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(picture alliance) Freiluftküche im Camp der Occupy-Bewegung in Frankfurt

Occupy Frankfurt - Wie die Weltrevolution im Zeltlager scheitert

In einem Frankfurter Camp bemüht sich die Occupy-Bewegung eine schöne neue Welt zu erschaffen. Bisher vergeblich. CICERO-Reporter Constantin Magnis verbrachte vier Tage mit den Protestlern

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Schlag Mitternacht, auf dem Hügel über dem Zeltdorf tanzt ein runzliger Mann im Mondlicht wie Rumpelstilzchen. Der Mann nennt sich Dr. Joe. Er stammt aus Jamaika, trägt eine Militäruniform und hat seit drei Tagen nicht geschlafen. Zu peitschenden Reggae-Beats springt er auf einer Holzpalette in rasender Geschwindigkeit von einem krummen Bein auf das andere und spielt Luftgitarre. Ein paar Meter weiter steckt ein Mann kopfüber in einem Müllcontainer, nur die Beine schauen heraus. Er sucht etwas, findet es nicht, krabbelt aus der Tonne, betrachtet den irr tanzenden Alten, schwankt dann auf ihn zu. „Yeah“, ruft er, „you’re so fucking full of yourself, aren’t you?!“ Er torkelt weiter, bricht hinter einem Busch zusammen, bleibt liegen. Willkommen im Frankfurter Occupy-Camp!

„Nicht zu viel erwarten“, hatte die Stimme am Infotelefon vorher gewarnt, das Camp sei nicht repräsentativ: Berufstätigen fehle die Zeit für wochenlange Proteste im Zeltlager, die spendenfinanzierten Mahlzeiten und Zelte zögen dagegen Obdachlose und Trinker an. Es war die Stimme von Frank Stegmeier, 42, Familienvater, von Beruf Promoter. Seines war das erste der jetzt über 100 Zelte am Fuß des Turms der Europäischen Zentralbank (EZB), nun ist er einer der freiwilligen Ordner im Camp.

Bislang eint die globale Protestbewegung Occupy kaum mehr als der Wunsch nach einer gerechteren Wirtschaftsordnung. Hinter diesem kleinsten, gemeinsamen Nenner sammeln sich auch in Frankfurt so viele Ziele wie Typen: Dr. Joe ist einer davon, Frank ein anderer. Mit ernster Miene und Warnweste schreitet er durch das Dorf aus Sperrmüll und Zeltplanen im Schatten der Bankentürme. „Leute, nicht mit den Fingern, bisschen Hygiene muss schon sein“, mahnt er einen Mann, der am Buffet der Feldküche mit schorfigen Händen die Wurstplatte durchpflügt.

Franks Thema ist die Bürgermitbestimmung. Dafür demonstriert er seit Monaten, betreibt einen You-Tube-Kanal, ließ sich für die Freien Wähler im Stadtparlament aufstellen. „Als Anfänger hast du da aber keine Chance, was zu verändern“, erzählt er. Als ihm das zu blöd wurde, ging er wieder, landete schließlich hier. Weil Occupy undogmatisch sei, 100 Prozent demokratisch, und hier alle Stimmen der Gesellschaft gleich viel zählten. Egal woher sie kämen.

„Das reicht, der Typ braucht einen Platzverweis!“ Ein Aktivist im Strickpullover zeigt auf einen der rumänischen Trinker auf der Parkbank. In dessen Arm lehnt eine halb bewusstlose, voluminöse Blonde, er versucht sie zu küssen, sie will nicht. „Der hat jetzt schon ein paar Mal gegen Zelte gepisst und vorhin auf die Wiese gekotzt“, erklärt Jürgen, ein Okkupant mit halblangem, grauem Haar. „Und letzte Nacht wurde schon wieder einem ins Zelt geschissen“, sagt er augenrollend, als der Trinker sich getrollt hat. „Bahnhofsviertel halt: Erst kamen die Obdachlosen, dann die Junkies, und irgendwann kamen Russen mit Schlagringen, die hier die Zelte ausgeräumt haben.“ Vier Laptops wurden gestohlen, Dutzende Handys und Geldbeutel, inzwischen ist das Problem halbwegs im Griff. „Wer hier Ärger macht, fliegt raus“, sagt Jürgen. „Ne Suppe kriegt er trotzdem, falls er wiederkommt.“

Lesen Sie weiter, wie Occupy aus dem Finanzhochhaus nebenan wahrgenommen wird.

