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(picture alliance) Die Schulden-Uhr: Zeichen des Optimismus?

Die Schuldenbremse ist nutzlos - Verschuldet euch!

Nur Sparen ist Unsinn. Höhere Staatsdefizite würden nicht nur Deutschland nützen, sondern auch den ärmeren Euroländern im Mittelmeerraum – ein Plädoyer

Im Jahre 1714 veröffentlichte der britische Arzt Bernard de Mandeville seinen Essay „Fable of the Bees or Private Vices, Public Benefits“. Darin lobt er die Verschwendungssucht der Könige und hohen Herrn. Denn deren lasterhaftes Leben habe Arbeit für die Handwerker und armen Leute geschaffen. Es habe sich somit zugunsten der allgemeinen Wohlfahrt ausgewirkt – eine Beobachtung, die später von Adam Smith als das Prinzip der „unsichtbaren Hand“ ausformuliert wurde: Auch der Kaufmann, der nichts anderes verfolgt, als einen möglichst hohen Gewinn zu erzielen, maximiert das gemeine Wohl.

Wie viel ärmer wäre Dresden heute, hätte es nicht August den Starken und seine Mätressen gegeben! Wie viel geringer wären die Touristenströme Bayerns, hätte nicht Ludwig der Zweite ohne Rücksicht auf die Staatskasse seine Schlösser gebaut! Und was wäre aus den Bachs, den Mozarts, aus Haydn oder Beethoven geworden, wenn nicht die Fürsten, Bischöfe und Reichen der Zeit sich den Luxus ganzer Orchester und Chöre geleistet hätten – und dies selbst dann, wenn sie dafür massiv Kredite aufnehmen mussten.

[video:Meyers Monolog: „Wowereit ist ein Machtpolitiker“]

In den vergangenen sechs Jahren haben die einbehaltenen Gewinne der deutschen Unternehmen ausgereicht, die eigenen Investitionen und das deutsche Staatsdefizit zu finanzieren. Vermittelt über die Banken sind in dieser Zeit die Ersparnisse der privaten Haushalte Deutschlands vollständig ins Ausland abgeflossen. Denn sie haben ganz wesentlich dazu beigetragen, dass die hohen Importe der mediterranen Länder auf dem Kreditwege finanziert werden konnten. Diese haben über ihre Verhältnisse gelebt: Denn sie haben wesentlich mehr Waren und Dienstleistungen verbraucht als produziert. Umgekehrt lebte Deutschland „unter seinen Verhältnissen“, weil es wesentlich mehr produziert als verbraucht und investiert hat.

Im Weltmaßstab gibt es einen ähnlichen Kontrast zwischen den USA und China. Die USA lebten über ihre Verhältnisse, weil sie sehr viel mehr importiert als exportiert haben, China hingegen aus umgekehrtem Grund – ähnlich wie Deutschland – unter seinen Verhältnissen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum beide Wege positive und negative Folgen haben können.

Sparsam und fleißig zu sein, ist gewiss eine Tugend für den Einzelnen, über seine Verhältnisse zu leben und hohe Schulden zu machen, gewiss ein Laster. Aber es ist gefährlich, diese Tugendlehre auf ganze Staaten zu übertragen.

Weil die USA „über ihre Verhältnisse lebten“, waren sie mit ihren hohen Importüberschüssen eine der kräftigsten „Jobmaschinen“ für die Dritte Welt, insbesondere für Lateinamerika, aber auch für Asien. Wenn China sich etwas mehr heimischen Konsum, etwas mehr Luxus gönnte, könnte es ebenfalls eine Jobmaschine werden. Chinas Exportüberschüsse sind aber genau der Reflex der chinesischen Tugenden von Fleiß und Sparsamkeit.

Weltweit bemühen sich die Regierungen und Notenbanken darum, die eigene Währung nicht zu stark werden zu lassen. Sie sind angesichts des Mangels an Arbeitsplätzen daran interessiert, die Exporte zu erleichtern und die Importe zu erschweren. Die USA versuchen den Dollar dadurch unter Druck zu setzen, dass ihre Notenbank ihre Banken zu einem Nullzins mit Liquidität versorgt und lang laufende Staatsanleihen kauft.

