ständig verletztes Grundrecht“ ist. Aber „darüber schweigen die Utopien“.

Warum tun sie es? Man „stelle sich nur vor, die Menschheit würde beim Anblick des neuen Glücksreichs auf dem Absatz kehrtmachen!“ Eine solche Reaktion wäre identisch mit dem Erinnern des Vergangenen, dem Begreifen des Sinnes von tradiertem Geist und Gesten: „Die Religion tut gut daran, den Neid zu bekämpfen (…) Der Glaube ist mit der Bewunderung verwandt. Eine Gesellschaft, in der viele beneiden und wenige bewundern, besitzt keine zusammenhaltende Kraft und kann nicht fortbestehen.“ Engdahls Sentenzen und Reflexionen, die, wie er betont, fast nie korrigierte spontane Einsichten sind, haben hier ihren entscheidenden Richtungswechsel: den schöpferischen Rückblick. Aber nicht ins Nostalgisch-Diffuse, sondern Konkrete: „Als ich Kind war, hatten alle Menschen Tiefe.“

Um welche Tiefe es dabei geht, erzählt Engdahl im Café „Unter der Kastanie“ am Beispiel seines Urgroßvaters Josef, der in Småland an der Grenze zu Blekinge einen kleinen „Landhandel“ besaß und eine große Familie. Zu ihr gehörten entfernte Verwandte ebenso wie enge Freunde. Zwischen ihnen und den üblichen Kunden machte er allerdings einen feinen, aber prinzipiellen Unterschied: Die einen waren die „Markierten“, die anderen die „Unmarkierten“.

Das Wesen der Sprache ist Diskriminierung


Die einen wurden trotzdem sehr höflich bedient, aber für die anderen wurde der Laden geschlossen und aufgetischt: Jede Begegnung eine Feier der Freundschaft, ein Fest der Mitteilungen, eine Verstärkung der Familienbande. Branntweinselig und ohne Zeitpeitsche. Differenz gegen Gleichmacherei; es gibt offenbar auch eine Ästhetik des Ungleichen: „Das Wesen der Sprache ist Diskriminierung. Die Wörter, die ständig damit beschäftigt sind, Unterscheidungen zu treffen (dies ist die Bedeutung von ‚diskriminieren‘), geben der menschlichen Wahrnehmung Festigkeit. Zu fordern, die Sprache solle aufhören zu diskriminieren, heißt Schweigen zu fordern.“

Der Mann, der mir jene Familiengeschichte mit jungenhaftem Glanz in den Augen erzählt, ist ein Mann, der tatsächlich an seinen Stern glaubt: nicht hochmütig, nicht sklavisch. Aber ihm auf anrührende Weise ergeben: „Du mein Stern – wie fahl du geworden bist! Bist du krank? Oder bist du es leid, für mich zu scheinen (…)? Wir können einander dennoch zuwinken, du und ich, in kalten Winternächten, wenn du über den Hausdächern stehst, ein wenig fahl womöglich, dennoch derselbe.“


 

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