Der Ausgestoßene kehrt in der Nacht zurück. Das Protestvolk sitzt in Deckenspenden gehüllt um die beiden Feuertonnen, es riecht nach nasser Wolle, fettigem Haar und Rauch, manchmal auch nach Marihuana. Ein Afrikaner spielt Gitarre, ein anderer trommelt Bongos, zwei bärtige Gestalten summen zweistimmig mit. Der Heimgekehrte und seine Gespielin tanzen dazu, sie dreht sich trunken unter seinem ausgestreckten Arm. Auf den Bänken teilen sich Studenten, Obdachlose und zornige Arbeitnehmer Bierdosen und Tabak und räsonieren über das Geldsystem und die Mächtigen. „Siehst ja, wir sind uns nur darüber einig, dass es nicht so weitergehen kann“, sagt Marcel, Ex-Trader in einer Bank, jetzt Besetzer, „alles andere ist ein Wettbewerb der Ideen.“ Dieses Camp, erklärt ein Student mit Parka und PLO-Tuch, sei viel mehr als nur Protest: „Wir haben das System verlassen und bestimmen uns hier selbst. Wir, die 99 Prozent, bauen an der neuen Welt, und die fängt genau hier an, mit diesem Camp!“ Er zeigt um sich und strahlt erwartungsvoll. [gallery:„Occupy" around the world - Die Protestbewegung in Bildern]

Hinter dem Technikzelt tagt am nächsten Morgen der „Arbeitskreis Anti-Aggression“: „Die Aggression hier“, resümiert der Initiator Joseph gerade, „kommt daher, dass keiner richtig weiß, was eigentlich der Plan ist, stimmt’s?“ Die fünf Aktivisten im Schneidersitzkreis nicken. Joseph, ein sportlicher Hüne mit Dreitagebart, kam aus Landshut, um seine Erfahrung als Mediator einzubringen. Er war Castingdirektor, hat Bild-Busenmodels in den Big-Brother-Container geholt, 2004 kam die Sinnkrise. Occupy, glaubt er, hätte das Potenzial, auch den Rest der Welt wachzurütteln. Nur: Nach zwei Tagen im Camp habe er immer noch nicht verstanden, wer hier für was zuständig sei. „Kommunikation zum Beispiel, welcher Arbeitskreis macht das?“, fragt er in die Runde. „Infrastruktur vielleicht?“ „Nee“, sagt eine Frau, „die machen Holz und holen Benzin.“ Er klappert die nächsten Arbeitskreis-Namen auf seinem Notizblock ab: „Vielleicht Hierarchiefreie Gesellschaft? Oder Zwischenmenschliche Beziehung?“ Schulterzucken. „Existieren diese Gruppen überhaupt noch?“ Schweigen. Joseph hebt die Hände: „Okay, Leute“, ruft er, „wisst ihr, gegen wen wir hier antreten!? Die Gegenseite weiß, was sie will, ist hochprofessionell, perfekt vernetzt, und hat jede Telefonnummer, die sie in New York oder Brüssel braucht. Wenn wir das alles nicht haben, verglühen wir am Horizont!“ Die Gruppe schaut alarmiert.

Sieben Stockwerke über ihnen geht Regina Schüller im Stechschritt durch die Flure ihrer Abteilung. Die Pressechefin der Europäischen Zentralbank ist eine verbindliche, schlanke Frau mit futuristischer Kurzhaarfrisur. Occupy, tja, was soll sie dazu sagen? Sie öffnet die Tür zu ihrem Büro, in den Ecken meterhohe Zeitungsstapel, auf dem Schreibtisch insgesamt vier Telefone. Durchs Fenster sieht man tief unten das Camp, bunte Punkte im Herbstnebel. „Es ist wichtig“, sagt sie, „dass solche Stimmen gehört werden. Es ist schwer zu begreifen, wie aus einer Finanzmarktkrise nun eine Schuldenkrise wurde, und warum zum Beispiel manche Banker horrende Bonuszahlungen bekommen.“ Sie zupft ihren schwarzen Hosenanzug zurecht. „Wie Präsident Trichet vor kurzem gesagt hat, hoffe ich auch, dass die Welt nicht von Geld regiert wird, sondern von Ideen.“ Am ersten Protestwochenende besuchte Schüller das Zeltlager. Die EZB hat angeboten, mit den Campern zu sprechen. „Aber es ist“, sagt sie diplomatisch, „nicht so einfach, die richtigen Ansprechpartner zu finden.“

Wie Frank vor das Volkstribunal geführt wird, erfahren Sie auf der nächsten Seite.