Die deutsche Industrie ist froh, dass wegen der Staatsschuldenkrise der Euro schwächelt. Das verbessert ihre Exportmöglichkeiten. China verhindert eine Aufwertung des Renminbi durch enorm hohe Ankäufe von amerikanischen Staatsanleihen. Japan gibt sich große Mühe, eine weitere Aufwertung des Yen zu verhindern, um die heimische Konjunktur nicht abzuwürgen. Die Schweiz mit ihren gesunden Staatsfinanzen und der hohen Spartätigkeit der eigenen Bevölkerung leidet unter dem Höhenflug des Schweizer Franken, den sie deshalb an den Euro angekoppelt hat.

Wegen massiver Überschuldung privater und einiger staatlicher Haushalte ist das internationale Finanzsystem in die Krise geraten. Das Platzen der „Kreditblase“ in den Jahren 2007 und 2008 offenbarte nur das Dilemma: Kredite waren vielfach nicht mehr voll werthaltig, weil die Schuldner die Grenze ihrer Zahlungsfähigkeit überschritten hatten. Die Politik reagierte mit der Devise: „Mehr Sparen! Zurück zu den altväterlichen Tugenden der Zukunftsvorsorge durch Fleiß und einfaches Leben.“ Deutschland fordert alle Staaten des Euroraums auf, es ihm nachzumachen und eine Schuldenbremse in die Verfassung aufzunehmen. Die Republikaner und die Tea Party verhindern in den USA, dass der Staat mehr Schulden macht, um die Konjunktur anzukurbeln und die hohe Arbeitslosigkeit zu vermindern. In Großbritannien werden die staatlichen Leistungen massiv gekürzt, um so die Staatsverschuldung zu reduzieren.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, worauf Schuldenreduzierung und Währungsschwächung abzielen.

Das Zurückfahren der Staatsschulden reduziert die Gesamtnachfrage, während die Schwächung der eigenen Währung die Gesamtnachfrage stärkt. Was man will, ist die Sanierung der eigenen Staatsfinanzen auf Kosten anderer. Im Weltmaßstab sind die Exporte des einen Landes die Importe eines anderen. Die weltweite Summe der Leistungsbilanzsalden ist immer null. Die Abwertung der einen Währung ist die Aufwertung der anderen Währungen. Im weltweiten Maßstab kann der durch verminderte Staatsschulden verursachte Nachfrageausfall nicht durch vermehrte Leistungsbilanzüberschüsse kompensiert werden. Also setzt man auf steigende private Investitionen, die die geringere Staatsnachfrage kompensieren sollen.

Das allerdings setzt vermehrten privaten Konsum voraus. Den eigenen Bürgern raten die Politiker aber das Gegenteil: Sie sollen nicht konsumieren, sondern für das Alter sparen. Die Chinesen sollen einspringen: Ihnen rät man, eine gesetzliche Altersrentenversicherung nach dem Vorbild der westlichen Länder ins Werk zu setzen. Dann, so das Kalkül, wird die Sparquote der privaten Haushalte Chinas von ihrem gegenwärtigen hohen Wert von 45 Prozent herunterkommen und der Konsum (europäischer Waren?) steigen. Die Chinesen, darauf läuft das Rezept hinaus, sollen sich also massiv verschulden, damit wir unsere Schulden drücken können.

Es gab in Deutschland einmal einen Philosophen namens Immanuel Kant. Auf ihn geht das ethische Prinzip zurück, das wir als kategorischen Imperativ kennen: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ Dem widerspricht die gegenwärtige Politik.

Private Investitionen können auch dadurch stimuliert werden, dass die Marktzinsen sinken. Das gilt insbesondere für den Wohnungsbau. Die Immobilienblase in den USA und in den mediterranen Ländern war Folge der niedrigen Dollar- und Euro-Zinsen. Heute nun können weder die Euro-, noch die Dollar-, noch die Yen- und auch nicht die Franken-Zinsen weiter sinken. Denn sie liegen praktisch schon bei null. Die Zeit, in der Staatsverschuldung zinstreibend war und damit ein „Crowding-out“ privater Investitionen bewirkte, ist vorbei.

Es sei denn, man schürte die Inflationsangst der Bürger! Diese ist heute schon erheblich. Dem wackligen Euro entspricht das hohe Misstrauen in seine Wertbeständigkeit. Viele private Immobilieninvestitionen sind in Deutschland und überhaupt im Euroraum durch diese Inflationsangst motiviert. Flucht in die Sachwerte! Glaubte die Bevölkerung dem Dauerregen politischer Verlautbarungen über den stabilen Euro, so wären die Bauinvestitionen im Euroraum erheblich geringer als sie es tatsächlich sind.

