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Es geht auch anders!

Deutschland ist Abgabenweltmeister: Nirgendwo sind Steuern und Sozialabgaben für den Bürger so hoch. Die Schweizer kommen mit einem Bruchteil aus. Warum eigentlich? Die Antwort darauf ist ein Aufruf zur leisen Revolution – aus dem Herzen der Schweiz.

Da stehe ich und kann nicht anders. Das Bergsträßchen, an dessen Auffahrt ich feststecke, ist bergwärts nur zu geraden Stunden befahrbar, talwärts zu ungeraden. So ist das in einem reichen Steuerparadies. Ich bin unterwegs zum Herzen der Schweiz, die Älgglialp, 1645 Meter hoch über dem Vierwaldstättersee in der sogenannten Urschweiz. Hier, auf den Zentimeter genau eingemessen, ist der geografische Mittelpunkt jenes Rätsels, das ich auftragsgemäß ergründen will: die reiche Schweiz und ihre tiefen Steuern. Unter der spitzen Triangulationshaube aus Aluminium weist eine Tafel darauf hin, dass hier jedes Jahr der „Schweizer des Jahres“ geehrt wird: Vor zwei Jahren traf es, nein: nicht Josef Ackermann, sondern den Schwingerkönig Abderhalden. Schwingen ist eine Art Bauernringen in sackleinenen Hosen auf Sägemehlhaufen und gilt als beliebter Nationalsport. Doch, doch, auch wenn’s überrascht: Wir sitzen hier exakt im Zentrum eines der reichsten Länder der Welt. Nebenan auf der Sonnenterrasse des Gasthofs Älggli ist Gelegenheit zum Sinnen darüber, wie das alles gekommen ist: von den Älpli und Alpen zum weltgrößten Vermögensverwalter (über vier Billionen Franken). Vier der 21 weltgrößten Konzerne haben ihren Sitz in der Schweiz (Glencore, Nestlé, Novartis, Roche); die Uno, der Weltfußballverband, das Rote Kreuz, das Olympische Komitee fühlen sich in der Schweiz wohl. Zugegeben: viele vor allem aus steuerlichen Gründen. Zunächst ein wenig Landeskunde. Die ist unvermeidlich bei diesem Thema. Älggli liegt im winzigen Kanton Obwalden, einem von 26 Gliedstaaten des Landes, 35000 Einwohner, mit 13,1 Prozent Europas steuergünstigster Standort für Unternehmen. Obwalden ist wie jeder andere Kanton ein kompletter Staat mit Regierung, Parlament, Gerichten, Verfassung.Vor allem: mit eigenen Steuergesetzen. Die Steuerhoheit unterscheidet Schweizer Kantone wesentlich von deutschen Bundesländern. Dabei misst die Schweiz nur gerade 60 Prozent der Fläche Bayerns. Dieser an sich mörderische Wettbewerb zwischen 26 unterschiedlichen Steuergesetzen auf engstem Raum schafft einen verblüffenden Effekt. Er bewirkt letztlich, dass die Schweizer nur halb so viel an Steuern und Abgaben zahlen wie ihre deutschen Nachbarn (siehe Tabelle), wo von Husum bis Lörrach die gleichen Bedingungen gelten; Ausnahme: die Gewerbesteuer. In der Schweiz hat neben den Kantonen auch noch jede der 2626 Gemeinden ihren eigenen Steuersatz. Die Unterschiede von Gemeinde zu Gemeinde können für den Steuerzahler bis zu 100 Prozent und mehr in seiner Steuerrechnung ausmachen. Dieses wirre, aber effiziente Steuergeflecht der Eidgenossen ist nicht das Ergebnis politischer Klugheit, sondern Folge eines über Jahrhunderte andauernden Prozesses. Die abgeschiedenen, schwer erreichbaren Bergtäler kannten schon vor 700 Jahren eine weitgehende Selbstverwaltung – die sie nie mehr hergaben. Die Kantone und Gemeinden waren von daher immer stark, der übergeordnete Bund immer schwach. Das zeigt sich bei den Finanzen deutlich. Die Schweizer Bundesregierung gibt im Jahr 60 Milliarden Franken aus, Kantone und Gemeinden mehr als doppelt so viel: 140 Milliarden. Es gilt das Subsidiaritätsprinzip: An öffentlichen Aufgaben wird nach oben nur weitergereicht, was unten nicht mehr bewältigt werden kann. Das ist ein eisern eingehaltenes Gesetz und ein wesentliches Element des Schweizer Erfolgsmodells. Das eigentliche Geheimnis der politischen und wirtschaftlichen Stabilität ist völlig unspektakulär: die Autonomie der Gemeinden. Sie bedeutet vor allem: Steuerautonomie. Die Gemeinden sind das stabilste Element im Staatsgefüge. Dort funktioniert die Demokratie noch weitgehend im ursprünglichen Sinn, was auf Bundesebene durchaus infrage gestellt werden kann: Oben geben große Wirtschaftsverbände und Unternehmen den Kammerton vor. Unten jedoch findet eine effiziente Kontrolle der öffentlichen Finanzen unmittelbar durch die Bürger statt: der Hauptgrund für das insgesamt niedrige Steuerniveau bei zugleich hoher öffentlicher Leistung. Die Höhe des Satzes der Einkommenssteuer (Steuerfuß genannt) wird in den Gemeinden gleichfalls von den Bürgern bestimmt. Wer den Steuerfuß in der Hand hält, hat die Verfügungsgewalt. Ohne solche Lenkungsinstrumente an der Basis würde das System kollabieren. Die direkte Demokratie steht daher in engem Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen Erfolg. Jedes größere Gesetzes- und Investitionsvorhaben, jede