Unten auf dem Grashügel halten die Besetzer derweil in einem großen Kreis Händchen. „Hurra“ rufen sie, und werfen die Arme in die Luft: Die „Asamblea“ beginnt, die tägliche Vollversammlung. „Wer ist dafür, dass ich heute moderiere?“, ruft der bebrillte Moderator in ein Plastikmegafon. Alle Hände gehen hoch, seine Funktion wurde soeben basisdemokratisch legitimiert. Wortmeldungen werden auf einer Rednerliste gesammelt, einer nach dem anderen sagt, was er zu sagen hat: Der Frank soll die Ordnerweste ablegen, wenn er Dienst hat, dass sei voll die hierarchische Systemscheiße, sagt ein Mann mit Zopf und Sherpa-Weste. „Das ist ne Auflage vom Ordnungsamt!“, erklärt Frank. „Trotzdem“, ruft eine Frau, „asoziale Sheriff-Nummer.“ Ein Student schlägt vor, einmal alle Kontaktdaten zusammenzustellen.

Eine Frau mit Zipfelmütze ist dagegen: „Das wäre voll die Zentralisierung und widerspricht der basisdemokratischen Idee!“ Jean Jules, selbst ernannter Vertreter für die „Deutsch-Kamerunische Gesellschaft zur Förderung Solartechnischer Einrichtungen und Spiritueller Selbstheilung“, bedankt sich für irgendetwas. Obwohl das Megafon nur brummt und zischt, murmelt er minutenlang ungerührt weiter. Der nächste Sprecher, ein blasser Mann mit Brille, verliest ein Motivationsschreiben der Internetaktivisten Anonymous: „Brüder und Schwestern unseres Kollektivs, eine neue Ära der Selbstbestimmung hat begonnen“, setzt er an. „Ihr seid die Mehrheit. Eine mächtigere Armee, als sie jemals von der Regierung erschaffen werden könnte“, liest er weiter. „Wir sind für Euch da, denn wir sind eins. Wir sind in jedem Land. Wir besitzen das Internet und bald auch die Straßen. Wir sind Anonymous. Erwartet uns.“ Erschöpft lässt er den Lautsprecher sinken. „Das ist jetzt natürlich ne starke Message“, sagt ein Zuhörer. Ali, 36, Mütze und Parka, will dazu jetzt mal was sagen, er stürmt ans Megafon, der Moderator verweist pikiert auf die Rednerliste. „Nur weil ich Ausländer bin“, ruft Ali in die Menge. „Jeder andere darf sofort reden, nur ich nicht! Ihr Scheißrassisten!“

„So ist das halt, wenn Menschen aus allen Spektren versuchen, an einem Strang zu ziehen“, sagt Konrad. Der 21-jährige Veganer und Comicfan, Baseballjacke, blonder Scheitel, ist offiziell Veranstaltungsleiter von Occupy Frankfurt, der Job rotiert im Wochenrhythmus. Er bezeichnet sich selbst als linksextrem. Das Wirtschaftssystem durchschaue er noch nicht so ganz, sagt er, trotzdem seien dies der Ort und die Stunde für den demokratischen Aufstand: „Das spürt man doch irgendwie. Wie ein Tier, was das Erdbeben spürt.“ Vor der ersten Occupy-Demo in Frankfurt dachte er noch, das wird ein Nachmittagsprotest wie jeder andere. Aber irgendetwas an den Leuten, sagt er, hat ihm Hoffnung gemacht. Er blieb eine Nacht. Die anderen auch. Und noch eine. Bis heute. „Es ist wie verhext“, sagt er. Die Camper hoffen, dass sie nächstes Jahr Ostern immer noch da sind.