Während der Chef der Deutschen Bank verkündet, dass die Banken genügend kapitalisiert sind (was nur gilt, wenn es keine massive Eurokrise gibt), überredet der Kreditsachbearbeiter der Bank den Kunden, die Immobilie mit Kredit zu kaufen, weil diese doch ein Inflationsschutz sei. Die Konjunktur und damit die Staatsfinanzen profitieren gegenwärtig von dem Misstrauen in die Stabilität der Währungen. Aber was für Investitionen sind das? Es sind Angstinvestitionen, deren volkswirtschaftliche Produktivität gering ist. Denn sie „lohnen“ sich nur, weil der Investor die Hoffnung auf eine gute Realrendite aufgegeben hat.

Lesen Sie auf der nächsten Seite vom Gedankenfehler der gegenwärtigen Politik.

Die gegenwärtige Politik ist beherrscht von einem Gedankenfehler: je weniger Staatsverschuldung, desto besser. Das ist falsch, weil vergessen wird, dass Staatsschulden sich nur verändern können, wenn sich auch andere Größen ändern. Hat der Staat weniger Schulden, so haben seine Gläubiger auch weniger Forderungen an den Staat. Der Schuldenstand des deutschen Fiskus beläuft sich auf ungefähr das Vier- bis Fünffache des jährlichen Bruttosozialprodukts.

Die expliziten Staatsschulden sind nur die Spitze des Eisbergs. Viel größer sind die impliziten Staatsschulden in der Form von Rentenzusagen im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung, in der Form von anderen künftigen sozialstaatlichen Ansprüchen der Bürger an den Staat, in der Form von staatlichen Bürgschaften etwa im Rahmen der Eurorettungsaktionen.

Was wäre, wenn all diesen staatlichen Verpflichtungen staatliches Finanzvermögen in gleicher Höhe gegenüberstünde, wenn also insofern der Staat nicht verschuldet wäre? Wer wären dann die Schuldner dieses riesigen hypothetischen Finanzvermögens? Die private Wirtschaft im Inland? Sicher nicht. Denn bei einem seit längerer Zeit niedrigen Zinsniveau hat sie ihren Verschuldungsbedarf voll decken können. Das Ausland? Welches Ausland?

Wenn wir im Sinne des kategorischen Imperativs das Gedankenexperiment verallgemeinern und auf alle reichen Länder sowie China ausdehnen, dann sucht auch deren Fiskus jeweils verzweifelt nach Anlagemöglichkeiten für das hypothetische staatliche Finanzvermögen, das bei Schuldenstand von null den Gegenposten für die staatlichen Verpflichtungen in Höhe eines Mehrfachen des jährlichen Sozialprodukts ausmacht. Die Schuldner dieses gigantischen hypothetischen staatlichen Finanzvermögens müssten also in der Dritten Welt (ohne China und andere Schwellenländer) beheimatet sein. Somit also Schuldenabbau in der reichen durch Schuldenaufbau in der Dritten Welt?

Die historische Erfahrung lehrt, dass es nicht Kapitalmangel ist, der das Wohlstandswachstum von armen Ländern behindert. Es ist die Unfähigkeit, weltmarktreife Industrieprodukte konkurrenzfähig herzustellen. Dort, wo man sich diese Fähigkeit erwirbt, wie vor Jahrzehnten zum Beispiel in Südkorea, in Malaysia, partiell auch in Brasilien oder Mexiko, wie danach in China, ist Kapital schnell zur Stelle, um das Potenzial zu nutzen. Chinas wirtschaftliches Wachstum basiert auf seinem Erfolg auf dem Weltmarkt. Die chinesische Industrie hat gelernt, dass es beim Verkauf von Waren nicht so sehr auf gute Beziehungen und Bestechung von Einkäufern, sondern auf gute Qualität, pünktliche Lieferung, günstige Preise ankommt. Das Erlernen dieser Tugenden hat wesentlich dazu beigetragen, dass nun auch auf den Inlandsmärkten verstärkt das Leistungsprinzip gilt, welches die Volkswirtschaft voranbringt.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie die Erhöhung der Verschuldung der dritten Welt ihr diese Möglichkeiten nehmen würde.

