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() Der eigentlich bedächtige Kretschmann redet sich auf dem Parteitag der Südwest-Grünen in Rage
Winfried Kretschmann: Ernsthaft grün

Winfried Kretschmann ist Spitzenkandidat der Grünen in Baden-Württemberg. Der Konflikt um Stuttgart 21 beschert seiner Partei derzeit einen sensationellen Höhenflug in den Umfragen. Womöglich vertreibt er im nächsten Jahr Stefan Mappus aus dem Amt.

Wer Winfried Kretschmann zum Interview trifft, braucht eigentlich kein Aufnahmegerät. Denn der gebürtige Schwabe doziert derart langsam und bedächtig vor sich hin, dass man jeden seiner Sätze problemlos mitschreiben kann – ganz so, als müsse er vor ortsfremden Journalisten das Klischee über seine Landsleute bedienen, die zwar als geistig rege gelten, rhetorisch aber eher mit angezogener Handbremse unterwegs sind. Kretschmann entspricht damit außerdem voll und ganz dem Gegenentwurf zu seinem politischen Widersacher Stefan Mappus. Der baden-württembergische Ministerpräsident, aus Pforzheim stammend, ist ein typischer Angriffsspieler, dessen natürliche Grundaggressivität sich schon in seiner terrierhaft-gedrungenen Gestalt zu spiegeln scheint. Winfried Kretschmann dagegen, Jahrgang 1948 und Stefan Mappus damit um fast zwei Lebensjahrzehnte überlegen, ist ein groß gewachsener, hagerer Herr, den man sich eher als Gemeindepfarrer oder Gymnasialdirektor vorstellen kann denn als Hausherrn in der Stuttgarter Villa Reitzenstein, wo die Ministerpräsidenten des Ländles ihren Amtssitz haben. Manche, die Kretschmann nur aus dem Fernsehen kennen, finden ihn langweilig und eine Spur zu tugendhaft. In einem konservativ grundierten Bundesland wie Baden-Württemberg muss das kein Nachteil sein, im Gegenteil. Anfang der Achtziger war Winfried Kretschmann schon einmal Fraktionsvorsitzender der Grünen im Landtag, seit dem Jahr 2002 ist er es wieder; sein Vorgänger Dieter Salomon verabschiedete sich damals als frisch gewählter Oberbürgermeister in Richtung Freiburg. Jetzt sieht es so aus, als könne dem studierten Biologie-, Chemie- und Ethiklehrer etwas gelingen, das man vor kurzem noch für unmöglich gehalten hätte: die bald 60 Jahre währende Regentschaft der CDU in Baden-Württemberg zu beenden – und als erster Ministerpräsident von Bündnis 90/Die Grünen auch bundesdeutsche Geschichte zu schreiben. Der Fraktionsvorsitzende in einem anderen Landesparlament sagt über Kretschmann, den sie bei den Grünen immer nur „Kretsch“ nennen: „Wenn ich mir einen von uns als Ministerpräsidenten vorstellen kann, dann ihn.“ In der Tat entspricht der 62-Jährige geradezu dem Idealbild des wertkonservativen, heimatverbundenen Grünen, dem man trotz einer kurzen Mitgliedschaft beim „Kommunistischen Bund Westdeutschland“ Anfang der siebziger Jahre nur schwerlich eine Vergangenheit als steinewerfender Radikalinski wird andichten können. Da ist es schon fast ironisch zu nennen, dass ausgerechnet der aufgeheizte Konflikt um den Stuttgarter Hauptbahnhof zum aktuellen demoskopischen Höhenflug seiner Partei entscheidende Punkte beiträgt: Die Grünen liegen in Baden-Württemberg derzeit bei rund 32 Prozent – und damit nur knapp hinter der CDU; die SPD hat sich mit ihren geschätzten 19 Prozent bereits als Juniorpartner angeboten. Nur Winfried Kretschmann selbst ziert sich noch etwas, wenn man ihn auf die in greifbarer Nähe scheinende Ministerpräsidentschaft anspricht: „Das treibt mich gerade gar nicht um. Die Probleme wegen Stuttgart 21 sind so groß, dass ich mir jetzt um Postenfragen nicht den Kopf zerbrechen will.“ Man muss schon nachhaken, um ihm zum möglichen Spitzenamt folgenden Satz zu entlocken: „Wenn uns die Wähler diese Rolle zuweisen, werden wir sie annehmen – und ich selbstverständlich auch.“ Winfried Kretschmann und seine Anhänger sind ausgewiesene Gegner des gigantischen Bahnhofprojekts in der Landeshauptstadt. Zum wahrscheinlich hunderttausendsten Mal zählt der Oberrealo sämtliche Argumente auf, die seiner Ansicht nach gegen das Bauvorhaben sprechen – von den ausufernden Kosten über die Preisgabe des denkmalgeschützten Bahnhofsgebäudes bis zu einer möglichen Gefährdung der Stuttgarter Mineralquellen durch die Untertunnelungsarbeiten. Aber eigentlich geht es ihm um viel mehr: um die Ignoranz der Mächtigen in Politik und Wirtschaft („Großkopferte“ nennt er sie) gegenüber einer angeblich nach Maß und Mitte sich sehnenden Bürgerschaft – für die zumindest jemand wie Kretschmann mit seiner ostentativen Betulichkeit ein Paradebeispiel abgibt. „Stuttgart 21 wird dieses Land verändern“, sagt er, „dieser Stil der Auseinandersetzung mit einer kritischen Zivilgesellschaft wird nicht folgenlos bleiben.“ Ob und wie es den Grünen in Regierungsverantwortung gelingen könnte, das Bauvorhaben („ein Projekt der Dienstwagenfraktion“) noch zu stoppen, steht auf einem anderen Blatt. Die Vokabel „alternativlos“ lässt Kretschmann in diesem Zusammenhang jedenfalls nicht gelten; im demokratischen Willensbildungsprozess gebe es immer eine Alternative. Verträge hin oder her. Winfried Kretschmann, Vater von drei erwachsenen Kindern, wandert am liebsten mit seiner Frau durch die Schwäbische Alb. Die Bezeichnung „wertkonservativ“ stört ihn keineswegs; Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken ist der Sohn eines liberal gesinnten Lehrers mit CDU-Parteibuch ebenfalls. Nachdem er in seiner Jugend wegen „schlechter Erfahrungen“ in einem Ordensinternat aus der Kirche ausgetreten war, kehrte er schon bald in ihre Reihen zurück. „Ich habe meinen Glauben nie verloren, der Glaube ist etwas, das mich befreit“, sagt er. Kretschmann wäre nicht der Typ Landesvater, für den der Kirchenbesuch lediglich zur Folklore gehört. Er meint es ernst, und zwar mit allem. Ob das auch ausreicht, um Wahlen zu gewinnen, wird sich im März zeigen.

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