„Hallo!“ Franks Ehefrau, eine junge Brasilianerin, klopft ihm von hinten auf die Schulter, sie trägt seine Tochter im Arm. „Kommst du heute nach Hause zum Essen?“, will sie wissen. „Geht nicht, ist grad wichtig“, sagt Frank. Im Festzelt ist soeben ein Sondertreffen einberufen worden. Es geht um ihn, viel mehr weiß er auch nicht. „Hey Leute“, sagt ein rundliches Mädchen, „ich freu mich total, dass ihr alle hier seid, auch wenn der Grund jetzt nicht so schön ist.“ Sie blickt traurig Richtung Frank, der neben ihr auf einem Stuhl platziert wurde. „Wir haben nämlich leider rausgefunden“, sie macht eine kurze Pause, „dass der Frank bei den Freien Wählern war, und andere Gerüchte.“ „Hä?“, macht Frank. Er möge sich erklären, bedeutet ihm das Mädchen. Als er beginnt, von seiner Aufstellung für die bürgerlich-konservativen Freien Wähler zu erzählen, hört man von draußen ein lautes Kreischen. Ein halb nackter Mann flitzt am Zelt vorbei, verfolgt von fünf Okkupanten, einer blutet. Ein Betrunkener, stellt sich heraus, hatte einem Ordner seine Flasche über den Kopf gezogen. Augenblicklich löst sich die Veranstaltung in ein drängelndes Pulk von Schaulustigen auf. Felix, ein Student mit Nickelbrille, ruft laut ins Chaos: „Die Frage ist, warum das gerade jetzt passiert!“ Er kommt dicht an Frank heran und schreit: „Das frag ich mich!“ Als wieder Ruhe einkehrt, wird das Verhör fortgesetzt.

Frank soll von vorne anfangen. Er berichtet, wie er bei den Freien Wählern ein- und schließlich wieder ausgetreten sei, er dachte, das wüssten alle. „Ey, das ist scheißegal, ob er bei den Freien Wählern ist oder nicht, der will hier hierarchische Strukturen aufbauen“, ruft ein Mann aus der Ecke, er bekommt Beifall. Außerdem, sagt ein Zweiter, soll er verdächtige Fotos gemacht und Dinge aufgeschrieben haben. In den USA habe das FBI gezielt Kriminelle in die Camps geschleust, um sie zu sabotieren, wer weiß, wer Frank geschickt hat, sagt ein Dritter. Aufgeregtes Getuschel in den Bankreihen. „Und wenn Frank so unschuldig ist“, ruft die 21-jährige Maimouna, „wieso steht dann im Internet, dass er antisemitische Reden schwingt und was mit der NPD zu tun hat und mit Horst Mahler?!“ Das Zelt ächzt. Pfiffige Smartphone-Besitzer suchen nach Belegen, und finden heraus, dass Maimouna da etwas verwechselt haben muss, aber das spielt schon keine Rolle mehr.

„Es la puta revolución“, brüllt der Spanier Pedro dem Angeklagten ins Gesicht. Ein Mädchen sagt: „Wenn Frank ein Rechter ist, müssen wir ihn dann nicht transformieren, statt ihn auszuschließen?“ Sein Gesicht ist inzwischen blass und teilnahmslos geworden. „Sorry“, sagt die Pädagogikstudentin Jule, „ich bin links, alle meine Freunde sind links, und rechte Meinungen können wir hier im Camp nicht akzeptieren.“ Beifall. Atti, der Punk, ruft: „Tschuldigung, mein Führer, ich muss mal kurz pissen.“ Der kräftige Peter wendet ein, nicht Frank sei der wahre Feind, sondern: „Die Federal Reserve Bank, die Bilderberg-Gruppe, die Rothschilds!“ Entlassen wird Frank trotzdem erst, als er sich öffentlich von den Dingen distanziert, die ihm bisher noch immer niemand nachweisen konnte: Antisemitismus, Rassismus, Faschismus, Rechtsextremismus und Islamophobie. Nachdenklich radelt er nach Hause.

In der Nacht kommt eine junge Frau im T-Shirt aus dem Zeltlager an die Feuertonnen, tränenüberströmt. „Hilfe, ich schrei hier seit ner Viertelstunde rum, hat mich denn keiner gehört?!“, weint sie. „Kurva!“, hört man ihren litauischen Freund betrunken aus dem Igluzelt fluchen. „Der schlägt mir wieder ins Gesicht!“, ruft sie. Verwundert geht Felix, der Student, auf sie zu. „Ich brauch keine verpennte Nase wie dich“, fährt sie ihn an, „ich brauch Hilfe von einem richtigen Ordner. Wo ist der Frank?“

Auf dem Pappschild vor ihrem Zelt steht: „Revolution für mehr Menschlichkeit“. 

Constantin Magnis ist Reporter bei Cicero und Herausgeber des Buches ­„Generation Credo“

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