Der Weltmarkt funktioniert auch als Lehrmeister der Modernisierung. Aber seine Lektionen wären für die Dritte Welt wertlos, wenn diese aufgrund der massiven Erhöhung ihrer Verschuldung gegenüber den reichen Ländern nur geringe Chancen hätte, die Märkte der reichen Länder mit Waren und Dienstleistungen zu erschließen. Wer sich aber die Märkte der reichen Länder erschließt und damit einen dynamischen Wachstumsprozess in Gang setzt, der fängt an, in großem Stil zu sparen, um für Alter und Krankheit vorzusorgen. Sobald man sich im erfolgreichen Aufholprozess befindet, wird man der Tendenz nach zum Kapitalexporteur, nicht zum Kapitalimporteur.

Somit besteht in der Dritten Welt kein Verschuldungsbedarf, der auch nur entfernt an die hypothetischen staatlichen Vermögensbestände der reichen Länder heranreichen würde. Mehr noch: Eine massive Verschuldung der Dritten Welt wäre die eigentliche Katastrophe und würde sie auf Dauer an die Armut fesseln.

Es geht somit nicht ohne hohe Staatsverschuldung in den reichen Ländern. Die private Wirtschaft dieser Länder kann nicht so viel Realkapital gebrauchen, dass dem Vorsorgewunsch und dem Vererbungswunsch der Menschen durch Verschuldung der privaten Wirtschaft voll entsprochen werden könnte. Der moderne Sozialstaat und die private Vorsorge für das Alter und die Kinder generieren derart hohe individuelle Ansprüche an zukünftige Auszahlungen, dass diese nicht allein von der produzierenden Privatwirtschaft versprochen werden können. Der Staat muss durch seine Verschuldung die Lücke zwischen den gewünschten künftigen Zahlungsansprüchen der Bürger und der Kapitalbindung in der privaten Wirtschaft schließen. Tut er das nicht, dann ist Vorsorge für die Bürger und durch die Bürger im gewünschten Ausmaß nicht mehr möglich.

Die mediterranen Euroländer können das Vertrauen der Kapitalmärkte nur zurückgewinnen, wenn sie ihre Leistungsbilanzdefizite abbauen, am besten in Exportüberschüsse verwandeln. Dies wäre das Signal, dass sie nicht über ihre Verhältnisse leben. Dann muss aber jemand anderes seine Leistungsbilanzüberschüsse abbauen. Da auch die USA ihr Leistungsbilanzdefizit vermindern wollen, da China zur Stimulierung der chinesischen Beschäftigung seine Leistungsbilanz bis auf Weiteres stark positiv halten will, wird es dem Euroraum als Ganzem schwerfallen, seine Leistungsbilanz zu verbessern. Also können die Südländer des Euroraums ihre Leistungsbilanz nur verbessern, wenn die Nordländer des Euroraums ihre Leistungsbilanzüberschüsse gleichzeitig vermindern.

Aber ein Land wie Deutschland ist bei der gegenwärtigen Politik des Abbaus der Staatsverschuldung auf den hohen Leistungsbilanzüberschuss angewiesen, wenn es seinen gegenwärtig hohen Beschäftigungsstand aufrechterhalten will. Die heimischen privaten Investitionen können die hohe Spartätigkeit der Deutschen nicht absorbieren, selbst dann nicht, wenn es die beobachtete Flucht in die Sachwerte gibt.

Es gibt damit nur drei Wege. Erstens: Entweder die Eurorettung scheitert, weil die Südländer ihre Leistungsbilanzdefizite nicht abbauen. Oder zweitens: Die Leistungsbilanz Deutschlands reduziert sich drastisch, indem man in eine Absatz- und damit Beschäftigungskrise hineinrutscht, da die Südländer sehr viel weniger deutsche Waren importieren. Wir können dies das Szenario der aus den Südländern „importierten Depression“ nennen.

Oder drittens: Deutschland stimuliert die heimische Nachfrage durch Senkung der Steuern und Erhöhung der Staatsausgaben und baut damit den Exportüberschuss durch Wachstumsstimulation ab, die dann den Südstaaten des Euroraums erlaubt, ihre Importüberschüsse abzubauen, ohne ganz Europa in eine Depression zu führen. Dies wäre das Szenario der „exportierten Prosperität“. Das „Laster“ der deutschen Staatsverschuldung erlaubte dann den schwächeren Euroländern, dem „Tugendpfad“ der fiskalischen Konsolidierung zu folgen.

Carl Christian von Weizsäcker gehört zu Deutschlands führenden Wettbewerbstheoretikern. Er lebt und arbeitet in Bonn

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