Straßenverbreiterung, der Bau der Müllverbrennungsanlage, des Fußballstadions, der Etat des Opernhauses, der Ausbau von Universitäten muss „vors Volk“. Da wird öffentlich hin und her gerechnet – und meistens als zu teuer befunden, sodass die Verwaltung regelmäßig Abstriche machen muss. Das diszipliniert ungemein, verhindert aber nicht zwangsläufig überzeugende Projekte. In Basel stimmten die Bürger vor Jahren einem hohen Millionenkredit zum Erwerb herausragender Picasso-Gemälde zu. Die Zürcher lehnten hingegen den Bau einer U-Bahn als zu teuer ab. Die Stadtverwaltung musste ihre ganze Planung auf den Müll schmeißen. Dafür erhielt Zürich ein vorbildliches oberirdisches öffentliches Verkehrsnetz. Die Stadt sparte Milliarden, mit dem Effekt, dass die große Mehrheit mit der Lösung heute rundum zufrieden ist. Bei allen Vorteilen kann der Schweizer Steuerföderalismus auch zu absurden Verhältnissen führen. Beispiel: Würde ich eine Million Franken im Jahr verdienen, leider ein hypothetischer Fall, müsste ich meinen Wohnsitz von St.Gallen nur drei Kilometer weiter weg an den Stadtrand, in eine Nachbargemeinde verlegen. Ich würde statt 22,46 nur 15,54 Prozent an Steuern zahlen (ohne Bundessteuer), machte im Jahr eine Ersparnis von cash 62200 Franken oder einen neuen 7er BMW alle zwei Jahre. Es geht noch absurder. Die billigste Gemeinde für Millionäre liegt am Zürichsee: das Villendorf Wollerau. Die teuerste Gemeinde, Vicques an der französischen Juragrenze, verlangt vom Einkommensmillionär 214000 Franken mehr an Steuern als die Wollerauer. Vicques ist im Vergleich arm und kann sich keinen niedrigen Steuerfuß leisten. Solche unsichtbaren Spannungen muss aushalten, wer sich für das „Schweizer Modell“ interessiert. Drei Prozent der Einwohner besitzen so viel Vermögen wie die restlichen 97 Prozent zusammen. Das sind Verhältnisse wie in Entwicklungsländern, allerdings auf hohem Niveau. Ein Finanzausgleich zwischen reichen und armen Kantonen und Gemeinden, ähnlich dem deutschen, mildert allzu krasses Wohlstandsgefälle. Auf der Älgglialp darf man solche lästigen Details mal beiseiteschieben. Hier oben, über dem Nebel, fällt der Blick aufs große Ganze leichter. Nach dem Zweiten Weltkrieg, 1950, starteten Deutschland und die Schweiz mit etwa der gleich niedrigen Steuerlast ihrer Bürger. Heute liegt der Unterschied in der Belastung (Steuern und Abgaben) pro Kopf bei fast 100 Prozent. Der Vergleich ist natürlich unfair. Deutschland musste sich aus der selbst verschuldeten Katastrophe völlig neu aufbauen, und als es oben war, kam die billiardenschwere Bürde der deutsche Einheit oben drauf. All das blieb der Schweiz erspart. Vielmehr hat der kleine Nachbar an diesen historischen Vorgängen beim großen Nachbarn sehr, sehr gut verdient. Es sind die profitabelsten Phasen in der Wirtschaftsgeschichte der Schweiz, ein wesentlicher Pfeiler ihres heutigen Wohlstands. Als Resümee meines Alpenausflugs erlaube ich mir aber dennoch drei ungefragte Empfehlungen an den Nachbarn: Erstens: Finanz- und Steuerhoheit für die Bundesländer, Städte und Gemeinden. Zweitens: Festschreibung des Subsidiaritätsprinzips im Grundgesetz. Drittens: Einführung beziehungsweise Ausbau der direkten Bürgerentscheide in kommunalen Belangen: alle budgetrelevanten Gesetze und Investitionsvorhaben von einer festzulegenden Grenze an „vors Volk“. Eine Vorstufe könnte das Referendum sein: Wenn eine Anzahl Bürger es verlangt, muss eine Vorlage vors Volk, aber nur kommunal, in begrenztem Rahmen, auf Länderebene. Das ist, in drei verwegenen Punkten, der Aufruf zu einer leisen Revolution, einer machbaren und friedlichen. Und außerdem mit absoluter Erfolgsgarantie. Die Ausgaben werden sinken – und damit automatisch Steuern und Abgaben. Die Bürger übernehmen Verantwortung in dem Bereich, den sie überschauen und der sie daher auch am meisten interessiert. Das ewige Gemosere über angeblich unfähige Politiker und Beamte wird rasch leiser werden: Man hat es ja dann an der Basis selbst in der Hand. Die Politikverdrossenheit nimmt ab, der Wohlstand zu. Bundes- und Länderregierungen haben noch genügend Zugriffs- und Lenkungsmöglichkeiten. Die Politik müsste allerdings ein Stück Macht abgeben. Das ist dabei unvermeidlich. Aber das wusste schon Heinrich Friedrich Karl von und zum Stein, ein unleidlicher, aber höchst erfolgreicher Radikalinski unter den deutschen Verwaltungsreformern. Zentrales Element seiner Reformen war die Städteordnung von 1808. Sie gab den preußischen Städten erstmals weitgehende Selbstverwaltung: das Fundament eines selbstbewussten, aufstrebenden Bürgertums und der Beginn, ja die Voraussetzung zu einem rasanten wirtschaftlichen Aufstieg. Nach Hartz IV ist Stein II fällig. Foto: Picture Alliance

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